Читать книгу Es bleibt für immer ein Geheimnis - Philipp Porter - Страница 7
Kapitel 3
ОглавлениеBewegungslos schwebte der Polizeihubschrauber über den brennenden Trümmern. Der Pilot gab den Feuerwehrwagen, die mit schwerem Gerät anrückten, Hinweise, welchen Weg sie in dem unwegsamen Gelände nehmen sollten, und dirigierte sie in weitem Bogen zur Unglücksstelle.
Langsam ließ der Fahrer des größten Wagens sein Fahrzeug durch das Unterholz rollen und bahnte somit einen Weg für die nachfolgenden Fahrzeuge. Wagen für Wagen rollte nun dichter an das Flugzeugwrack heran, und einige Feuerwehrmänner liefen den Fahrzeugen bereits voraus, um geeignete Standplätze vorzubereiten. Nach fast halbstündiger Anfahrt hatten sie ihr Ziel endlich erreicht. Die Besatzungen sprangen von den Fahrzeugen, sicherten die Standplätze und bereiteten die Ausrüstung mit geübten Handgriffen vor.
Kurze Kommandos schallten über das scheinbare Wirrwarr der Männer hinweg, von denen aber jeder genau wusste, was er zu tun hatte. Die lauten Befehle ihres Kommandanten, die durch das Stimmengewirr der Männer und das Prasseln des Feuers hindurchdrangen, waren eher gut gemeinte Orientierungshilfen als dienstliche Anweisungen. Innerhalb von nur wenigen Minuten lagen Schläuche kreuz und quer auf dem Waldboden verteilt, und aus Schaumkanonen quoll flockiger milchig weißer Schaum. Langsam über den Boden hinwegkriechend, begrub er alle Flugzeugteile unter sich und erstickte jede noch so kleine Flamme.
Nach einiger Zeit drangen nur noch an wenigen Stellen kleine Rauchwolken aus dem Waldboden hervor, und bis zum frühen Nachmittag war auch der letzte Funke, der im Boden noch glimmte, gelöscht.
Der Geruch von verbranntem, nassem Holz, Kunststoff und Kerosin hing in der Luft und legte sich über den frischen, klaren Duft des Waldes. Doch wer nahe an das Flugzeugwrack herankam, roch noch etwas anderes. Einen ekligen Geruch – verbranntes Fleisch.
*
Die Piper rollte auf dem abgetrennten Teil des Rollfeldes, das nur für Sportmaschinen und Hubschrauber ausgewiesen war, aus. Schmidt sah der Maschine durch die Seitenscheibe seines Wagens mit Freude, aber gleichzeitiger Betroffenheit entgegen. Schwerfällig stieg er aus dem warmen, immer noch laufenden Fahrzeug aus, und die schneidende Kälte, die schon seit Tagen in der Region herrschte, bohrte sich mit spitzen Nadeln in sein Gesicht.
„Scheiß-Kälte“, fluchte er vor sich hin, während er zur Maschine lief, bei der sich der Propeller noch das letzte Mal stockend drehte, ehe er durch den Widerstand des ausgeschalteten Motors zum Stillstand gezwungen wurde.
Klaus Gerbig, der ihn bereits gesehen hatte, winkte ihm aus dem Cockpit heraus zu und kletterte kurz darauf aus der Maschine heraus. „Verflucht, ist das kalt hier“, waren die ersten Worte, noch ehe er Schmidt begrüßte. „Was habt ihr denn für Temperaturen? Das ist ja wirklich schweinekalt“, hängte er noch lachend an und nahm Schmidt freundschaftlich in den Arm.
„Hab ich dir doch gesagt. Hast mir wohl nicht geglaubt, was?“, gab Schmidt lachend zurück und drückte Gerbig so herzlich, dass diesem fast die Luft ausging.
„Hallo, hallo! Ich freue mich ja auch, dass wir uns nach so langer Zeit mal wieder sehen“, flachste Gerbig, und Schmidt lachte verlegen, da er sich wirklich so benahm, als ob er ihn schon seit Monaten nicht mehr gesehen hatte.
„Tut mir leid“, sagte Schmidt daher knapp und ließ seinen Freund los. Beschämt, seine Hände tief in die Taschen seiner dicken Winterjacke vergrabend und mit beiden Füßen stampfend, stand er nun in der Kälte und wusste nicht mehr so recht, was er sagen sollte.
„Komm, lass mal gut sein. Ich weiß ja, wie du es meinst“, sagte Gerbig und sah Schmidt mit einem verständnisvollen Blick an. „Was ist, du alter Schwede? Muss ich hier erst erfrieren, ehe ich in deinen neuen Wagen darf, oder was ist?“
„Oh, tut mir leid. Bin wohl etwas durcheinander, natürlich … komm …“, stammelte Schmidt noch immer verlegen und lief los. Beide gingen zum Wagen, einem großen amerikanischen Jeep, der leise vor sich hinblubberte und zwei weiße Dampffontänen aus den Auspuffrohren in die klare Luft stieß.
