Читать книгу Es bleibt für immer ein Geheimnis - Philipp Porter - Страница 11

Kapitel 5

Оглавление

„Möchte wissen, weshalb der Obstein ausgerechnet uns für diesen absolut beschissenen Auftrag ausgesucht hat“, nörgelte Olaf Hofer, während er mit Manfred Schimmer aus dem Präsidium lief. „Wir haben genug zu tun und das Vorzeigepaar sind wir nun auch nicht gerade.“

„Ja, da hast du recht. Aber hast du dir mal die Passagierliste angesehen?“, fragte Schimmer und hielt Hofer eine Kopie der Liste unter die Nase.

Hofer nahm missmutig das Blatt entgegen und überflog es mit einem Blick. „Recht eindrucksvoll. Da war ja ein schöner Teil der Berliner Prominenz mit an Bord, oder irre ich mich da?“

„Nein, kein Irrtum. Die Namen konntest du in den letzten Wochen fast täglich im Berliner Journal lesen“, gab Schimmer zurück und nahm die Liste wieder an sich. „Ich denke, Obstein hat uns genommen, da er weiß, dass wir uns zu benehmen wissen“, scherzte er und klopfte Hofer auf die Schulter. „Ich schlage vor, wir gehen an die Arbeit und machen uns keine Gedanken darüber, weshalb der Obstein ausgerechnet uns ausgewählt hat, okay? Der Erste auf der Liste, Karl-Gustav Weidmann, wohnt hier ganz in der Nähe. Soweit ich weiß, war sein Sohn nicht verheiratet, und eine andere Adresse haben wir sowieso nicht. Und danach fahren wir raus zum Grunewald; dort wohnen die Restlichen.“

Hofer nickte und trottete Schimmer missmutig nach. Ihm war es eigentlich gleich, wo oder bei wem sie beginnen würden und wo wer wohnte. Er fand es einfach nur merkwürdig, dass Obstein ausgerechnet sie für diesen Auftrag ausgewählt hatte.

*

Nach kurzer Fahrt hielt Schimmer den Wagen vor einem schmiedeeisernen Tor an, mit dem wohl selbst ein LKW Schwierigkeiten bekommen hätte, würde man versuchen, es mit ihm zu durchbrechen. Das dahinter liegende Grundstück wurde durch die dicken Eisenstäbe regelrecht von der Außenwelt abgegrenzt, und mächtige Sandsteinpfeiler hielten das schwere Tor in den Angeln. Die mächtigen Pfeiler bildeten den Abschluss einer fast fünf Meter hohen Sandsteinmauer, die anscheinend das gesamte Anwesen umschloss.

„Nicht schlecht“, staunte Hofer, der das Grundstück der Familie Weidmann offensichtlich noch nicht gesehen hatte. Er begutachtete das weitläufige Gelände durch die dicken Metallstäbe des Tores hindurch und nickte anerkennend. Schimmer kurbelte währenddessen das Seitenfenster herunter und drückte den auf Hochglanz polierten Messingknopf der Sprechanlage.

„Ja, bitte?“, drang es kurz darauf aus einem Lautsprecher heraus.

Schimmer wusste, dass er in diesem Moment in einem kleinen Monitor oben im Haus zu sehen war. Eine kleine rote LED etwas oberhalb des winzigen Objektivs, das in die Sprecheinlage eingebaut war, leuchtete auf, und die Überwachungskamera war somit in Betrieb. Er zog seinen Dienstausweis aus der Innentasche seiner Jacke hervor und hielt ihn dicht vor das Objektiv.

„Guten Tag. Mein Name ist Schimmer. LKA Berlin. Ich würde gerne Herrn Weidmann sprechen“, rief er in das feine Gitter der Sprechanlage hinein und hoffte zugleich, dass sie nicht zu lange warten mussten. Zu solchen Persönlichkeiten wurde für gewöhnlich niemand vorgelassen, der nicht angemeldet war. Doch in ihrem Fall würde der Angestellte sicherlich eine Ausnahme machen. Wenn nicht, würde Schimmer sehr direkt und ohne Umschweife auf den traurigen Anlass ihres Besuches zu sprechen kommen.

Doch bereits wenige Sekunden später meldete sich die Stimme erneut, und gleichzeitig schwang das Tor langsam zu beiden Seiten auf. „Fahren Sie bitte bis zum Haus vor und parken Sie Ihren Wagen auf den Lieferantenparkplätzen rechts des Haupteingangs.“

„Rechts des Haupteingangs“, äffte Hofer mit aufgesetztem, vornehmem Klang die Stimme aus dem Lautsprecher nach und verzog dabei sein Gesicht zu einer Grimasse. „Denen wird ihr vornehmes Getue gleich vergehen, wenn sie die gute Nachricht hören.“

Schimmer schaute Hofer aus den Augenwinkeln heraus an und schüttelte den Kopf. Er mochte solche Leute auch nicht sonderlich, aber er besaß wenigstens so viel Anstand, dass er sich bei solch einem traurigen Anlass zu benehmen wusste.

„Ich glaube, ich bleibe im Wagen. Du kommst doch alleine zurecht, oder?“, sagte Hofer, als Schimmer den Wagen auf dem Lieferantenparkplatz abstellte und den Motor ausschaltete.

