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Fernes Tcholliré

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Gott allein weiß, warum das Blut unserer Eltern unsere weichen Herzen so stark bewegt, warum wir, die vernachlässigten Töchter oft diejenigen sind, die sich an unsere Eltern so eng gebunden fühlen! Jahrelang flossen aus meinen Augen bittere Tränen, bis ich nicht mehr wusste, warum ich so viel unter der Schuld am Tod meines Vaters zu leiden hatte! 1995 brachte der letzte Tropfen das Fass zum Überlaufen!

Es war gegen Ende jenes Jahres. Seit Papas Tod in Tcholliré waren inzwischen sechs Jahre vergangen. Aber die Vorstellung, dass er – wie meine sehr sensible Tante Mintya es immer wieder betonte – »seinen Kindern zuliebe einen Mord beging, den er gar nicht begehen wollte«, quälte weiter mein sehr waches Gewissen. Ich war einem Zusammenbruch nah, als ich entschied, nach Tcholliré zu fahren, zu diesem geheimnisvollen Ort, an dem mein Vater wie ein Heimatloser aus dem Leben schied. Ich wollte Papa um Verzeihung bitten, ihm alles beichten, was ich, seine älteste Tochter zu seinen Lebzeiten falsch gemacht hatte! Oh Gott, wer hatte eigentlich etwas falsch gemacht? Ich oder Papa? Den armen Geist des vernachlässigten Geschöpfes, das ich damals war, verwirrte diese Frage jedes Mal. Aber heute, heute weiß ich, dass ich mir mit dieser Beichtabsicht Unrecht tat!

Ich werde nie die aufregendsten Augenblicke jenes Reisetages vergessen. Zum ersten Mal in meinem Leben machte ich mich auf den Weg in den Norden unseres Landes. Es war kurz vor achtzehn Uhr. Ich hatte schon die Fahrtstrecke Ebolowo’o – Yaoundé hinter mich gebracht, stand voller Hoffnung am Bahnhof Yaoundé und betrachtete die noch stehenden Waggons des Nachtzuges, der uns nach Ngaoundéré fahren sollte. Er hatte schon dreißig Minuten Verspätung, als die Lokomotive mit einem Hupen die Abfahrt meldete. Mein sonst langsam klopfendes Herz begann schnell zu schlagen, was ich zunächst als normale innere Aufregung empfand. Doch als die Lokomotive zum zweiten Mal hupte, kam mir meine Reiseabsicht so sinnlos vor, dass mich das törichte Gefühl ergriff, ich sei nichts anderes als eine Schlafwandlerin.

Es war wie in einem Alptraum! Das letzte Hupen unseres Zuges hörte sich wie das drohende Gebrüll eines zornigen Elefanten an, dieser Zug, den ich mir so sehr herbeigewünscht hatte! »Endlich!« »Endlich!«, riefen die ungeduldigen Reisenden, die sogleich zu ihren Waggons liefen. Ich aber zögerte, fragte mich, was ich so spät und allein auf einem Bahnhof in der Hauptstadt, weit weg vom Süden zu suchen hatte, während meine Stiefbrüder, für die mein Vater wirklich gestorben war, sich im Dorf auf die kommenden Schlafstunden in ihren Bambusbetten freuten. Noch schwerer wurden meine Schritte, als mir erneut die bittere Wahrheit durch den Kopf schoss, dass ich von Papas 29 Kindern das allererste war, das er mit einer seelisch verkümmernden Mutter im Stich gelassen hatte! »Mein Gott warum? Warum muss ausgerechnet ich, das wirklich verlassene Kind, auch jetzt das erste sein, das Papa an seinem Grab alles beichtet?« Ich konnte nur noch den Kopf schütteln. Und kopfschüttelnd stieg ich in einen Zug, dem von vorneherein ein Stein im Weg lag.

