Читать книгу The Racing Flower Pilgrim - Philipp Döhrer - Страница 10

29.08.2019 06:15 Uhr

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Titel dieser Nacht: „Karin hält die Welt in Atem“.

Beziehungsweise die Herberge Haizea. Vielleicht auch nur mich. Ich habe Oropax im Ohr, aber ihre Lautstärke beim Schnarchen in dem Bett direkt neben mir ist schon eine Nummer für sich. Gestern Abend tönte sie, dass sie immer ganz, ganz früh loslaufen will. Noch im Licht der Sterne. Nun ist sie die einzige Person im Raum, die überhaupt noch liegt. Alex, Inga und ich trödeln während des morgendlichen Frischmachens etwas vor uns hin. So sehr, dass in der Zwischenzeit Hanne, Maria und selbst Karin bereits aufbrechen. Plötzlich war sie ganz schnell auf den Beinen. Wir sind ganz entspannt. Im Stockdunkeln loslaufen brauche ich nicht unbedingt.

Nach der Morgenzigarette vor der Herberge machen wir drei Genossen uns gegen 07:05 Uhr dann auch mal ganz langsam auf den Weg in die baskische Morgenfrische Espinals. Um einiges früher als gestern. Mal sehen, was das für einen Unterschied macht. Alles im Ort ist noch still und verschlafen. Selbst die Blumen an den weißen Häuserfronten lassen ihre Köpfe hängen. Hinter Espinal folgt ein sanfter Anstieg im Frühnebel. Schafe und Kühe blöken und muhen uns zu. Auf Baskisch. Verstehen wir leider nicht.

Nach einem finsteren Wald begegne ich auf einer erhöhten Ebene einem finnischen Pärchen. Vom Sehen kenne ich sie schon seit gestern, sie waren auch in unserer Unterkunft im Nachbarzimmer. Sie ist typisch finnisch blass und blond. Er sieht aus wie Ed Sheeran. Ohne Scheiß. Zum Verwechseln ähnlich. Sie stehen beide unter einem riesigen Baum auf der Ebene. Ed kramt eine gewaltige Kamera hervor und versucht, die Nebelschwaden am gegenüberliegenden Hügel zu fotografieren. Leider versäume ich es, ihn zu fragen, wie viel dieses Monstergerät wiegt. Dem Aussehen nach mindestens halb so viel wie mein komplett gepackter Rucksack. Wer’s braucht.

Während die Sonne langsam, aber sicher durch den Nebel bricht, folgen wir dem Camino weiter. Inga, Alex und ich bleiben ganz nah beieinander. Nett ist der Weg zu uns nicht. Es geht hügelig hoch und runter. Das ist nicht schlimm. Aber über unglaublich hartes Pflaster. Anscheinend brandneu gelegt. Das ist schlimm. Es staucht Knie und Oberschenkel extrem zusammen. Wer kam nur auf diese beknackte Idee? Laut Inga war hier früher nur ein schöner, weicher Wald- und Wiesenweg. Warum konnte man das nicht einfach so lassen? War wohl kommunales Geld übrig und musste verpulvert werden.

Aufatmen nach diesem stauchenden Stück Weg können wir erst am Ortseingang von Viscarret. Auf dem Dorfplatz werden wir freudig von Hanne, Maria und Karin begrüßt, die hier in der Bar Juan an ihrem Frühstück arbeiten. Guter Plan, da machen wir mit. Bei der Wirtin, einer niedlichen, alten Baskin, hole ich mir einen Stempel und einen Café con leche ab. Schon ziemlich geil, jede noch so kleine Bar macht einen sensationellen Kaffee mit immer frisch erwärmter und aufgeschäumter Milch. Später hole ich mir davon noch einen zweiten, als Karin mit Maria bereits weiterzieht. Eine tolle Kaffeepause in der noch jungen Morgensonne.

Bei einem kurzen Olivenkaufstopp im örtlichen Mini-Supermarkt treffen wir Ed Sheeran wieder und halten ein kurzes Pläuschchen. Ein kurzes Ständchen im Austausch für ein paar frisch erstandene Oliven lehnt er allerdings ab. Schade. Dann geht es weiter. Wald und Straße wechseln sich ab. Die Sonne nicht. Sie steigert sich nur. Immer weiter. Heute will sie es richtig wissen.