Schimmer war noch nicht einmal überrascht über Hofers Frage und nickte daher zustimmend. „Ja, natürlich. Ich denke auch, es wird wohl das Beste sein, wenn immer nur einer die schlechte Nachricht überbringt.“

„Da hast du recht. Und du bist die geeignete Person für diesen Job. Ich biete dir diese pietätvolle Aufgabe hiermit gerne an“, gab Hofer lachend zurück und kurbelte seine Rückenlehne nach hinten. „Ich werde mir mal zwei, drei gemütliche Stunden machen“, hängte er noch gähnend an und schloss dabei die Augen.

Schimmer stieg aus dem Wagen aus, ohne auf dieses Angebot seines Kollegen etwas zu erwidern. Er kannte Hofers Arbeitseinstellung. Auch dass sie beide bei ihren Kollegen und den Vorgesetzten nicht sonderlich beliebt waren, machte ihm nichts aus. Sie hatten eine gute Quote bei ihren Ermittlungen, und Hofer war für das Spiel „Guter Bulle – Böser Bulle“ und für die harte Tour einfach brillant. Er erledigte – und das musste jeder ihm neidvoll zugestehen – diese Arbeit nahezu perfekt. Für Ermittlungen, komplizierte Zusammenhänge und Routinearbeiten, aus denen ihre Arbeit aber zum größten Teil bestand, war Hofer nicht zu gebrauchen. Aber hier kam Schimmer zum Einsatz und somit ergänzten sie sich optimal.

*

Das Haus, das in hellem Weiß, vermischt mit dezenten gelben Farben, angelegt war, wirkte jetzt, aus der Nähe betrachtet, noch fürstlicher. Schimmer schaute zu den großen Sprossenfenstern empor, die sich in das Bauwerk harmonisch einfügten und mit den aufgesetzten Sandsteinsäulen, die jeweils links und rechts der Fenster angebracht waren, ein abwechslungsreiches und dennoch graziles Bild erzeugten. Er überlegte, wie viele Zimmer dieses riesige Gebäude wohl haben mochte, und begann die Fensterreihen der drei Stockwerke abzuzählen. Er kam auf dreißig Fenster. Nahm er die Breite des Hauses hinzu, mussten in dem Gebäude mindestens fünfundzwanzig bis dreißig Zimmer vorhanden sein. Im Vergleich zu seiner Dreizimmerwohnung, die er mit Frau und Tochter Nicole, die erst zwei Jahre alt war, bewohnte, war dieses Gebäude ein Schloss.

*

Schimmer ging zur Eingangstür und wurde dort von einem Mann, vollkommen in Schwarz gekleidet, bereits erwartet. „Bitte treten Sie ein. Herr Weidmann erwartet Sie“, sagte der Bedienstete höflich mit einem feinen südländischen Akzent, den Schimmer nicht so recht zuordnen konnte. Verwundert über diesen doch schnellen Empfang betrat er das Haus.

Der Angestellte deutete mit einer höflichen Geste an, dass er weiter in den Eingangsbereich hineingehen sollte, und schloss, ohne ein Geräusch zu erzeugen, die mächtige Eingangstür.

Kommentarlos, sich nach allen Seiten umschauend, folgte Schimmer dem Mann weiter in das Gebäude hinein und betrat dicht hinter ihm einen der Räume, die direkt an den Eingangsbereich angrenzten.

Mit den Worten „Herr Weidmann, Ihr Besuch“ wurde Schimmer von dem Angestellten bei Karl-Gustav Weidmann angemeldet.

„Danke, Lopez“, gab Weidmann kühl zurück, der hinter einem riesigen Mahagonischreibtisch mit edlen Schnitzereien saß, löste seinen Blick aber nicht von den Papieren, die er in den Händen hielt.

„Spanisch, vielleicht auch Portugiesisch“, dachte Schimmer, der langsam durch den Raum lief und sich dabei die Frage über die Nationalität des Angestellten selbst beantwortete. Er schaute sich bei jedem seiner Schritte gewohnheitsmäßig nach allen Seiten um und war mit jeder neuen, seltsam wirkenden Skulptur, die er in diesem monströsen Raum entdeckte, überrascht.

Erst als Schimmer stumm vor dem Mahagonischreibtisch stand und ungeduldig von einem Bein auf das andere wippte, legte Weidmann die Schriftstücke zur Seite und sah ihn aus tief liegenden Augen an.

„Haben Sie die Aufgabe bekommen, mir die Nachricht vom Tode meines Sohnes zu überbringen?“, fragte Weidmann mit feiner Stimme, kaum hörbar, und Schimmer wusste nicht, was er erwidern sollte. Auf diese Begrüßung war er keineswegs vorbereitet gewesen, und daher nickte er nur stumm.

„Gut. Wissen Sie bereits, wie es zum Absturz kommen konnte?“ Weidmann ließ den Blick wieder sinken und faltete ein Blatt Papier sorgfältig in der Mitte, das vor ihm auf dem Schreibtisch lag.

„Nein, bedauerlicherweise nicht. Die Untersuchungen dauern bislang noch an. Ich denke, es wird wohl noch einige Zeit vergehen, bis ein abschließender Bericht erstellt werden kann.“ Schimmer blickte auf Weidmann herab, der jetzt zusammengesunken in seinem schweren Ledersessel saß und wie erstarrt einen imaginären Punkt auf der Schreibtischplatte fixierte. „Ist Ihnen nicht gut, Herr Weidmann“, fragte er vorsichtig und war bereits im Begriff, um den Schreibtisch herumzugehen, als Weidmann mit einem schnellen Blick zu ihm aufsah.

