Читать книгу The Racing Flower Pilgrim - Philipp Döhrer - Страница 15

03.09.2019 06:00 Uhr

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Als Letzter ins Bett, als Erster wach. Mein Körper spielt völlig verrückt. Das für meine Verhältnisse frühe Schlafengehen bringt mich auch dementsprechend früh aus den Federn. Beziehungsweise aus den Gummibezügen der meisten Caminobetten. Fühlt sich lustig an, darin zu schlafen. Hauptsache die Bettwanzen hält es fern. Macht nichts, so bin ich wenigstens vollkommen ungestört bei der Morgentoilette. Selbst danach ist, außer den zwei putzigen Italienerinnen im Raum, noch keiner wach. Da ich nicht stören will, schnappe ich meine halb gepackten Sachen und gehe runter auf den Platz vor der Herberge. Ich hole mir erstmal einen Kaffee. Der einzige andere wache Gast ist der nervöse Ire. Auch er sitzt bereits draußen, raucht wie immer, zittert wie immer und blubbert mich mit irgendwas voll. Wenn ich nicht schon wüsste, dass das Englisch ist, würde ich auf eine Indianersprache tippen. Gesprochen von extrem besoffenen Indianern. Er heißt übrigens Dermot. Spielt keine Rolle. Für mich bleibt er der nervöse Ire.

Der Rest der Band findet sich gähnend langsam bei mir ein, während schon der zweite Kaffee meine Camino-Lebensgeister weckt. Egal wie schnell oder langsam wir einzelnen Wanderer tagsüber sind, wir versuchen zumindest immer gemeinsam aufzubrechen. Betonung auf versuchen. Los geht’s. Oben am Ortsausgang von Torres del Río steht noch immer das Zelt von Robert und Michelle. Nichts bewegt sich, die beiden werden wohl noch wohlig schlummern. Sollen sie.

Durch dorniges Gestrüpp geht es hinein in die ersten Weinberge des Tages. Die Region Rioja, mit dem angeblich besten Rotwein Spaniens und sogar der ganzen Welt, streckt ihre rebenbewachsenen Fühler schon nach uns aus. Bis auf Hanne, die heute sehr mit ihrer Sehne am rechten Fuß zu kämpfen hat, laufen wir dicht zusammen. Aber auch Alex und Inga schlagen sich mit Muskelkater oder anderen Zipperlein herum. Ich bin mir noch nicht ganz schlüssig, ob ich heute Schmerzen habe. Tja, ich habe ja gesagt, dass die letzten acht Kilometer gestern nicht nötig gewesen wären. Aber man lernt es eben manchmal nur auf die harte Tour.

Kurz laufe ich mit Jakob, dem dauerlaufenden Holländer. Der Mann ist echt fit. Seit Mitte Juni unterwegs und extrem gut in Form. Und der Jüngste ist er nicht mehr. Außerdem ist er einer der Wenigen, der einen noch kleineren Rucksack hat als ich. Nochmals meine größte Hochachtung für diesen willensstarken, fußgeplagten, aber immer fröhlichen Mann.

Auf der nächsten Anhöhe, auf der uns auch Hanne wieder einholt, sehen wir hinter den Weinbergen das erste Mal die Großstadt Logroño in der Ebene vor uns liegen. Weit vor uns liegen. Sehr weit vor uns liegen. Erneut ein Blick für die Ewigkeit. Ich hoffe nur, die Entfernung täuscht. Da wir schon gestern Abend Logroño als Ziel für den heutigen Tag ins Auge fassten, hoffe ich außerdem, dass die Zivilisation der Großstadt uns nicht so sehr ohrfeigt, wie dies in Pamplona der Fall war.

Durch die nächsten Weinberge geht es immer wieder mal hoch und mal runter. Es ist ein toller Weg. Meine Gefährten sind toll, das Wetter ist toll und meine Füße mögen mich heute sehr. So scheint es zumindest bisher. Die Blasen sind zwar noch nicht komplett verheilt, aber es scheint so ähnlich zu sein wie mit der Familie Targaryen in „Game of Thrones“: Jeden Morgen werfen die Caminogötter eine Münze. Je nachdem auf welche Seite sie fällt, fallen meine Füße entweder dem Wahnsinn anheim oder beflügeln mich. Befüßeln mich. Heute werde ich bisher sehr schön befüßelt.

