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#10 Der dritte Satz

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Was gibt es nicht alles an psychologischen Studien, wissenschaftlichen Untersuchungen, statistischen Auswertungen und dergleichen neumodischem Zeugs mehr zum Thema. Und alle kommen sie zu der wahnsinnig tiefsinnigen Erkenntnis: Der dritte Satz ist enorm wichtig! Psychologisch. Statistisch. Und vor allem, äh, Dings! – Ach nee, wirklich!?

Grob gesagt, gibt es zu Beginn des dritten Satzes in etwa drei mögliche Szenarien: Ein übler 0:2-Rückstand, eine souveräne 2:0-Führung oder ein ausgeglichenes 1:1. Eigentlich eine überschaubare Anzahl von Möglichkeiten, sogar für Tischtennis-psychologisch wenig vorgebildete Laien, Zelluloidspezialisten mit selbst diagnostizierter Dyskalkulie oder auch absoluten Ignoranten für Spielregeln und Zählweise. Gehen wir diese Situationen nun also in Ruhe durch.

Mit so einer 2:0-Führung im Rücken spielt es sich einfach recht locker Tischtennis, das sieht man leicht ein. Die Tipps der coachenden Mitspieler reichen während des Seitenwechsels vom zuversichtlichen „Passt.“ bis zum äußerst hilfreichen „Genau so weitermachen!“. Während sich der Gegner noch intensiv mit seinen Kollegen berät, steht man schon wieder zuversichtlich an der Platte und will umgehend weitermachen. Locker-lässig wieder ein paar Angriffsschläge durchziehen. Vielleicht mal den gestern im Training geübten neuen Aufschlag ausprobieren. Und so oder so das Match locker nach Hause schaukeln.

Doch was ist das? Zu locker? Plötzlich beginnt sich der Gegner zu wehren, hält sich endlich an den alten Zuschauerruf „Wir wollen Gegner, keine Opfer!“, führt 8:4 und – das ist am schlimmsten – trifft auf einmal seine Angriffsschläge. Nun heißt es natürlich Schalter umlegen – gar nicht so einfach, wenn man sich bereits Ende des zweiten Durchgangs ausgerechnet hat, dass der Sieg hier vermutlich sieben TTR-Punkte bringen würde und man damit endlich mal wieder an Klaus-Dieter in der Vereinsrangliste vorbeiziehen könnte. Eine brandgefährliche Situation!

Ist man als klarer Favorit am Start, so kann man nun oftmals dank seiner überragenden Technik und der großen Routine das Ruder nochmal herumreißen und das Match in drei Sätzen nach Hause bringen. Zugegebenermaßen hat eventuell auch die plötzliche Nervosität des Gegners eine Rolle gespielt, und die zwei Netzbälle habe sicherlich auch geholfen – aber insgesamt gesehen war man einfach der bessere Spieler und hat hier völlig verdient gewonnen. Ist man jedoch von seiner Führung bisher selber etwas überrascht gewesen, so beginnt nun das Gedankenkarussell im eigenen Kopf: Kann ich den heute wirklich schlagen? Bin ich so gut oder ist der so schlecht? Seit wann hab ich einen Lauf? Muss ich dann nächstes Jahr vielleicht sogar in die erste Mannschaft aufrücken!? Und seit wann spannt dieses Trikot eigentlich so an meinem Bauch??? Klare Sache, der Satz geht glatt verloren.

Kommen wir zur zweiten Situation, dem Zweisatzrückstand. Optimisten gehen den dritten Satz in diesem Fall in etwa so an: Man hat ja schon die unmöglichsten Rückstände in einen Sieg gedreht, nicht wahr, und verloren ist erst wenn der letzte Punkt gespielt ist – gemäß dem alten Olli Kahn-Mantra „Weiter, immer weiter!“ Der Gegner hat 300 TTR-Punkte mehr? Egal! Und wenn man schon verlieren muss, dann sähe ein anständiges 1:3 doch gleich viel freundlicher aus als eine glatte Dreisatz-Pleite, oder!? Also weiter Vollgas auch im dritten Durchgang! Das Match ist noch lange nicht aus, nein, eigentlich hat es ja gerade erst begonnen. Ja, der Optimist sieht immer das Positive und erst bei einem 3:9-Rückstand dämmert ihm langsam, dass es heute eventuell kein spektakuläres Comeback mehr geben wird.

Der Pessimist hingegen überlegt sich bei einem 0:2 fieberhaft, wie viele Punkte er im dritten Satz noch dringend machen muss, damit diese Partie es nicht in die fünf schlimmsten Pleiten seiner Tischtennis-Historie schafft – vermutlich reichen vier Zähler. Was soll man auch sonst tun? Schließlich ist der Gegner spielerisch ganz klar überlegen – auch wenn man diesen pickeligen 14-Jährigen letztes Jahr noch von der Platte gepustet hatte. Aber die jungen Wilden trainieren ja auch das ganze Jahr über statt für die Schule zu lernen, machen eine wahnsinnige körperliche und spielerische Entwicklung durch und hier und heute, mit dieser doch langsam etwas lädierten Hüfte, dem komischen Licht und den abwesenden Mitspielern – was soll man machen? Da gilt es, nicht bereits Mitte des Satzes den Eindruck zu erwecken, dass man das Spiel schon abgeschenkt hat. Andererseits: Was soll’s? Es sieht eh keiner zu, einen Oberschiedsrichter gibt es erst fünf Ligen höher und in der Kneipe wird bereits das Bier warm. Also schnell drei Bälle ebenso absichtlich wie unauffällig ins Netz gekloppt, dem vorlauten Knirps kurz die Hand geschüttelt ohne ihn auch nur eines Blickes zu würdigen und ab unter die Dusche!

Last but not least: Es steht 1:1, die Spannung in der Halle ist am Siedepunkt, das ist förmlich zu spüren. Gut, das könnte auch an der Anwesenheit der attraktiven Beachvolleyballerinnen im Wintertrainingslager und ihrer doch etwas knappen Sportbekleidung liegen. Aber wie dem auch sei, jeder Tischtennisspieler weiß in dieser Situation um die Wichtigkeit des dritten Satzes. Stichwort: Vorentscheidung.

Da gilt es folglich jeden Ball zu spielen, als wäre es ein Matchball. Keine wilden Bälle zu probieren. Nur die sicheren anzugreifen. Erst mal den Ball im Spiel zu halten. Auf die Aufschläge des Gegners besonders aufzupassen. Ihn dann auf seiner Vorhandseite zu halten. Und vor allem die Konzentration hoch zu halten. Und unbedingt alle weiteren Tipps aus den Tiefen der Tischtennis-Küchenpsychologie zu befolgen!

So beginnt man diesen Satz also mit besonders hoher Konzentration. Man ist so konzentriert, dass man seinen besten Aufschlag schon ausführt, während der Schiedsrichter aus der gegnerischen Mannschaft noch hilflos am Zählgerät herumfummelt und irgendetwas von „alter Mann“ und „D-Zug“ brummt. Also nochmal von vorne. Doch wo ist die Konzentration hin!? Der zweite Aufschlag ist bestenfalls ein Einwurf und der Gegner knallt einem das Ding direkt um die Ohren. Und anschließend trifft er auch noch einen Wunderschlag. Sehr schön, das sind jetzt genau diese zwei Punkte Rückstand, denen man jetzt den ganzen – so wichtigen! – dritten Satz lang wieder hinterherlaufen darf. Erfolglos, versteht sich. Da hilft es nur noch sich darauf zu besinnen, dass man ja eigentlich im vierten Satz viel stärker ist.

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