Vom Süden in den Norden Kameruns ist der Weg sehr lang, insgesamt 1500 Kilometer, und nicht ohne Gefahren. Man fährt 700 Bahnkilometer die ganze Nacht durch. Mit Buschtaxis kann man 500 Kilometer weiter nach Norden fahren. Danach – bis zur Nordgrenze – findet man schwierig Fahrgelegenheiten. Wer wie ich von Ebolowo’o kommt, muss fast das ganze Land durchqueren. Die Nachtfahrt mit dem Zug von Yaoundé nach Ngaoundéré ist die anstrengendste. Entgleisungen und Kurzschlüsse kommen oft vor, eine Gelegenheit für Diebe, die Reisenden zu überfallen. Die anschließenden Fahrten mit Buschtaxis sind auch nicht ohne Risiken. Bei einer Panne kommen manchmal kriminelle Banden von überall, les coupeurs de routes. Oft drohen sie den Reisenden mit Waffen, wenn sie sich weigern, ihnen Geld zu geben.

»L’argent!«, flüsterte mir ein Mann mit einem Messer in der Hand ins Ohr. Es war ein stämmiger Mann fast im mittleren Alter, mit dem ich mich bisher in gelassener Stimmung unterhalten hatte. Er war in Nanga-Eboko eingestiegen und hatte sich gleich zu mir gesetzt. Ich saß in einem dieser Züge, die auf unserer schmalen Schienenlinie auffällig langsam fahren. Ich hatte noch den langen Weg nach Tcholliré über Ngaoundéré vor mir, den Weg bis ins Gefängnis, hoffte, man würde mir dort sagen, wo man die Gefangenen beerdigt hatte, die 1989 im Gefängnis verhungert waren. Neben ihren Leichen soll die Leiche meines Vaters gelegen haben. Es war einer der Gefängniswärter Tchollirés, der meinem Großvater Otam dies über den Vermittlungsdienst von Ebolowo’o mitteilte. Er stammte aus dem südlichen Dorfkreis Ma’an und soll Papa in Tcholliré kennengelernt haben.

Wir waren in der Nähe von Belabo, blieben dort wegen eines großen Steins stecken, den eine Räuberbande auf die Schienen niedergelegt hatte. Mit einer zitternden Hand zog ich mein Portemonnaie aus der Handtasche, hielt es noch unentschieden in der Hand, als der Mann es wegriss. Er blieb weiter sitzen, aber nur kurz. Plötzlich stand er auf und ging. Wohin? Das weiß ich bis heute nicht!

Ich saß nun allein in dem Waggon, hatte kein Geld mehr, getraute mich auch nicht, in diesem unheimlichen Zug jemanden anzusprechen, weil ich das Gefühl hatte, darin säßen viele Diebe. Aber es war selbstmörderisch, weiter in diesem Waggon allein und schweigend zu sitzen. Auch ich stand auf, wollte mich aber gleich wieder setzen, als ich merkte, dass der nächste vordere und hintere Waggon kein Licht hatten. Doch ich fasste Mut, ging zunächst langsam nach vorne, lief dann schnell von einem Waggon zum anderen, »Oh voleur! Oh voleur!« rufend, bis ich dort hielt, wo ich viele Leute in einem beleuchteten Waggon fand.

Ich stand nun im dritten Waggon, keuchte vor Frauen und Kindern, die auffällig ähnlich aussahen. Gleich vor mir saß eine alte Frau, drei kleine Kinder riefen sie »Na«. Rechts von dieser alten Frau saß eine junge Frau, die Kinder riefen sie »Mma«, wahrscheinlich die Tochter der alten Frau.

»Sag mal! Was war das für einer?«, fragte die junge Frau.

»So ein Kleiner«, antwortete ich.

»Braun? Dunkelbraun?«

»Ja. Habt ihr ihn gesehen?«, fragte ich hoffnungsvoll.

»Eben, eben ist so einer ausgestiegen. Das war schon merkwürdig. Da draußen ist nur Wald und Dunkelheit, und pinkeln kann man hier drin«, bemerkte sie.

»Den finde ich nicht mehr. Er ist mit meinem Portemonnaie weg«, sagte ich verzweifelt.

»Das gibt’s nicht! Warum hast du nicht sofort laut geschrien?«, fragte mich die alte Frau.