„Nein, danke. Mir geht es gut. Wissen Sie, ob mein Sohn schnell und ohne Schmerzen gestorben ist?“

Schimmer überlegte, was er auf diese Frage antworten sollte. Er kannte die Hintergründe des Unglücks nicht. Er wusste nur, dass ein Flugzeug in der Nähe von Salzburg abgestürzt war und dass dabei zehn Menschen ihr Leben gelassen hatten. „Er hatte mit Sicherheit keine Schmerzen. Es ging zu schnell“, sagte er und vertraute darauf, dass jeder Mensch bei einem Flugzeugabsturz schnell und ohne Schmerzen sterben würde.

„Gut“, gab Weidmann leise zurück und senkte den Blick, um den imaginären Punkt auf der Tischplatte neu zu fixieren. „Sie würden mir einen Gefallen erweisen, wenn Sie jetzt bitte gehen würden“, hängte er nach einigen Sekunden an, ohne Schimmer nochmals anzusehen.

Schimmer war für diesen Satz fast schon dankbar. Er wusste bereits nicht mehr, wie er sich verhalten noch was er sagen sollte. „Mein Beileid, Herr Weidmann“, knurrte er deshalb nur und verließ eiligst den Raum.

In der Eingangshalle wartete der Angestellte bereits und begleitete ihn mit einer höflichen Armbewegung, die wohl einen vornehmen Rausschmiss andeuten sollte, zur Tür.

„Können Sie mir sagen, woher Herr Weidmann wusste, dass sein Sohn verstorben ist?“, fragte Schimmer den Angestellten und blieb in der geöffneten Eingangstür stehen. Er wusste selbst nicht, warum er dies fragte, aber es war wohl eine intuitive Eingebung und ein Schuss ins Blaue hinein.

„Bedaure. Ich kann Ihnen nicht mitteilen, woher Herr Weidmann seine Informationen bezieht“, antwortete der Angestellte pflichtgemäß und zeigte mit einer erneuten Geste an, dass Schimmer das Haus verlassen sollte.

Schimmer blieb aber im Türrahmen stehen und sah dem Mann eindringlich in die Augen. Doch sein strenger Kripo-Blick, den er in jahrelanger Arbeit regelrecht einstudiert hatte, zeigte keinen Erfolg. Nicht das kleinste Zucken war in dem Gesicht des Mannes zu erkennen. Entweder wusste der Angestellte wirklich nichts oder er hatte seine Gesichtsmuskeln besser unter Kontrolle als Schimmer seine.

„Danke, Lopez“, sagte Schimmer, da ihm nichts anderes übrig blieb, trat ins Freie und ging zum Wagen zurück, in dem Hofer eine Zigarette rauchend auf ihn wartete.

„Mann, das ging aber schnell. Ich hatte mich schon auf eine längere Pause eingestellt. Wie hat er es aufgenommen?“, fragte Hofer gähnend und schnippte einen Zigarettenstummel aus dem Seitenfenster hinaus, der in einem großen Bogen davonflog.

Schimmer schaute der Kippe nach, die dicht neben einer Marmorskulptur liegen blieb und im Schnee verlosch. Er zog die Augenbrauen in die Höhe, legte seine Stirn in Falten und warf Hofer einen nachdenklichen Blick zu.

„Er wusste es bereits.“

„Wie, er wusste es? Woher?“

„Das hab ich ihn nicht gefragt. Aber Weidmann hat anscheinend gute Kontakte.“

„Ja, schon, aber die Meldung ist doch erst ein paar Stunden alt.“

„Eben. Und das ist ja das Merkwürdige an der Sache. Mir kommt es so vor, als ob der alte Weidmann die ganze Nacht keinen Schlaf gefunden hat. Der schaut aus wie durch die Mühle gedreht.“

„Hm …“, knurrte Hofer und warf dabei einen kurzen Blick zu einem der unteren Fenster des Hauses. „Wir werden beobachtet. Viertes Fenster, links neben der Tür.“

Schimmer schaute schnell zum Haus auf das von Hofer beschriebene Fenster, sah aber nichts. „Das muss das Fenster von dem Büro sein, in dem ich gerade war. Komm, lass uns fahren.“

Schimmer drehte den Zündschlüssel und startete den Wagen. „Ich denke, dass sich dieses Schauspiel bei den anderen, die wir noch zu besuchen haben, wiederholt. Die kennen sich alle und haben sich mit Sicherheit schon gegenseitig informiert.“

„Ja, das denke ich auch. Schade nur, dass wir den Auftrag nicht telefonisch erledigen können. Es würde uns einige Mühe ersparen.“

„Hofer“, rief Schimmer entrüstet und bestrafte seinen Kollegen mit einem vorwurfsvollen Blick. „Du hast wohl gar keine Achtung vor den Gefühlen anderer Menschen?“

„Doch, schon; aber nicht bei solch aristokratischen Arschlöchern. Die ersticken doch eher an ihren Gefühlen, als sie offen zu zeigen“, maulte Hofer erbost und steckte sich eine weitere Zigarette an.