Mitten im Nirgendwo, umgeben von Weintrauben und Morgentau, steht ein kleiner Imbisswagen. Wie beim Bananenmann in den Pyrenäen. Die Ortsansässigen wissen eben, an welchen Punkten des Weges man Geld machen kann. Hier lassen wir uns nieder. Da Strom Mangelware zu sein scheint, erhoffe ich mir von meiner Frage nach Kaffee nicht besonders viel. Eigentlich sogar nichts. Ohne mir eine Antwort zu geben, verschwindet der Wagenbetreiber um die Ecke. Vielleicht ist es in dieser Region möglich, frischen Kaffee aus Weintrauben zu zapfen. Man weiß ja nie, wie bestimmte Dinge in anderen Ländern so gehandhabt werden. Weit gefehlt. Ein lautes Dröhnen setzt ein. Der freundliche, stille Herr schmeißt einen großen Notstromgenerator an, der im Kofferraum seines geparkten Autos steht. Natürlich. Hat man halt hier. Dann zündet er seine kleine Kaffeemaschine und los geht's. Man muss eben einfach fragen.

Während wir unseren Notstromkaffee schlürfen, kommt einmal mehr Däne Diederik an uns vorbei. Wie immer freut er sich uns zu sehen und erzählt von den neuesten Entwicklungen auf seinem Dating-Profil. Eine kleine Macke hat er ja schon. Aber eine schöne. Einen neuen Wanderpartner hat er auch gefunden. Es ist ein brasilianischer Maler. Er malt allerdings unterwegs nicht. Er will nur den Weg in sich aufsaugen und vielleicht später wiederkommen, um am Camino zu malen. Cooler, aber sonderbarer Typ. Dieses surreale Gespann zieht weiter, eine Pause wollen sie hier nicht machen. Mich beschleicht das Gefühl, dass der Brasilianer der Einzige war, der auf mein Bild auf Diederiks Dating-Seite reagiert hat. Gruselig.

Auch für uns geht es bald wieder weiter. Weiter durch die Weinberge und zur Abwechslung ein viel zu langes Stück auf Asphalt direkt an der Straße entlang. Kurz unterhalte ich mich mit einer US-Amerikanerin aus Kalifornien. Sie steckt sich gerade eine Wildblume ins Haar und bekommt von mir ein Kompliment dafür. Als sie mich genauer mustert, freut sie sich sehr über die Blumen an meinem Rucksack. Ein schöner Moment. Warum allerdings bisher jeder dachte, dass ich jeden Tag frische Blumen pflücke, um sie mir an den Rucksack zu packen, bleibt mir schleierhaft. Als ob ich jeden Tag an einem Gewächshaus für exotische Blumen vorbeikäme. Ich glaube, dass eine biologische Form dieser Kunstblumen in der Natur sowieso nicht vorkommt. Aber wer weiß. Die beblümte Amerikanerin fragt mich, ob ich den ganzen Weg gehe. Ich bejahe und sage, dass ich bis nach Finisterre gehe. Sie hat nicht die leiseste Ahnung, was das ist. Das ist eine amerikanische Eigenart, die ich bisher schon öfters feststellte. Sehr viele von ihnen gehen den Weg, weil sie den Film „The Way“ gesehen haben. Und darin kommt Finisterre eben nicht vor. Ich erkläre ihr kurz, dass es im wahrsten Sinne des Wortes das Ende der Welt ist. Zumindest der mittelalterlichen Welt. Sie scheint sehr interessiert und ihr Gesicht drückt aus: Klingt gut, das mach ich vielleicht auch. Die paar Tage mehr... „I don' t give a fuck!“, sagt sie. Das ist noch ein schöner Moment. Ach, diese niedlichen Unwissenden.

Vor uns taucht das Städtchen Viana auf. Inga hat mich kurz zuvor überholt. Hat wohl heute wieder ein schnelles Tier gefrühstückt. Wir freuen uns über die schattige Abwechslung und stürzen uns in die kleinen Gassen der Stadt. Direkt vor der Kirche finden wir, wieder zu viert vereint, einen schönen Platz für unsere Pause. Es ist immer wieder erstaunlich. Auch wenn Viana ein etwas größeres Städtchen ist, jeder noch so kleine Ort, jedes noch so minimale Dorf hat eine gewaltige Kirche. Auch wenn Rom der Ursprung des katholischen Christentums ist, erst das Spanien des Mittelalters hat es richtig groß herausgebracht. Und seine Sakralbauten bezeugen dies bis heute. Die Pause hier wird großzügig ausgedehnt. Wären die bisherigen Kilometer heute nicht so wenige, dann würde ich hierbleiben. Viana ist wirklich traumhaft schön.