»Er hatte ein Messer. Er wollte mich töten. Wir waren ganz hinten.«

»Warst du allein mit ihm in dem Waggon?«, forschte die Alte.

Ich wollte »nein« sagen, weil ich schon ahnte, worauf sie mit ihrer Frage hinaus wollte. Aber ich kann nicht lügen.

»Ja«, erwiderte ich.

»Warum lasst ihr jungen Mädchen euch immer gleich auf fremde Männer ein? Das ist leichtsinnig! Zu leichtsinnig! Der ist schon weg! Und du? Was machst du nun?«

Ich schwieg, aber nicht, weil ich nichts mehr zu sagen hatte, sondern weil es einfach keinen Sinn hat, manchen Alten zu widersprechen. Für sie war ich nichts anderes als eine Hure, die ein Unbekannter beklaut hat. Alles andere, was ich ihr erzählt hätte, hätte sie bloß als eine Lüge empfunden.

»A sya Sita, A sya Sita«, bedauerte die junge Frau. »War es viel Geld?«, fragte sie.

»30 000«, antwortete ich.

»Gott! So viel?«, staunte die Alte.

»Armes Mädchen! Warte auf die Zugbegleiter! Sie sind da vorne, bei den Gleisarbeiten, dort, wo du Taschenlampen siehst. Sprich den ersten an, der zurückkommt«, riet mir die junge Frau.

»Oh nein, lieber nicht. Lieber nicht.«

»Wieso nicht?«

»Ich habe kein Ticket mehr. Es war in dem Portemonnaie. Das darf keiner von ihnen erfahren. Sonst machen sie Probleme!«

»Wieso? Man hat es dir gestohlen. Das müssen sie sogar erfahren!« bekräftigte sie.

»Nein nein nein … Oh Gott, was soll ich tun? Ich muss zurückfahren …, ich fahre nach Yaoundé zurück. Ich steige in Belabo aus. Ich werde trampen. Ich habe keine Wahl …«, entschied ich in diesem Augenblick großer Verzweiflung.

»Oooh! Oooh! Das finde ich noch gefährlicher! Es ist bald Mitternacht!«

»Lass sie tun, was sie will. Es gibt Mädchen, die Abenteuer mögen«, schloss die Alte.

Ich setzte mich links von dieser anscheinend sittenstrengen alten Frau und schaute durch das Fenster. Ich sah nichts als Dunkelheit. Die Zugbegleiter waren schon im Zug. Ich fühlte, wie Trauer tief in meinem schnell klopfenden Herzen saß. Ich wollte laut, ganz laut weinen, aber ich hatte Angst vor den Zugbegleitern. Sie wären gleich zu mir gekommen und hätten mich gefragt, warum ich weine. Gerade das wollte ich nicht. Ich versuchte, mich zu beherrschen. Als der Zugfahrer mit einem Hupen das Ende der Gleisarbeiten meldete, traten mir Tränen in die Augen. »Ouf! Ouf!«, rief die junge Frau erleichtert. Ich war völlig verzweifelt.