Schimmer schaute nach dieser doch sehr profanen Aussage seines Kollegen nicht einmal zur Seite. Er kannte Hofer und dessen Einstellung zum Rest der Welt. Ihn beschäftigte eher der Gedanke, seit wann Weidmann wusste, dass sein Sohn tödlich verunglückt war.

*

Der Berliner Straßenverkehr forderte Schimmers volle Aufmerksamkeit, und bei der ganzen Hektik dachte er nicht mehr an Weidmann und an die Fragen, die sich zwangsläufig stellten. Nach halbstündiger Fahrt bog er in die Königsallee ein und ließ, nach kurzer Orientierung, den Wagen direkt vor Paul Wegenrods Anwesen ausrollen. „Was ist, willst du oder soll ich?“, fragte er und warf Hofer einen kurzen Seitenblick zu.

„Hab doch schon gesagt, dass du der richtige Mann für solche Aufgaben bist. Lass mich also in Ruhe“, maulte Hofer und verschränkte demonstrativ die Arme über seiner Brust.

Schimmer stieg kommentarlos aus dem Wagen und verschwand in der breiten Toreinfahrt. Er hatte keine Lust, sich mit Hofer herumzustreiten, und es war wohl auch besser, wenn er diese Aufgabe übernehmen würde.

*

Mit einer gewissen Erwartungshaltung drückte Schimmer den Klingelknopf in die Messingvertiefung hinein und war gespannt, wie hier, bei den Wegenrods, seine Nachricht aufgenommen werden würde. Es verstrich eine gewisse Zeit und Schimmer wollte bereits den Knopf ein zweites Mal drücken, als die Tür einen Spalt weit geöffnet wurde.

„Ja, bitte?“, fragte eine zierliche Frau vorsichtig und mit zittriger Stimme durch die geöffnete Tür hindurch.

„Guten Tag. Mein Name ist Schimmer. LKA Berlin. Ich würde mich gerne mit Frau Wegenrod unterhalten“, brachte Schimmer gerade noch heraus, als die Frau bereits in Tränen ausbrach und schluchzend stammelte: „Ich … ich weiß es bereits.“

Schimmer wollte Frau Wegenrod gerade auffordern, ihn hereinzubitten, als eine brummige Stimme aus dem Hintergrund rief: „Was ist hier los! Wer sind Sie?“ Gleich darauf tauchte ein Hüne mit schwarzem Anzug und blütenweißem Hemd wie aus dem Nichts auf, schob Frau Wegenrod zur Seite und stellte sich in die jetzt vollkommen geöffnete Tür, die er mit seinem stattlichen Umfang förmlich ausfüllte.

Schimmer, der solche spektakulären und unnötig wichtig erscheinenden Auftritte von Bodyguards zur Genüge kannte, zückte nur seinen Dienstausweis und sagte knapp: „LKA.“

„Und? Sie sehen doch, dass Frau Wegenrod mit den Nerven bereits am Ende ist. Lassen Sie sie in Ruhe“, blaffte der Mann, trat einen Schritt zurück und drückte die Tür, Schimmers Dienstausweis in keiner Weise beachtend, ins Schloss.

„Toll“, murmelte Schimmer und trat verärgert den Rückzug an. Vielleicht hatte Hofer doch recht und sie könnten sich viel Arbeit ersparen, wenn er die nächste Telefonzelle ansteuern würde.

„Und?“, fragte Hofer und schaute dabei gelangweilt aus dem Seitenfenster, während Schimmer verärgert den Zündschlüssel im Schloss herumdrehte und den Motor mit etwas zu viel Gas lautstark aufheulen ließ.

„Na was schon. Ich kam noch nicht mal über die Türschwelle hinweg. So ein Zweimetermann von Bodyguard hat mir die Tür vor der Nase zugeknallt. Aber was soll’s. Die restlichen sechs schaffen wir auch noch, und dann kann uns der Obstein mal kreuzweise.“

*

Bereits nach wenigen Metern stoppte Schimmer den Wagen erneut. Das Haus von Fritz Gründig lag, etwas versteckt und von der Straße aus kaum zu sehen, hinter einer dichten Kirschlorbeerhecke. Missmutig und verärgert über diese sinnlose Tätigkeit ging er auf das Haus zu und sah beim Herankommen, dass sich der Vorhang an einem der unteren Fenster bewegte. „O Gott“, stöhnte er kurz auf, schüttelte den Kopf und lief in Richtung Haus weiter. Er ahnte bereits, was jetzt passieren würde, und verfluchte – nicht zum ersten Mal – seinen Job.

Dieses Mal wurde ihm sogar der Druck auf den Klingelknopf erspart, da die Tür bereits geöffnet wurde, noch ehe er die kleine Treppe, die zur Haustür führte, hinaufgelaufen war. Ein junger Mann Mitte zwanzig – in Schwarz gekleidet – stand vor ihm und stellte sich als Sohn von Fritz Gründig vor. Er sagte, noch ehe Schimmer die letzte Stufe genommen hatte, dass sie bereits wüssten, was geschehen sei. Schimmer sprach ihm sein Beileid aus und ging wieder zurück zum Wagen.

„Mann, das geht ja immer schneller“, flachste Hofer und schüttelte lachend den Kopf. Schimmer sagte nichts. Er startete den Wagen, warf einen kurzen Blick auf die Namensliste und gab Gas.