„Er ist doch neu, oder?“, fragte Gerbig und deutete dabei auf den Wagen.
„Ja. Vor zwei Tagen hab ich ihn geholt. War ein gutes Angebot vom Händler. Musste einfach zuschlagen. Schön, nicht wahr?“
„Ja.“
„Na, dann lass uns mal das Baby spazieren fahren. Ich schlage vor, du bringst mich rüber zur Absturzstelle und danach ins Gasthaus.“
„Genau das hatte ich vor, komm.“ Schmidt ging um den Wagen herum, während Gerbig seine Reisetasche und einen Metallkoffer auf dem Rücksitz verstaute. Danach kletterte er in das hochgelegte Fahrzeug hinein.
„Welche Informationen hast du für mich?“, fragte Gerbig, während Schmidt bereits zügig vom Flughafengelände fuhr und er alle Mühe hatte, festen Halt an einem der Haltegriffe zu finden.
„Na ja, was soll ich sagen. Letzter Kontakt eine Minute vor Absturz. Es bestand klare Sicht, wolkenloser Himmel. Lufttemperatur minus acht Grad. Die Maschine befand sich auf Instrumentenanflug. Wir hatten die Cessna auf dem Schirm und plötzlich war sie verschwunden. Von einer Sekunde auf die andere. Ich hab mir die Aufzeichnung angesehen, und es scheint so, als ob sie wie ein Stein vom Himmel gefallen ist. Das passt auch zu den ersten Berichten der Polizei. Der Pilot des Polizeihubschraubers gab durch, dass alle Wrackteile der Maschine in einem sehr begrenzten Radius liegen.“
„Habt mal wieder den Funkverkehr der Polizei abgehört, was?“, unterbrach Gerbig und drohte dabei lustig mit dem Zeigefinger.
„Ja, natürlich. Ich wollte schon wissen, was da los ist. Außerdem wissen die Jungs dort, dass wir mithören.“
„Und? Gibt es Funksprüche oder Hinweise auf eine Kollision oder einen technischen Defekt?“
„Nein, nichts. Die Maschine war in dem betreffenden Luftraum vollkommen alleine und der Pilot meldete ziemlich genau eine Minute vor dem Absturz, dass alles in Ordnung sei, und bestätigte das Landen über Instrumentenlandesystem. Den genauen Ablauf findest du in dem Bericht.“
„Kenn ich ihn?“
„Wen?“
„Den Fluglotsen?“
„Nein, ich glaube nicht. Es heißt Heribert Mögli, ist sechsundzwanzig Jahre alt und ein zuverlässiger Mann.“
„Sicher?“, fragte Gerbig misstrauisch.
*
Das Bild, das sich ihnen an der Absturzstelle bot, war bizarr. Schmidt und Gerbig blieben wie angewurzelt im Wagen sitzen und starrten durch die Windschutzscheibe des Jeeps. Eine seltsame Komposition aus einer strengen Schwarz-Weiß-Landschaft mit grellen, farbigen Gebilden darin breitete sich vor ihnen aus. Das Bild hätte in einer modernen Ausstellung mit Sicherheit den ersten Preis gewonnen.
Die roten Feuerwehrwagen mit ihren blinkenden blauen Lichtern und die Besatzungen mit ihren orangefarbenen Jacken hoben sich vor dem Hintergrund der Landschaft in solch einem Kontrast ab, dass es schon wieder seltsam schön wirkte. Der Löschschaum, der über dem Waldboden lag und zwischen den Bäumen und Sträuchern hing, war in der eisigen Kälte zu seltsamen, fremden Formen erstarrt. Schwarze, verkohlte Stümpfe von verbrannten Bäumen ragten aus der erstarrten Schaumdecke hervor und wirkten wie versteinerte Säulen aus einem fremdartigen Mineral, das wie die bizarren weißen Gebilde in dem strahlenden Sonnenlicht irisierend glänzte.
Das ganze Bild hätte verzaubernd gewirkt, wäre in der Mitte dieses scheinbaren Stilllebens nicht das Seitenleitwerk der Cessna zu sehen gewesen. Es ragte wie ein mahnender Finger aus der vereisten Schneelandschaft hervor, als wollte es daran erinnern, dass hier vor wenigen Stunden Menschen ihr Leben auf tragische Weise verloren hatten.
*
Schmidt und Gerbig stiegen fast gleichzeitig, ohne ein Wort miteinander zu wechseln, aus dem Jeep aus. Mit unsicheren Tritten, ständig stolpernd, kämpften sie sich durch den gefrorenen Schaum und die verbrannten Überreste von verkohlten Ästen hindurch. Wenige Schritte vor den ersten Wrackteilen blieben sie wie auf ein stummes Zeichen hin stehen.