Die nächste Haltestelle war Belabo. Ich stieg als Erste aus, besorgt und erleichtert zugleich. Ich war den Kontrolleuren aus dem Weg, fühlte mich aber in der fortgeschrittenen Nacht jedem Mann ausgesetzt. Am Bahnhof sah ich nur Männer. Ich prüfte ihre Gesichter, ging unsicher zu dem nächsten, um ihn zu fragen, ob man in dieser Stadt um diese Zeit Fahrgelegenheiten nach Yaoundé findet und ob man überhaupt hier trampt. Es war verrückt, was ich da vorhatte. Aber die Engel Gottes sind überall in unseren Städten. In diesem Augenblick traf ich wie im Traum meinen früheren Lehrer aus Elat. Überrascht sah er mich an und fragte mich, was ich hier zu suchen hatte. Mit Tränen in den Augen erzählte ich ihm von dem Diebstahl. »Oooh! Das tut mir aber leid! Das tut mir wirklich leid!«, bedauerte er. »Aber sei froh, dass du noch am Leben bist! Er hätte dich auch töten können! In diesen Zug steigen unterwegs viele Diebe ein. Nie wieder allein mit einem fremden Mann in einem Waggon sitzen! Was nun? Ich habe nicht viel Geld. Gut, ich schlage vor, dass du sofort nach Yaoundé zurückfährst, sonst findest du keine Gelegenheit mehr. Es ist fast Mitternacht«, sagte er, während er Geld aus seiner Hosentasche holte. Zehntausend Fcfa. »Träume ich?«, fragte ich mich. Nein, es war kein Traum, es war wirklich Geld, Scheine, zehntausend Fcfa. Welch eine Erleichterung! Ich dankte ihm, diesem guten Engel Gottes, den ich nie vergessen werde. Ich dankte als nächstem Gott, der für diese zufällige Begegnung gesorgt hatte. Als ich meinen Retter in den Zug steigen sah, verlangte es mich, meine Reise fortzusetzen. Er wollte seinen Bruder in Maroua besuchen. Mein Weg war nicht so weit, Tcholliré liegt zwischen Ngaoundéré und Maroua. Ich hatte leider nicht genügend Geld. Mit zehntausend Fcfa wäre ich nur hin-, aber nicht zurückgekommen. Außerdem hatte ich noch Angst vor diesem Zug, konnte noch dieses scharfe Messer auf mich gerichtet sehen, nur weil ich mit meinem verstorbenen Vater sprechen wollte. Ich hatte keine Wahl, musste zurückfahren. Zum Glück genügten die zehntausend Fcfa für die Fahrstrecke Belabo – Ebolowo’o über Yaoundé.

Ich fand gleich hinter dem Ausgang ein Taxi, das mich in die Station der Buschtaxis ins Stadtzentrum brachte. Dort fand ich noch eine Fahrgelegenheit nach Yaoundé, wahrscheinlich die letzte.

Es war ein kleiner weißer Bus. In diesem Bus sah ich keine Frau. Mir kam dieser Transportwagen wie mein Grab vor. »Muss ich wirklich sterben, nur weil ich mit meinem toten Vater sprechen wollte?«, fragte ich mich wieder. Ich stieg in den Bus ein, bat Gott um einen neuen Schutzengel und kehrte in derselben Nacht nach Yaoundé zurück.

Es dämmerte schon, als wir in Yaoundé ankamen. Dort stieg ich in das erste Buschtaxi ein, das sogleich nach Ebolowo’o abfuhr.

Was nun? Ich wusste es nicht recht. Die Zeit sollte wieder entscheiden. Tage, Nächte, Wochen, Monate und Jahre vergingen, inzwischen sind es neun Jahre, ja, seit insgesamt fünfzehn Jahren belastet mich das Gefühl, am Tod meines Vaters schuld zu sein.

Ich musste etwas tun, um mich endlich von diesen Schuldgefühlen zu befreien, und ich wusste, dass nicht meine Verwandten, die (um sich die Hände zu waschen) mit dem Finger auf uns, Papas Kinder zeigten, mich davon befreien werden, sondern ich allein. Daher entschied ich, etwas zu tun, das kein Kind gern tut. Kinder reden ungern über die Versäumnisse ihrer verstorbenen Eltern. Nicht zu Unrecht. Es gibt nichts anderes auf dieser Welt, was ein Kind so schwermütig machen kann wie die Erinnerung an die Fehler seiner verstorbenen Eltern. Aber wenn ich weiter schweige, werde ich nie wieder reden können, dann werde ich wie meine Mutter schweigen. Gerade das will ich nicht, weil ich schon Kinder habe, die mich reden hören wollen.

Aber ich fürchte, dass das Schweigen mächtiger als der Mensch ist, dass es sich im Menschen durchsetzt, wenn er völlig erschöpft ist. Ich muss mich schon jetzt so sehr aufraffen, um etwas zu sagen! Aber bevor ich endgültig schweige, werde ich, so weit ich es noch kann, alles sagen, was mich im Leben so bedrückt hat. Ich werde alles sagen, was ich über meine Familie weiß und was ich, Papas ältestes Kind, in dieser Familie empfunden habe.

Salomos Söhne

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