*

Das ganze Schauspiel wiederholte sich bei Gerda Schmidke – dort wurde er von dem Mann der Verstorbenen an der Sprechanlage abgefertigt –, bei Heiko Obstbaum – bei dem er zwar hereingebeten wurde, aber bereits nach wenigen Minuten auch wieder auf der Straße stand –, und Gerd Krämer – bei dem sogar eine Hausangestellte die traurige Nachricht entgegennahm.

„Wer fehlt noch?“, fragte Hofer gelangweilt, da er sich und seine Meinung, die er über die etwas höher gestellten Persönlichkeiten Berlins hatte, bestätigt fühlte.

„Wendstein und Fendrich, Petra Fendrich.“

„Kenn ich nicht“, sagte Hofer und nahm Schimmer die Namensliste aus der Hand. „Fendrich, Fendrich? Ja, Petra Fendrich. Das ist die Kleine, die mit dem Krämer rumgebumst hat.“

Schimmer nickte. Jetzt, wo Hofer es sagte, fiel es ihm auch wieder ein. „Ja, da stand mal was in dem Berliner Journal. Du hast recht. Das ist seine persönliche Assistentin … war seine persönliche Assistentin“, verbesserte sich Schimmer und nahm die Liste wieder an sich, um den Namen selbst noch einmal zu lesen.

„Die hätte ihre Muschi besser woanders hinhalten sollen, dann könnte sie jetzt noch leben“, flachste Hofer und freute sich über seine nicht sehr geistreiche Bemerkung.

*

Bei Klaus Wendstein, dem Sicherheitsbeauftragten der Firma Chemitec, wurde nicht geöffnet. Schimmer hinterließ seine Karte mit der schriftlichen Bitte, zurückzurufen. Ob Frau Wendstein oder einer ihrer Angehörigen nun anrufen würde oder auch nicht, war Schimmer mittlerweile gleich. Er hatte die Karte lediglich zurückgelassen, um etwaigen Vorwürfen seitens ihres Chefs aus dem Wege zu gehen.

„So, nun wollen wir mal sehen, ob bei dieser Petra Fendrich jemand zuhause ist“, sagte er zu Hofer, nachdem er es sich im warmen Wagen bequem gemacht hatte. Hofer reagierte nicht. Er starrte nur nachdenklich aus dem Seitenfenster zu Wendsteins Haus. „Seltsam …“, murmelte er und kaute dabei an seinem rechten Daumennagel herum.

„Was ist seltsam?“, fragte Schimmer, der mit Hofers Bemerkung nicht viel anfangen konnte.

„Na ja. Es möchte keiner wissen, wie es zu dem Unfall gekommen ist. Ist doch merkwürdig, oder? Würdest du nicht fragen, was passiert ist, wenn deine Frau bei dem Absturz umgekommen wäre?“

„Natürlich, sicher. Aber Weidmann hat so etwas Ähnliches gefragt, und ich nehme an, dass er seine Informationen über den Absturz weitergegeben hat.“

„Ja, schon. Aber es gibt doch immer noch Fragen. Ich kann dir nur sagen, das stinkt gewaltig“, sagte Hofer bestimmt, kurbelte das Seitenfenster einen Spalt weit nach unten und schnippte seine Kippe hinaus. Danach ließ er sich in den Sitz sinken und schloss die Augen.

Schimmer schaute Hofer, der offensichtlich innerhalb von nur wenigen Sekunden einschlafen konnte, von der Seite an und gab ihm insgeheim recht. Seltsam war das Verhalten der Angehörigen schon. Aber sie hatten nur den Auftrag, die Hinterbliebenen zu unterrichten, und dies und nichts anderes würde er tun.

*

Die Wohnung von Petra Fendrich befand sich in einem abgelegenen Haus, das in Schmargendorf in der Kleingärtenkolonie lag. Schon von der Straße aus konnte Schimmer erkennen, dass es einen direkten Zugang in ein Waldgrundstück gab, und er fragte sich, ob Petra Fendrich einen Schrebergarten hatte. Er stellte den Wagen am Straßenrand ab, stieg aus und schaute sich auf dem verwilderten Gelände um.

Das Anwesen passte nun gar nicht zu den prächtigen Villen, die er in den vergangenen Stunden gesehen hatte, und stand in solch einem krassen Gegensatz dazu, dass es im Ansatz schon einige Fragen aufwarf.

Eine kleine, halb verwitterte und mit Brettern zugestellte Laube stand vor einem alten, vermoderten Zaun, der das Grundstück zu den anderen Gärten hin abgrenzte. Kartoffelkraut lag aufgetürmt in einer Ecke und bildete mit anderen Gartenabfällen einen riesigen, schneebedeckten Haufen, der vermutlich schon einige Zeit vor sich hingammelte. Die Rabatten waren schon lange nicht mehr bepflanzt worden und große Büschel verwitterten Grases wuchsen aus ihnen hervor. Das gesamte Grundstück war verwildert und heruntergekommen.

Einige Meter von dem Haus entfernt war ein verrosteter alter Schubkarren abgestellt, in dem ein kleiner Schneemann stand. Seine schwarzen Eierkohlenaugen starrten Schimmer stumm an, und er musste über die krumme, lange Karottennase, die der Schneemann hatte, schmunzeln. Er dachte dabei an seine Kindheit und an die schönen Stunden, die er in ihrem Schrebergarten mit seiner jüngeren Schwester verlebt hatte.