„Was denkst du? Hatte da jemand eine Chance?“, fragte Schmidt und starrte wie gebannt auf die verglühten Überreste des Flugzeuges, an dem Feuerwehrmänner mit schweren Rettungsscheren schweigsam arbeiteten. Lautes Knacken und Knirschen von Metall hallte dabei durch den verbrannten Wald, und Schmidt jagte dieses schweigsame Arbeiten einen kalten Schauer über den Rücken.
Da Gerbig solche Situationen schon des Öfteren erlebt hatte, fasste er sich sehr schnell, und aus seinen Worten drang die Professionalität, die Schmidt an ihm kannte und eigentlich auch schätzte.
„Nein. Hier hatte keiner eine Chance. Ich denke, dass sie alle auf der Stelle tot waren. Die Maschine hat sich, so wie es scheint, regelrecht in den Erdboden gebohrt. Man kann jetzt schon deutlich erkennen, dass sie fast senkrecht abgestürzt ist. Teile der Tragflächenhaut und auch die Triebwerke sind noch gut erhalten und wurden bei dem Aufschlag nach hinten gedrückt. Der Rumpf wurde gestaucht und die Kabinenbestuhlung wurde in den hinteren Teil des Flugzeuges geradezu hineingepresst. Ich bin mir sicher, dass hier keiner einer Chance hatte“, wiederholte er nochmals und sah Schmidt dabei mit dem sachkundigen Blick eines Beamten an, der fast jeden Tag mit diesen Dingen zu tun hatte.
„Scheußlich, wie du redest“, antwortete Schmidt und ein Schauder jagte ihm dabei erneut über den Rücken.
„Ich denke, es wird wohl besser sein, wenn du zurück zum Wagen gehst, anstatt hier zwischen den Trümmern herumzustehen“, sagte Gerbig, der den erschrockenen Ausdruck in Schmidts Gesicht richtig deutete.
„Ja, ich denke auch, dass es besser ist“, gab Schmidt zurück und lief langsam, sich noch mehrmals nach den Trümmern umdrehend, in Richtung Wagen davon.
Gerbig kletterte zu den Feuerwehrmännern, die schweigsam an der Cessna arbeiteten, zeigte seinen Ausweis vor und bat darum, glatte und gleichmäßige Schnitte zu machen. Er wollte bei der Untersuchung erkennen, was von den Männern verursacht wurde und was von dem Absturz herrührte. Danach lief er zum Wagen zurück, um einen Fotoapparat, ein Diktiergerät und eine kleine, handliche Filmkamera aus seinem Metallkoffer zu holen.
„Was willst du mit der Filmkamera?“, fragte Schmidt, der auf dem Beifahrersitz saß und sich nach Gerbig umdrehte.
„Ich mache immer erst eine Filmaufnahme von der Unglücksstelle, die ich mir später ansehen kann. Weißt du, in einem Film sieht so ein Absturz immer etwas anders aus als auf den Fotos. Die Bilder musst du erst richtig zuordnen. Was ich versehentlich nicht fotografiert habe, habe ich auf Band.“
Schmidt nickte nur mechanisch und sah wieder zur Cessna hinüber, an der jetzt Leichensäcke aufgereiht wurden. Ein paar Minuten lang sah er Gerbig und den Männern bei ihrer grauenhaften Arbeit zu, bis er angewidert die Augen schloss. Den Anblick von abgetrennten Armen und verkohlten Stümpfen, die aus dem Wrack gezogen wurden, verkraftete er einfach nicht. Erst als Gerbig seine Utensilien im Wagen verstaut hatte, den Motor anließ und langsam losfuhr, öffnete er sie wieder.
„Macht es dir denn gar nichts aus, wenn du so etwas Grauenhaftes siehst?“, fragte Schmidt, dem es sehr recht war, dass Gerbig jetzt am Steuer saß und die Fahrt nach Hause übernahm.
„Natürlich. Was glaubst du denn. Denkst du, es lässt mich kalt?“
„Ja. Es sieht jedenfalls so aus.“
Gerbig lachte bedrückt. „Ja, es sieht mit Sicherheit so aus. Ich kann dir aber auch sagen, weshalb: Ich konzentriere mich auf meine Arbeit und schaue nicht auf das, was um mich herum passiert. Für mich zählen nur Fakten, abgerissene Triebwerke, wie das Flugzeug liegt, welche Teile zerbrochen sind und welche nicht. Es ist natürlich auch wichtig, wo die Passagiere gefunden wurden, aber das entnehme ich aus dem Bericht der Feuerwehr und nicht aus meinen eigenen Aufzeichnungen.“
„Bist du fertig mit deiner Arbeit?“, fragte Schmidt, obwohl er wusste, dass dies nicht sein konnte.