Nach der gelungenen Rast steigen wir aus der Stadt hinab und gehen wieder hinein in weite Weinfelder und staubige Straßen. Der Camino zieht sich weit, weit, wein durch die Weitfelder. Hä? Denken ist gerade schwer. Die Sonne knallt uns mal wieder ein zünftiges Loch in den Pelz. Logroño rückt näher. Aber nur sehr, sehr langsam. Die letzten Kilometer ziehen sich nur über Asphaltstraßen in der Hitze des Tages. Insgesamt betrachtet ist die heutige Strecke nicht sehr lang, aber wir sind alle ziemlich kaputt. Der gestrige Gewaltmarsch zeigt jetzt endgültig Wirkung bei jedem von uns. Die Glieder brennen.

Wir passieren die Grenze zur Weinregion Rioja und sind endlich in den ersten Ausläufern ihrer Hauptstadt Logroño. Überglücklich schauen wir von oben auf die ausufernde Metropole. Von weitem erkenne ich schon einen besonderen Ort. Bekannt durch Opa und auch durch andere Berichte über den Camino. Unter einem Feigenbaum finden wir einen schattigen Platz. Hier geben zwei ortsansässige Damen einen besonderen Stempel in die Pilgerpässe. Feigen, Wasser und Liebe steht im Motiv. Diese Besonderheit lassen wir uns nicht entgehen und besorgen uns nicht nur den Stempel, sondern auch sehr wohltuende, kalte Getränke. Wir scherzen ein wenig mit den Damen, deren erfrischende Herzlichkeit uns herrlich benetzt. Die ursprüngliche Besitzerin des Hauses und des Stempels verstarb 2003. Eine lokale und nationale Heldin. Seit ihrem Tod machen ihre Tochter und Enkelin weiter, um die Tradition aufrechtzuerhalten. Die Tradition und die Erinnerung. Wichtige Bestandteile des Camino.

Ich bin hier und jetzt einfach nur glücklich. Dieser Tag besteht aus Lahmheit des Körpers, aber auch kleinen, schönen Momenten. Alex ersteht bei den Feigendamen einen kleinen Flaschenkürbis, den er sich an den Stock bindet. Über diese Kleinigkeit freuen wir uns alle so sehr, als hätten wir schon den Camino in seiner Gänze geschafft. Wir sind völlig fertig, aber das heitert uns auf. Langsam nimmt die Gehhilfe Gestalt an. Mittelalterliche Pilger werden immer mit dieser Art Stock dargestellt. Der Flaschenkürbis zum Auffüllen des so wichtigen Trinkwassers und die unvermeidliche Jakobsmuschel. Beides an den Stock gebunden. Die Samen im Kürbis rasseln beim Laufen. Schön. Gehhilfe und Instrument.

Wir kämpfen uns nun die letzten Meter über harten Asphalt hinein in die Stadt. Ein Fußgängerüberweg weckt in mir wieder den Gedanken an die Santiago Road. Das Bild lässt mich einfach nicht los. Irgendwann kriegen wir es hin. Hier herrscht zu viel Verkehr, um ein Foto machen zu können. Also erstmal weiter hinein in die Stadt. Auf dem harten Pflaster Logroños rutscht plötzlich der Stock aus Alex‘ Hand. Der folgende Aufprall auf dem Boden tut sein Übriges und zerstört den kurz zuvor erstandenen Flaschenkürbis. Mist. Er hängt zwar noch, aber nur am wollenen Faden. Mist. Wird später geflickt.

Im Moment ist erstmal nur Ankommen wichtig. Wir suchen und finden recht schnell die Herberge Logroño. In Logroño. Verrückter Scheiß. Interessanter Laden. Mitten in der Stadt, direkt in der Haupt-Fußgängerzone. Erst im zweiten Stock finden wir die Anmeldung. Die Treppe hinauf ist ein absolutes Abenteuer. Spiralförmig geht es nach oben, das umlaufende Geländer ist marode und gibt bald der Schwerkraft nach, also Abstützen verboten. Die Treppenstufen sind gebogen und gewellt und die Kanten fallen beim Drauftreten fast ab. Wenigstens verläuft das Einchecken reibungs- und absturzlos. Hier gibt es mehrere Optionen. Sogar Einzel- und Doppelzimmer stehen zur Verfügung. Alex und Inga gönnen sich heute ein wenig Zweisamkeit in einem eigenen Zimmer. Hanne und ich gehen in einen der Schlafsäle. Diese Herberge ist trotz der Todesgefahr im Treppenhaus eine sehr gute Entscheidung. Frische Bettwäsche, ein richtiges Handtuch, Seife und Shampoo und eine riesige Dusche. Sogar ein Vorleger, für den glorreichen Moment des Duschaustritts, liegt bereit. Alles Normalität. In der Heimat. Aber auf dem Camino ist all das Luxus. Man braucht es nicht. Ich freue mich darüber, aber es muss nicht sein.