In Lintzoain, einem winzigen Dorf, geht es schlagartig bergauf. Und wie. Aus dem Nichts. Mein Berg-Fetisch packt mich und ich bin im Tunnel. Hinter mir höre ich Hanne noch sagen: „Ah, jetzt kommt wieder das Philipp-Tempo“ und weg bin ich. Der Anstieg hat es echt in sich. Ein steiler Hohlweg voller Geröll. Ich staune selbst, wie schnell ich ihn bewältige. Sacknass geschwitzt, aber sonst topfit. Oben angekommen schnaufe ich ein wenig durch und hole kurz danach Karin wieder ein, die unglaublich gemütlich vor sich hinschlendert. Wenigstens schnarcht sie nicht mehr. Es wirkt fast als meditiere sie die ganze Zeit auf dem Camino. Das ist kein Tempo für mich. Ich ziehe wieder ein bisschen an. Unterwegs bleibe ich sehr oft stehen, denn ich könnte ständig Fotos machen. Meist versuche ich das direkt während des Laufens, aber manchmal funktioniert das nicht. Der Weg führt mich durch einen wunderschönen Wald, die Sonne bricht durch die Bäume. Meiner pflanzlich-biologischen Unkenntnis sei verziehen, aber ich vermute, es sind Pinien und Lärchen. Es riecht jedenfalls herrlich nach Nadelholz. Als säße man in einer Badewanne, prall gefüllt mit hölzernem Schaumbad. Meinen Fotostopps sei Dank, haben mich meine anderen Mitpilger recht zügig wieder eingeholt und fröhlich gelaunt laufen wir weiter. Der Schatten lässt nach, der Wald lichtet sich. Ich brauche mein Kopftuch.

An einem Imbisswagen füllen wir die dringend benötigten Wasservorräte auf. An diesem Stand steht auch die berühmte Kiste, in die man traditionell ein Stück Unterwäsche legt. All das nur in der Hoffnung, dass man auf dem Camino seine große Liebe findet. Bräuche gibt’s. Ich bin momentan nicht auf der Suche nach etwas in dieser Richtung. Mir reicht das Wasser.

Ein kleines Stückchen weiter freue ich mich über den erneuten Wald, aber dann folgt der Hammer des Tages. Ein Lehrpfad. Ein Lehrpfad für Geologie und gestauchte Knochen. Die Lektionen hier heißen: Erleben Sie Plattentektonik in ihrer reinsten Form. Und: Knieschmerzen für Anfänger. Meine Fresse, jetzt geht es richtig los. Ein neuer Hohlweg. Mehr Geröll. Extrem steil und schmal bergab. Man kann es nicht wirklich als Weg bezeichnen. Es ist eher eine Mutprobe. Ich kannte diesen Abstieg hinunter in den Ort Zubiri schon aus Opas Erzählungen, aber jegliche Beschreibung trifft es nicht mal ansatzweise in vollem Ausmaß. Kann doch gar nicht so schlimm sein, wie es erzählt wird. Pustekuchen. Tiefe Felsspalten ziehen sich von allen Seiten unter den Füßen entlang. Mal quer, mal längs. Ein falscher Schritt im falschen Winkel auf den falschen Felsen und der Camino ist beendet. Der Abstieg des Grauens. Echt filmreif. Horror-filmreif.

Inga hat heute wahrscheinlich eine Bergziege gefrühstückt. So wie ich die Berge hochflitze, sprintet sie diesen extremen Weg nach unten. Keine Ahnung, wie sie das macht. Kaum hat der Abstieg richtig begonnen, ist Inga um die nächste Biegung verschwunden. Auch Hanne ist recht zügig unterwegs. Die Mädels reiben uns heute ein kräftiges Ätsch unter die Nase. Alex und ich gehen diese Herausforderung eher artistisch an. Jeder Schritt wird sorgfältig platziert, während wir dabei mit den Armen jonglieren und balancieren. Nur unterbrochen von einem gelegentlichen: „Scheiße, meine Knie.“

Völlig zerschlissen erreichen wir endlich den Ortseingang von Zubiri, der Abstieg ist geschafft. So sehr habe ich meine Knie im Leben noch nie gespürt. Grüßt euch ihr Zwei. Scheiben noch drin? An der Bogenbrücke, die in den Ort führt, sitzt Inga seelenruhig und beinebaumelnd da und grinst, als wäre nichts gewesen. Morgen esse ich auch eine Bergziege.