„Nein. Aber hier in der eisigen Kälte kann ich nichts tun. Die Wrackteile, die stellenweise einen halben Meter tief in der Erde stecken, müssen erst geborgen werden. Dann wird alles in Container verpackt und in unsere Rekonstruktionshalle transportiert. Ich werde mich dort mit der Cessna auseinandersetzen.“
„Musst du morgen noch mal hier heraus?“
„Ja. Morgen und vielleicht heute Abend noch mal. Kann ich den Wagen haben?“
Schmidt überlegte kurz, warf einen Blick über die glänzende, noch neue Motorhaube und nickte.
*
Am darauf folgenden Morgen fuhr Gerbig, nachdem er Schmidt am Flughafen abgesetzt hatte, zur Absturzstelle. Drei Stunden später tauchte er in Schmidts Büro wieder auf. Er hatte einen ramponierten schwarzen Aktenkoffer in der Hand und sah nicht gerade glücklich aus.
„Du bist ja schon wieder hier?“, rief Schmidt überrascht und sah Gerbig verwundert an.
„Ja. Ich konnte nichts mehr tun und gab nur noch einige Anweisungen für den Transport. Die Männer brauchen mich dort nicht. Der Kommandant, ein gewisser Höflinger, hat alles im Griff und ich denke, dem Mann kann ich vertrauen.“
„Und was ist das?“, fragte Schmidt und deutete auf den schwarzen Aktenkoffer.
„Tja, das ist etwas, das mir nicht so recht gefällt“, gab Gerbig nachdenklich zurück. Er setzte sich auf einen der Stühle, die vor Schmidts Schreibtisch standen, legte den Koffer auf seine Knie und warf seinem Freund einen argwöhnischen Blick zu.
„Und was heißt das?“, fragte Schmidt neugierig zurück, beugte sich über die Schreibtischplatte und nahm den Aktenkoffer in Augenschein.
„Ehrlich gesagt, das weiß ich nicht. Ich kenne mich in der Berliner Politik nicht so aus. Ich glaube aber, dass einige Personen aus dem Berliner Senat nervös würden, wenn sie wüssten, dass der Koffer in falschen Händen ist.“
„Wie? Geheime Dokumente und so?“, fragte Schmidt wissbegierig, den es vor Spannung nicht mehr auf seinem Stuhl hielt.
„Kann ich nicht beurteilen. Ich muss jedenfalls die zuständigen Stellen in Berlin über den Fund informieren.“
„Du denkst?“
„Da der Absturz der Maschine schon mysteriös genug ist, wirft der Inhalt des Aktenkoffers noch weitere Fragen auf. Und ich denke, nein, ich bin mir sicher, dass ich bei der Untersuchung etwas finden werde.“
„Das wäre ja ein Ding“, rief Schmidt und ließ sich dabei in seinen Stuhl fallen.
„Ja, das wäre es wirklich“, gab Gerbig zurück und griff zum Telefon. „Ich werde mich jedenfalls in Berlin rückversichern.“
*
Nach einigen Telefonaten stand fest, dass Gerbig den Diplomatenkoffer direkt nach Berlin bringen sollte. Ein Beamter vom LKA würde den Koffer übernehmen und nach Prüfung des Inhaltes würden weitere Schritte eingeleitet werden.
Missmutig warf Gerbig, nachdem er das letzte Gespräch geführt hatte, den Hörer auf die Gabel und schaute Schmidt grimmig an. „Das hab ich nun davon. Jetzt kann ich noch einen Schwenker über Berlin machen. Ich hätte den Koffer besser mit nach Hause nehmen sollen. Na ja, wer dumm fragt … flieg ich halt über Berlin“, hängte er scherzhaft an und stellte den Aktenkoffer neben dem Schreibtisch ab. „Ich möchte jetzt einen Kaffee … einen extrem heißen Kaffee.“
Schmidt lachte. Er stand auf und holte Gerbig wie auch sich selbst eine große Tasse dampfenden Kaffee. „Ist schon seltsam. Alles in der Maschine ist verbrannt, nur der Koffer nicht“, murmelte er, reichte Gerbig seine Tasse und schaute dabei den ramponierten Aktenkoffer argwöhnisch an.
„Na, so seltsam ist das auch nicht. Er war mit Sicherheit in einem der Staufächer untergebracht. Bei dem Absturz, bei dem die Außenhaut aufgerissen wurde, ist er hinausgeschleudert worden. Wir haben sogar das Bordbuch gefunden, das nur bis zur Hälfte verkohlt ist.“
Schmidt sah sich den Koffer über den Rand seiner Tasse hinweg an. Schlürfend, mit kleinen Schlucken trank er den heißen Kaffee und schüttelte unmerklich den Kopf.