„Kann ich Ihnen behilflich sein?“

Schimmer fuhr erschrocken herum, da er die Frau, die nur drei Schritte hinter ihm stand, nicht bemerkt hatte. Er war von ihrem plötzlichen Auftauchen völlig überrascht.

„Ich, ich möchte zu Frau Fendrich, Petra Fendrich“, sagte er daher nur und suchte die Umgebung mit schnellen Blicken ab, um herauszufinden, von wo die Frau plötzlich gekommen war.

Neugierig, mit einem amüsierten Lächeln auf den Lippen sah ihn die Frau an. „Jetzt wird’s schwierig“, sagte sie, und das Lächeln ging in ein Lachen über. „Meinen Sie meine Tochter oder meinen Sie mich?“ Schimmer schaute wohl etwas irritiert und daher sprach die Frau lachend weiter: „Sie müssen wissen, dass meine Tochter auch Petra heißt.“

„Oh, das wusste ich nicht“, sagte Schimmer, und langsam stieg ein Unbehagen in ihm auf, das ihm einen flauen Magen bescherte. Ihm wurde klar, dass Petra Fendrichs Mutter von dem Tod ihrer Tochter noch nichts wusste, und im gleichen Augenblick verfluchte er sich, da er auf die Situation nicht vorbereitet war. „Frau Fendrich …“, begann er daher langsam und rang förmlich nach den passenden Worten. „Mein Name ist Schimmer und ich würde mich gerne mit Ihnen über Ihre Tochter unterhalten.“

„Weshalb?“, fragte Frau Fendrich zurück und schaute Schimmer dabei mit einem eindringlichen und zugleich fragenden Blick an.

„Ich denke, wir sollten dies besser in Ihrem Haus besprechen“, gab Schimmer zurück und deutete dabei in Richtung Haustür. Er war bereits einen Schritt gegangen, als er bemerkte, dass Frau Fendrich sich nicht vom Fleck rührte.

„Mal schön langsam, junger Mann. So einfach kommen Sie mir nicht in die Wohnung“, sagte Frau Fendrich und trat einen halben Schritt zurück. Ihr Blick verriet Argwohn, gepaart mit Misstrauen.

Schimmer verstand nicht, was dies nun sollte. Hatte er es heute nur mit verqueren Leuten zu tun? Doch plötzlich schoss es ihm wie ein Blitz durch den Kopf. „Oh … Verzeihen Sie … Tut mir leid …“, stotterte er und zog dabei seinen Dienstausweis aus der Innentasche seiner Jacke. „Schimmer, LKA Berlin.“ Durch das plötzliche Auftauchen von Frau Fendrich hatte er vollkommen vergessen, sich auszuweisen, und es war daher wohl auch kein Wunder, dass er nicht ohne Weiteres in das Haus gebeten wurde.

„Polizei? Ist etwas passiert? Ist etwas … es ist etwas mit Petra!“

Schimmer sah Frau Fendrich mit einem – so hoffte er jedenfalls – nichtssagenden Ausdruck in den Augen an. „Können wir das im Haus besprechen?“, fragte er nochmals und deutete dabei mit offener Hand in Richtung Haustür.

Frau Fendrich nickte stumm. Sie drehte sich ab und ging einige Schritte in Richtung Haus, ehe sie stehen blieb und sich zu Schimmer herumdrehte. „Ja, sicher. Ich gehe voraus. Bitte kommen Sie“, kam es dünn über ihre Lippen.

Schimmer wusste, dass die Frau mit dem Schlimmsten rechnete, aber den Gedanken dennoch mit aller Kraft verdrängte. Es war ein Zwiespalt, der innerhalb von nur wenigen Sekunden in jedem Menschen vonstattenging und meist mit dem Gedanken endete, dass etwas Schlimmes, Endgültiges passiert war. Ein Polizist brachte in der Regel keine guten Nachrichten, und wenn ein Familienmitglied auf Reisen war, schon gar keine.

Im Haus wurde er in ein gemütlich eingerichtetes Wohnzimmer geführt, dessen Möbel ihn an die Sechzigerjahre erinnerten und denen glichen, die auch seine Eltern besessen hatten. Frau Fendrich bot ihm an, sich an den Esszimmertisch zu setzen, und nahm aus dem Wohnzimmerschrank einen goldfarbenen, verzierten Aschenbecher heraus. Den Aschenbecher stellte sie vor Schimmer auf den Tisch und trat einen Schritt weit in den Raum zurück.

„Was ist mit Petra?“, fragte sie mit stockendem Atem.

Verwundert sah Schimmer auf den Aschenbecher und danach zu Frau Fendrich. Sie stand starr im Raum und versuchte krampfhaft ihre zittrigen Hände ruhig zu halten. Schimmer stand auf, nahm Frau Fendrich vorsichtig in den Arm und führte sie zu einem großen Ohrensessel, der in einer Ecke des Wohnzimmers direkt neben einer Stehlampe stand.