Wir finden eine schöne Bar mit schattigem Außenbereich und rasten, was das Zeug hält. Sogar Karin stößt wieder zu uns. Diese lange Pause haben wir uns mehr als verdient. Wir beschließen, auch heute wieder zusammen im selben Etappenort, Larrasoaña, zu übernachten. Maria aus München ist schon davongezogen, sie läuft sowieso nur bis nach Pamplona. Aber unser gutes Verständnis untereinander wollen wir, so lange es geht, gemeinsam auskosten. Also nun noch zu fünft. Inga und Alex besorgen Zigaretten und holen Geld, Karin und ich füllen am Brunnen für alle die Wasserflaschen auf und weiter geht’s.

Nach Zubiri folgt ein Hexenkessel. In der unheimlich brutzelnden Mittagssonne geht es in eine Senke hinein, in der sich die Hitze unseres Zentralgestirns mit der Hitze des Industriekomplexes nebenan verbindet. Was dort produziert wird, sieht aus wie Kalk. Ich vermute aber, die produzieren da eben einfach nur Hitze. Blanke Hitze. Ich fühle mich wie ein gekochtes Huhn. Ein nicht sehr leckeres gekochtes Huhn. Ein widerlich salzig verschwitztes, gekochtes Huhn.

Völlig durchnässt erreichen wir eine kleine Kapelle zwischen Illaratz und Eskirotz. Nein, das sind keine Beleidigungen, sondern Dörfer. Baskische Namen sind halt einfach immer zur Belustigung geeignet.

Ich freue mich wie ein gerade aus dem Kochtopf entkommendes Huhn. Ich kenne diese Kapelle aus einer Dokumentation über den Jakobsweg. Ein Südafrikaner namens Neil, der auf seinem Camino vor fast zehn Jahren diesen Ort fand und für immer hierher zurückkehrte, hält das Gebäude in Schuss und richtet es langsam wieder her. Wir finden ein schattiges Plätzchen im Eingangsbereich. Leider ist die Tür geschlossen und niemand ist zu sehen. Ein Stempel der Kapelle liegt zur Selbstbedienung bereit. Schade. Ich hätte Neil gerne getroffen. Wenigstens eine kleine Schattenpause zur Rehydrierung des Körpers. Plötzlich öffnet sich am Garten neben der Kapelle ein Tor. Ein Mann und ein kleines Mädchen kommen heraus. Ja, das ist er. Ich erkenne ihn sofort wieder. Ich rufe ihm zu: „NEEIIIIL.“ Völlig überrascht kommt er zu uns. Ich erzähle ihm, dass ich ihn aus dem deutschen Fernsehen kenne und dass ich weiß, er ist Neil aus Südafrika. Richtig erfreut und grinsend kommt er zu uns und begrüßt uns einzeln mit Handschlag und möchte unsere Namen wissen. Seine kleine Tochter hat einen Einkaufszettel in der Hand, da sie gerade zum Baumarkt nach Pamplona aufbrechen wollten, um ein kleines Stück Kapelle in eine bessere Zukunft zu bringen. Dennoch nimmt sich Neil die Zeit, um uns viele Informationen über seine Arbeit und dieses besondere Gebäude zu erzählen. Wunderschön, informativ und leidenschaftlich. Man spürt, dass Neils ganzes Herz an diesem Ort hängt. Wir sind beeindruckt von seinem Tatendrang, seiner Schaffenskraft, seinem Glauben und Willen, diesen Ort nur durch geringe Spendengelder wieder zum Leben zu erwecken. Lange reden wir mit ihm, bevor seine Tochter ihn daran erinnert, dass sie ja eigentlich noch zu besagtem Baumarkt wollten. Wir bedanken uns, spenden großzügig und Neil verabschiedet uns mit den besten Wünschen auf unseren weiteren Weg. Ein tolles Erlebnis nach diesem anstrengenden Tag.

Nach zwei Kilometern entlang des Rio Arga erreichen wir hitzegeplagt den Eingang des Dorfes Larrasoaña. Unser Ziel für heute. Der Camino weist nach links, der Ort liegt rechts. Als wir abbiegen, kommt uns plötzlich der finnische Ed Sheeran aus dem Dorf heraus entgegen. Allerdings ohne seine hübsche, blonde Freundin, sondern stattdessen mit einem rundlichen, bärtigen Mann an seiner Seite. Auf die Frage, warum er in der Hitze noch weiterläuft und nicht hier im Ort bleibt, sagt er nur: „Alle Bars haben zu.“ Und weg ist er. Mit dem Bärtigen. Dass in Spanien um diese Tageszeit oftmals Siesta herrscht und warum er seine hübsche Freundin gegen einen behaarten, dicken Mann eingetauscht hat, scheint er selbst nicht zu wissen. Der Camino erschafft Mysterien.

