Читать книгу Netzball - Philipp Hell - Страница 22
#11 Der vierte Satz
ОглавлениеBei der seit einigen Jahren auch in Deutschland sehr beliebten Poker-Variante „Texas Hold‘em“ werden zusätzlich zu den zwei Karten, die vom Spieler in der Hand gehalten werden, nach und nach fünf Gemeinschaftskarten aufgedeckt, mit denen sich alle Spieler ein möglichst gutes Blatt zusammenstellen. Die vierte aufgedeckte Karte wird dabei im Englischen als „Turn“ bezeichnet – alle Spieler hoffen also noch einmal auf eine wie auch immer geartete Wende, eine neue Richtung des Spiels.
Genauso verhält es sich im Tischtennis mit dem vierten Satz. Allerdings gibt es im Vergleich zum Pokern eine deutlich übersichtlichere Anzahl an möglichen Situationen, die sich auch ohne Studium der höheren Mathematik in Ruhe analysieren lassen. Genauer gesagt gibt es nur zwei Möglichkeiten: Eine 2:1-Führung oder einen 1:2-Rückstand.
Bei einer 2:1-Führung will man natürlich um jeden Preis einen Entscheidungssatz verhindern und versucht daher alles, nun den vierten Durchgang und damit auch das gesamte Match für sich zu entscheiden. Vorbei ist alles eventuelle Taktieren der vorangegangenen Sätze und auch neue Schwächen des Gegners werden sich kaum mehr auftun. Nun heißt es „Call“, die Karten müssen auf den Tisch. Denn nichts fürchtet man so sehr, wie nach einer vergebenen – möglicherweise gar hohen – Führung noch in den Entscheidungssatz zu müssen, in dem einem traditionell die Nerven versagen. Vier Asse hat man eben nur sehr selten in der Hand.
Also wird das volle Repertoire ausgepackt: Gemeine Aufschläge (aus der Hand oder vom Bauch verdeckt, gerne auch beides gleichzeitig), zahllose Netzroller oder Kantenbälle (nach denen man seine Entschuldigung auf das absolute Mindestmaß, das der Anstandes gebietet, reduziert – wenn überhaupt), gnadenlose Chancenverwertung gegen Ballonabwehr, Debatten mit dem Schiri („Der war doch nicht seitlich, der war klar noch auf der Kante!“), die üblichen Mätzchen („Moment, muss erst noch meine Schuhe binden.“) und Psychotricks (Handtuch zur Stirn, dann Platte reinigen, nochmal Handtuch, dann ist da noch was im Auge). Man erhöht also ein letztes Mal deutlich den Einsatz, in der Hoffnung, dass der Gegner endlich ein Einsehen hat und daher aufgibt – folded, wie der Pokerspieler so cool sagt. Doch leider geschieht dies viel zu selten – normalerweise muss man sich eben doch spielerisch durchsetzen.
Ist das Unglück dann aber doch passiert und es geht in den letzten Durchgang, so muss zunächst erst noch ausführlich gehadert werden. Zwar wollte der herbeigeeilte Teamkollege eigentlich Mut zusprechen und darauf hinweisen, dass man doch bitte endlich aufhören solle, dem Gegner halbhoch in die starke Rückhand zu spielen. Doch man hat eben Redebedarf: Immer das Gleiche, wieder die Führung nicht nutzen können, der kann doch eigentlich gar nichts, der blufft doch nur, jetzt wird es wieder unnötig eng hier, fünfte Sätze sind laut Statistik wirklich nicht meine Stärke, eigentlich müsste ich mal aufs Klo. Klare Sache: Der eigene Chipstapel ist tatsächlich bedenklich zusammengeschmolzen. Muss man eventuell gleich aufstehen und heimgehen?
Oftmals liegen ja nur wenige Punkte zwischen vollkommen entgegengesetzten Stimmungen: Stellt sich bei 9:9 heraus, dass der Gegner bisher tatsächlich nur geblufft hatte (Return ins Netz, danach banaler Rückhand-Fehler ohne jeden Druck), gibt man den Kontrahenten locker-lässig die Hand und schlendert dann fröhlich zurück zu den Teamkollegen. Kurzes Abklatschen, High-Five. Gut, der verlorene dritte Satz hätte nicht sein müssen, Augenzwinkern, hinsetzen. Kurzer Blick aufs Handy: Der Gegner hatte ja auch 140 Punkte weniger als man selber, da war der Sieg ohnehin eingeplant. Ein gutes Pferd springt ja auch nur so hoch wie es muss, nicht wahr? Schön, dass man in dieser Runde seinen Chipstapel etwas vergrößern konnte. Souverän!
Bei einem 1:2-Rückstand wiederum ruht alle Hoffnung nur noch auf dem Erreichen des fünften Satzes, in dem man dann eventuell dank seiner psychischen Stärke das Match – trotz klarer spielerischer Unterlegenheit – doch noch gewinnen könnte, irgendwie. Folglich stellt man sich an die Platte und geht „All In“ – man zeigt auch in dieser Situation besser alles, was man hat. Vielleicht konnte man sich noch irgendwie durch die ersten drei Sätze mogeln, ohne wirklich 100% seines Könnens zu zeigen oder man wollte den neuen Aufschlag ein wenig unter Wettkampfbedingungen ausprobieren. Doch nun ist alles anders.
„Wer jetzt kein Full House hat, baut sich keines mehr“, wusste schon der passionierte Poker- und Tischtennis-Spieler Rainer Maria Rilke. Nun wird angegriffen, was der Belag hergibt, geschnippelt, geschnitten und geschupft (vorausgesetzt, man spielt nicht Anti). Und ab und zu darf gar die spektakuläre Rettungstat mittels Bauchplatscher auf den dreckigen Hallenboden nicht fehlen, mit der man den Gegner, welcher den Punkt bereits als gewonnen abgehakt hatte, auf dem völlig falschen Fuß erwischt. Trikot dreckig und doch gepunktet – da geht noch was!
Oftmals ist jedoch alle Mühe vergebens, die eigenen Karten sind einfach zu schlecht. Vielleicht war auch der Gegner zu stark oder das Netz zu schlapp gespannt, das Licht zu hell, die Platte zu kurz, die eigenen Karten zu schlecht. Wie dem auch sei, nach so einer Viersatzniederlage weiß man mal wieder, dass man beim Tischtennis eben alle Sätze hindurch die berühmten 110% geben muss, um zu Erfolg zu kommen. Wenn nicht gar 120%.
Ab und zu gelingt aber doch noch der Satzausgleich, Adrenalin pumpt durch die Adern und nach dem spektakulären und risikoreichen „All In“ darf man sich erstmal wieder setzen und durchschnaufen. Noch ist man dabei im Match, vielleicht jetzt sogar mit einem klitzekleinen psychologischen Vorteil im „Heads Up“, der entscheidenden Phase des Spiels. Wie war noch gleich die eigene Fünfsatzstatistik des vergangenen Jahres? Egal, ab jetzt ist eh nur noch alles psychisch. Und mental. Und halt Kopfsache, ne!?
Was jetzt folgt – der fünfte Satz, das große Finale – heißt im Poker-Englisch „River“, der Fluss der Hoffnung!