„Frau Fendrich, nehmen Sie bitte Platz“, sagte er behutsam und legte dabei seine Hand sanft auf ihre Schulter. Sie sah ihn aus wässrigen Augen an, nickte stumm und setzte sich. Schimmer ging zum Tisch zurück, nahm sich einen der Stühle und stellte ihn dicht vor dem Sessel ab. Er setzte sich, nahm Frau Fendrichs zittrige Hände in die seinen und begann leise und einfühlsam: „Frau Fendrich, Sie machen sich Sorgen, dass ich hier bei Ihnen bin, und ich würde Ihnen gerne helfen. Doch ich bin mir nicht sicher, ob ich dies kann. Ich muss Ihnen etwas mitteilen, das sehr schwer für Sie sein wird, und ich möchte, dass Sie sich nicht zu sehr aufregen.“ Frau Fendrich nickte stumm und senkte den Blick. „Ich habe leider eine schlechte Nachricht für Sie und Ihre Familie. Ihre Tochter, Petra, sie ist heute Morgen mit einem Flugzeug kurz vor Salzburg abgestürzt. Sie kam mit den anderen Passagieren und den beiden Piloten ums Leben.“

Frau Fendrich sah Schimmer mit fassungslosen, leeren Augen an, zog ihre Hände zurück und verkrampfte sie in ihrem Schoß, bis die Knöchel weiß hervortraten. Langsam füllten sich ihre Augen mit Tränen, die kurze Zeit später in dicken Tropfen über beide Wangen rollten.

„Nein, bitte, sagen Sie, dass es nicht wahr ist, bitte …“, schluchzte sie und drückte dabei die gefalteten Hände gegen ihren Mund. Der gesamte Körper wurde allmählich von krampfartigen Anfällen geschüttelt, und Schimmer bekam es mit der Angst zu tun. Er sprang auf, setzte sich auf die Lehne des Sessels und nahm Frau Fendrich behutsam in den Arm.

„Bitte beruhigen Sie sich doch“, sagte er hilflos, da er nicht wusste, wie er sich verhalten sollte, und sah sich Hilfe suchend im Wohnzimmer um. „Frau Fendrich, soll ich Ihren Mann verständigen oder irgendjemand anderen aus Ihrer Familie?“

Unter ständig neuen Weinkrämpfen brachte Frau Fendrich schließlich schluchzend hervor, dass ihr Mann schon seit Jahren verstorben sei und weitere Verwandte nicht in Berlin lebten. Ihre Tochter, Petra, wäre der einzige Mensch, den sie hier in Berlin noch hätte.

Schimmer war klar, dass er die Frau in diesem Zustand nicht alleine lassen konnte. Er rannte in den Flur, in dem er beim Hereinkommen das Telefon gesehen hatte, und griff sich ein braunes Telefonregister, das direkt neben dem Apparat lag. Seite für Seite blätterte er es hastig durch. Ungefähr in der Mitte fand er, was er gesucht hatte. Er nahm den Hörer von der Gabel, tippte die Nummer ein, die hinter dem Namen Schröder stand, und wartete. Frau Fendrichs Schluchzen wurde heftiger und er hörte deutlich aus dem Wohnzimmer, dass sie bereits krampfhaft nach Atem rang.

*

Das Rufzeichen drang laut und fordernd durch die Leitung, so als wüsste das Telefon, dass es dringend war. Doch nach dem achten oder neunten Rufzeichen knallte Schimmer den Hörer auf die Gabel. „Verdammt …“, fluchte er vor sich hin, während er den Hörer wieder von der Gabel riss und diesmal die 112 wählte. „Immer, wenn so ein verfluchter Arzt gebraucht wird, ist der mit Sicherheit nicht da.“ Schimmer wünschte diesem Schröder, hinter dessen Namen Hausarzt stand, alles Schlechte für die Zukunft.

Der Anruf in der Notrufzentrale wurde nach dem zweiten Rufzeichen angenommen, und Schimmer gab in kurzen Worten durch, um was es sich handelte. Als er wieder in das Wohnzimmer kam, lag Frau Fendrich vor dem Sessel auf dem Boden und rang verzweifelt nach Luft.

„Scheiße, Scheiße, Scheiße …“, fluchte Schimmer, stürzte zu ihr hin und ließ sich auf die Knie fallen. Was sollte er nur tun? Er hatte keine Ahnung, was er in solch einem Fall unternehmen sollte. Die letzten Erste-Hilfe-Kurse hatte er mit den unterschiedlichsten Ausreden umschifft und sich keinen Gedanken darüber gemacht, dass er je einmal in die Situation geraten würde, einem Menschen helfen zu müssen.

Aufgeregt und schüchtern zugleich knöpfte er Frau Fendrich die Bluse auf und hoffte dabei inständig, dass sie dadurch besser Luft bekommen würde. Doch sie rang von Sekunde zu Sekunde heftiger nach Atem, und Schimmer spürte instinktiv, dass hier schnellstens ärztliche Hilfe nötig war.

„Was machst du denn da?“, rief Hofer, der plötzlich in der Wohnzimmertür stand und Schimmer fast zu Tode erschreckt hätte.

„Blöde Frage. Nach was sieht es denn aus? Steh nicht so blöd herum, hilf mir lieber“, schrie Schimmer, der mit dem unerwarteten Auftauchen Hofers vollkommen die Fassung verloren hatte.

Hofer kam ins Zimmer, kniete sich neben Schimmer auf den Boden und mit einem schnellen, geübten Griff überprüfte er den Puls und kontrollierte danach die Atmung von Frau Fendrich. Dann wuchtete er den Wohnzimmertisch zur Seite und zog Frau Fendrich im Rettungsgriff zur Couch, um sie mit beiden Beinen stützend in aufrechter Position zu fixieren. „Hat sie sich sehr über die Nachricht aufgeregt?“, fragte er, während er nochmals Puls und Atmung kontrollierte.