Nach einem kleinen Stück durch den Ort kommen wir an der Herberge St. Nicolas an. Diese haben wir uns grob vorgemerkt, dank einer App auf Alex‘ Handy. Muss ich mir auch mal zu Gemüte führen, scheint nützlich zu sein. Fünf Betten sind frei. Wuppi Fluppi. Ein Sechs-Bett-Zimmer haben wir sogar nur für uns. Mal schauen, ob das für uns überflüssige Bett noch belegt wird. Aus Freude über den geglückten Tag bemerkt Alex nicht, dass das Dosenbier am Verkaufsautomaten alkoholfrei ist. Mit großem Genuss trinken wir es trotzdem und schauen einem spielenden Hund im Hof der Herberge zu. Die Tochter der Wirtin findet das nicht so toll, denn der Hund gehört gar nicht der Familie. Er kam vor wenigen Tagen mit einer Pilgerin hier an und seitdem werden sie ihn nicht mehr los. Das ist ein großes Problem am Camino. Viele herrenlose Hunde sind hier unterwegs. Manche davon schließen sich vorbeiziehenden Pilgern an und bleiben bei ihnen. Oder bleiben eben einfach da, wo es ihnen gefällt. Ich habe mittlerweile viele Schilder gesehen. Immer mit der Aufschrift: Lieber Pilger, bitte achte darauf, dass dir keine streunenden Hunde folgen. Ganz vermeiden lässt es sich allerdings leider nicht.

Nach dem Körper- und Wäscheprogramm gehen wir nebenan einkaufen. Heute wollen wir kein Pilgermenü. Definitiv nicht. Der kleine Supermarkt mit integrierter Bar hat alles, was wir wollen und brauchen. Wir decken uns mit Chorizo, Schinken, Oliven, Tomaten, Käse, Brot und Bier ein. Natürlich trinken wir vor Ort auch erstmal ein Bierchen und den Wein, den mir der Wirt schenkte, nachdem ich ihm 20 Cent Trinkgeld gegeben hatte. Ich fühle mich wie Krösus. Ein toller Pilgertag nimmt langsam ein noch tolleres Ende.

Zurück in der Herberge wird mir klar, wie wichtig ein von Opa empfohlenes Utensil ist: Meine Wäscheklammern. Gut, dass ich sie habe. Man kann zwar überall Wäsche aufhängen, Ständer oder andere Möglichkeiten sind immer vorhanden, aber selbst bei dem leichtesten Wind bringt das ohne Wäscheklammern alles überhaupt nichts. Demzufolge ist der ganze Hof übersät mit einem bunten Potpourri aus umherfliegenden Wäscheteilen. Meine Wäsche flattert dagegen einsam, aber majestätisch im Wind. Das ist sehr, sehr schön.

Zufrieden sitzen wir im Hof der Herberge und verspeisen unsere spanischen Köstlichkeiten. Ohne Karin, die sich entschied, am Pilgermenü teilzunehmen. Nebenan am Tisch sitzen Claudia und Steffi, auch zwei Damen, die mit uns am ersten Abend im Refuge Orisson übernachteten. Bei ihnen sitzt Diederik aus Dänemark. Er scheint Schwierigkeiten zu haben, sich für eine der beiden Damen zu entscheiden. Der Blick sagt eindeutig: Mmhh, ist die hübscher? Oder doch die? Aber er scheint ein sehr lustiger Typ zu sein.

Eigentlich wollen wir heute früh ins Bett, aber daraus wird nichts. Die Stimmung ist einfach zu gut. Da ich heute nicht nur mein Hemd, sondern mein komplettes Johnny-Depp-Fear-and-Loathing-Feierabend-Outfit trage, inklusive Hose, Mütze und Nachtfahrbrille kommt Däne Diederik irgendwann zu uns an den Tisch und fragt mich, warum ich ein Hip-Hop-Outfit anhabe.

Hä?

Warum ich denn nicht mal ein paar tighte rhymes droppe?

Hä?

„Falsche Assoziation Diederik“, sage ich, schweige und Alex spielt auf seinem Handy ganz lässig „Magic Moments“ von Perry Como ab.

Heute habe ich 23 Kilometer hinter mir und Inga sagte: „Schön, dass wir dich getroffen haben!“

The Racing Flower Pilgrim

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