Nach der Körperpflege gehen wir hinaus in die Stadt. Es ist unglaublich angenehm. Sei es, weil Pamplona seit jeher ein Touristenmagnet ist, sei es, weil dort gerade Wochenende war, aber Logroño ist einfach anders. Es ist zwar viel los, aber eben… anders. Auf der Suche nach einem Supermarkt schlendern wir durch die Straßen und Gassen. Die einzigen Läden, die wir geöffnet vorfinden, sind Geschäfte für Süßigkeiten. Warum auch immer. Keine Option für das heutige Abendessen. Außer vielleicht für Hanne, das kleine Süßkram-Fressmonster. Aus Frust über die fehlende Einkaufsmöglichkeit und einfach nur um Zeit totzuschlagen setzen wir uns in eine Bar direkt vor der Kathedrale. Leck mich Logroño. Dann eben erst Bier.

Trinkend beobachten wir den Platz und die Kathedrale, die leider durch ein Baugerüst von der Öffentlichkeit abgetrennt ist. Aus der Ferne vom anderen Ende des Kathedralenplatzes winkt uns überraschend eine bekannte Gestalt zu. Es ist Mr. Florida, unser David. An meinem Feierabendhemd hat er mich schon aus großer Entfernung erkannt. Ob das gut oder schlecht ist, bleibt vorerst offen. Quasselnd wie immer, erzählt er uns von seiner Runde durch die Stadt. Er hat schon alles erkundet. Alles, was zumindest für ihn wichtig ist. Er redet und redet und redet. David fand eine Bar mit zwölf verschiedenen Fassbiersorten, Kelly und Heidi gehen ihm tierisch auf den Zeiger und schon ist er wieder weg. Nettes Gespräch.

Wir sitzen noch ein Weilchen auf dem Platz und warten ab. Alex sackt etwas in sich zusammen und zieht sich vorläufig zurück, er ist müde. Oder auch traurig, dass sein Flaschenkürbis so kurz nach Kauf schon angeknackst ist. Armer Wikinger.

Hanne, Inga und ich gehen endlich einkaufen. Sobald wir Selbstversorgung machen, ist die Auswahl immer gleich oder mindestens ähnlich: Lecker Oliven, Käse, Schinken, meine geliebten Salzfischchen... Njamnjam. Könnte ich jeden Tag essen.

Zur großen Überraschung erfahren wir, dass Robert und Michelle auch in unserer Unterkunft angekommen sind. Heute haben sie keine Lust auf Zelten und wollen sich außerdem mal ausgiebig duschen und waschen. Mehr als verständlich. Beide ziehen zu Hanne und mir in den Schlafsaal. Robert schnappt sich das Bett über mir und wir vereinbaren einen Termin für nächtliche Kuschelstunden. Was auf dem Camino passiert, bleibt auch auf dem Camino. Scherz beiseite. Michelle darf natürlich mitmachen. Wenn sie will.

Im Aufenthaltsraum mit Küche breiten wir gegen Abend unsere Einkäufe aus und lassen es uns gut gehen. Ich betätige mich als Käse-Verteiler, denn das Stück ist viel zu groß für mich allein. Wir teilen sowieso alles miteinander. Das Essen macht natürlich satt, aber auch müde. Aber jetzt schon ins Bett? In einer Großstadt? Was für eine miese Idee. Mit Walther aus Baden-Württemberg, der auch in unserem Zimmer untergebracht ist, gehen wir nochmals raus ins Gewusel. Der Begriff trifft es. Es ist einfach immer wieder herrlich, wie viel abends in spanischen Städten los ist. Wenn die Hitze des Tages vorbei ist, beginnt das Leben auf den Straßen. Wie auf dem kleinen Platz gestern Abend in Torres del Río. Multipliziert mit Tausend. Vor der Kathedrale finden wir gerade so noch einen freien Platz. Heute Nachmittag war es fast leer und jetzt platzt jedes Restaurant hier aus allen Nähten. Allerlei köstliche, vergorene Getränke finden den Weg in unsere Leiber. In vielen schönen Gesprächen trödelt auch dieser Abend vor sich hin. Irgendwann bemerken wir: Huch, war da nicht was? Ach ja, morgen früh aufstehen und laufen… Mist, stimmt!

Wir liefen heute 22 Kilometer und waren völlig fertig. Aber: Flaschenkürbis.

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