„Ja, sehr sogar. Sie scheint die Einzige zu sein, die nichts von dem Absturz wusste. Petra Fendrich ist ihre Tochter, der Mann ist verstorben und weitere Angehörige leben nicht in Berlin“, antwortete Schimmer und verfolgte völlig irritiert Hofers routiniertes Vorgehen.

„Die Frau hat einen Asthmaanfall. Hast du einen Arzt verständigt?“

„Ja, den Notarzt, was denkst du denn“, erwiderte Schimmer trotzig, und im gleichen Moment hörte er auch schon das Signalhorn des Notarztwagens.

*

Frau Fendrich rang noch immer krampfhaft nach Atem, als der Notarzt, von Schimmer geführt, das Zimmer betrat. „Schnell, Herr Doktor. Die Frau hat einen akuten Asthmaanfall und ich kann kein Medikament bei ihr finden“, rief Hofer, der sichtlich erleichtert war, dass er dem Arzt seinen Platz überlassen konnte. Zwei Sanitäter schleppten eine Trage in das Zimmer, und zu dritt bemühte sich nun das Notarztteam um Frau Fendrich. Schimmer und Hofer standen im Hintergrund und sahen den Männern, die anscheinend um das Leben der Frau kämpften, angespannt zu.

*

„Das war höchste Zeit“, sagte der Arzt zu Hofer, während er seine Instrumente in einen silberfarbenen Arztkoffer packte. „Eine Minute später und die Frau hätte nicht überlebt. Sie hat zwar ein Medaillon an ihrem Hals, das darauf hinweist, dass sie Asthmatikerin ist, aber wie Sie schon festgestellt haben, hatte sie kein Medikament dabei.“ Der Notarzt hielt Schimmer und Hofer einen kleinen goldenen Anhänger entgegen, auf dem in geschwungenen Buchstaben S O S eingraviert war. Schimmer starrte entgeistert darauf. Ihm war klar, dass er einen gravierenden Fehler begangen hatte. Er hätte Frau Fendrich noch behutsamer erklären müssen, was mit ihrer Tochter passiert war, und er hätte sie fragen müssen, ob ein Angehöriger im Haus war, und vor allem, ob sie krank war.

„Ich habe es nicht gewusst …“, stotterte er und starrte dabei wie hypnotisiert auf das Medaillon.

„Schon gut“, gab der Arzt freundlich zurück und klopfte Schimmer dabei auf die Schulter. „Sie brauchen sich keine Vorwürfe zu machen. Selbst wenn Sie festgestellt hätten, dass die Frau Asthmatikerin ist, hätten Sie erst einmal ihr Medikament im Haus finden müssen. Wie schon gesagt, sie hatte nichts bei sich.“

„Wo bringen Sie die Frau hin?“, fragte Schimmer und schaute Frau Fendrich, die jetzt von den beiden Sanitätern aus dem Zimmer getragen wurde, fürsorglich nach.

„In das Martin-Luther-Krankenhaus. Es ist nicht weit von hier.“

„Sie hat keine Angehörigen, müssen Sie wissen. Ich denke, sie benötigt seelischen Beistand. Sie ist zusammengebrochen, nachdem ich ihr mitteilte, dass ihre Tochter bei einem Unfall verstorben ist.“

„Gut, ich werde es weitergeben“, antwortete der Arzt freundlich, nickte Schimmer und Hofer zu und ging seinen Kollegen nach.

*

Schimmer und Hofer standen stumm im Wohnzimmer und schauten sich an. Jeder wusste, dass jetzt Worte fehl am Platz waren. Hofer deutete nach einiger Zeit mit einer kurzen Kopfbewegung in Richtung Tür, und Schimmer stimmte mit einem ebenso kurzen Nicken zu.

„Mein lieber Mann, das war wirklich knapp“, sagte Hofer, während Schimmer die Haustür zuzog, den Schlüssel ins Schloss steckte und die Tür verschloss.

„Ja, da hast du recht. Die Frau hatte ziemliches Glück, dass der Notarztwagen so schnell zur Stelle war.“

„Es scheint so, dass die vornehme Gesellschaft die Information über den Absturz nur unter sich verbreitet hat. Für den lieben Herrn Weidmann und seine Freunde zählt eine kleine Angestellte eben nicht.“

„Ja, stimmt. Und ich Idiot hab mich auf die Situation nicht eingestellt.“

„Tja, da siehst du mal wieder, wie das soziale Gefälle funktioniert. Die einen wissen alles und die anderen nichts. Komm, lass uns fahren“, sagte Hofer und ging zum Wagen.

Schimmer schaute zum Schneemann hinüber, der mit seinen schwarzen Eierkohlenaugen und der krummen Karottennase in dem Schubkarren stand und stumm in seine Richtung blickte. Wahrscheinlich hatte ihn Petra Fendrich mit ihrer Mutter gebaut, dachte er und ließ sich die letzten Worte Hofers nochmals durch den Kopf gehen. Hin und wieder hatte sein Kollege doch die passenden Worte parat, die es auf den Punkt brachten: Das soziale Gefälle war hier wirklich sehr deutlich zu erkennen. Die laute Hupe ihres Wagens riss ihn aus seinen Gedanken.

Es bleibt für immer ein Geheimnis

Подняться наверх