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Die Wurzel allen Gräuels
ОглавлениеFreundschaft geht über Verwandtschaft. Gott sei Dank! Was wäre ich heute ohne meinen Mann Zanga? Meine Eltern, Großeltern und Urgroßeltern sind schon tot. Mama starb 1992, körperlich und geistig erschöpft von allem, was ihr in der Ehe widerfahren war. Mit meinen Stiefmüttern und Stiefgeschwistern kann ich nichts anfangen, weil wir sehr verschieden sind. In Wirklichkeit ist Zanga mein einziger Freund. Er ist immer da, wenn ich ihn brauche. Das tut mir, seiner schwermütigen Frau, so gut!
Ich bin heute fünfunddreißig und lebe seit Ende 1995 wieder in der kleinen, südlichen Stadt Ebolowo’o, selbstverständlich mit Zanga, dem ich Zwillingstöchter geschenkt habe, aber auch mit einer alten Erinnerung an meinen verstorbenen Großvater, seinem Papagei Jakob. Jeden Morgen krächzt er, ruft uns mit Namen, Odooo, Zongooo, Onooo, Motooo, immer und immer wieder, Rufe, die mir wie eine Warnung im Ohr klingen. Denn immer, wenn ich Jakob höre, erinnere ich mich an diese bitteren Geschichten Mbaangoks, die mich jedes Mal so abschrecken, dass ich über alles nachdenken muss, was mir bisher im Leben widerfahren ist.
Eines Morgens riss er uns aus dem Schlaf. Er krächzte laut wie nie zuvor. Im Bett, neben Zanga liegend, wachte ich auf und merkte, dass es draußen schon hell war. Die lauten Stimmen der vorübergehenden Marktfrauen erreichten uns. Dann, plötzlich, wurde alles still. Ich hörte nichts mehr, sondern dachte nur noch an sie, an meine Mutter, die mein Vater verfluchte, als sie mich gebar.
Ich kam in Mbaangok zur Welt. Mbaangok, der gute Fels, war in meinem Geburtsjahr 1970 nicht mehr das, was sein Urname Mbaakok ausdrückt. Seine Felsen waren voller Moos und Würmer, umgeben von wildwachsenden Pflanzen. Ein Fluss und seine vielen Bäche versorgten die Dorfbewohner weiter mit Wasser, aber auch mit allerlei Schlangen, die immer wieder zur Bestürzung der Fischer an der Spitze ihrer Angelschnur hingen. In den Bäuchen dieser Schlangen fanden sie ihre Beute, diese langen, dunklen Fische, die Welse, die so selten in Mbaangok geworden waren. Die Jäger dagegen töteten immer mehr wilde Tiere, die in den verwildernden Felsen Zuflucht suchten. In ihren Hütten am Rande ihrer weiten Felder waren die Bauern nachts diesen wilden Tieren ausgesetzt. Eine Nacht in einer Hütte endete manchmal mit dem Tod. Ebenfalls ohne Schutz waren ihre Frauen, die in den Hütten ihre Kinder gebaren und die toten Kinder nach einer missglückten Geburt in der Erde ihrer in der Nähe liegenden Felder begruben, bis die Bauern sich irgendwann gezwungen sahen, ihre Hütten zu verlassen.
Häuser aus Lehm, Pfählen und Bambus wurden die neue Zuflucht der Dorfbewohner Mbaangoks. Genau in einem solchen Haus, im Schlafzimmer meiner Eltern, in Gegenwart von Vamba und Opa erblickte ich das Licht der Welt. Papa war in Ebolowo’o. Meine Großmütter Zongo und Ekombo, Opas Frauen, waren schon aufs Feld gegangen, als Mamas Wehen einsetzten. Sie hatte kurz davor viel Wasser verloren. Stundenlang lag ich in einem trockenen Mutterkuchen, während meine Mutter Blut und Wasser schwitzte. Ohne Vamba und Opa wäre ich (das vermutet man) im Bauch meiner Mutter erstickt. Irgendwann fiel Vamba ein Kraut ein, das einigen Frauen im Dorf die Geburt erleichtert hatte. Er schickte Opa in den Wald, um dieses Kraut zu suchen. Wie meine Mutter erzählte, war es eine seltene Pflanze mit einem ungewöhnlich bitteren Geschmack. Zum Glück hatte Opa diese Pflanze gefunden.
Weh mir! Mein Vater soll bitter enttäuscht gewesen sein, als Opa und Vamba ihm noch an der Tür verrieten, dass ich ein Mädchen war. »Ein Mädchen bringt Spott, Gelächter und Pein, ein Sohn dagegen verleiht einem Mann Würde.« So dachten früher meine Ahnen. Das dachte auch mein Vater. Für Papa war ich kein Grund zur Freude. Lieber Vater, hättest du damals nur geahnt, wie viel du mir bedeutetest, hättest du nie so etwas gesagt!
Wenn ich nur wüsste, was im Kopf eines Vaters vorgeht, der glaubt, ein Mädchen sei eine Schande! Vor wem schämt er sich? Vor Menschen, die noch von unserer Ahnenzeit schwärmen und den Eindruck erwecken wollen, sie leben in unserer Zeit? Was mich noch trauriger macht, ist, dass viele Frauen keine Mädchen haben wollen, weil sie das Gefühl haben, sie seien die Ursache für jene Schande, die das Leben ihrer Männer zerschmettert. Sind es nicht diese Mädchen, die später Frauen werden und Jungen gebären? Ich wollte weglaufen, meine Eltern verlassen, als mir klar wurde, dass ich meinem Vater nichts bedeutete, nur weil ich ein Mädchen war. Aber ich tat es nicht, weil es letztendlich Papa war, der mir das Leben geschenkt hatte, vor allem aber, weil meine Mutter mir immer zu verstehen gab, dass es Frauen gibt, die gern Frauen sind und bei aller Ahnenliebe zu ihren Töchtern halten, wie zum Beispiel sie.
Für Mama war ich ein Wunschkind. Meine Geburt war, das sagte sie immer, das glücklichste Ereignis ihres Lebens. »Wie gern hätte ich dir eine niedliche kleine Schwester und einen netten Bruder geschenkt!«, sagte sie eines Tages zu mir. »Aber, Liebste, glaub mir: Ich lasse dich nie allein. Ich verspreche es dir: Ich verlasse dich nie, niemals!«
Ein großes Versprechen! Mama hatte es viele Jahre lang gehalten! Achtzehn Jahre lang hatte meine Mutter zu mir gehalten! Aber ihr Kummer war so groß, dass sie eines Tages ihren Koffer packte und mich in Mbaangok ließ.
In den ersten Monaten ihrer Ehe schwelgte meine Mutter im Wohlstand, bekam von Papa alles, was sie wollte. Sie hatte in Mbaangok ein geräumiges Haus und eine große Küche, teilte sie mit ihrem Mann, meinem Vater, mitunter mit Kindern der Verwandtschaft, die im Urlaub zur Erholung ins Dorf kamen und ihr Gesellschaft leisteten. Das waren die guten alten Zeiten meiner Eltern. Finanziell ging es meinem Vater gut, er hatte große Kakaofelder und große Pläne, Papa war sehr ehrgeizig.
Die Dinge haben leider ihre Ordnung, die Zeit ihren Lauf, der Wind seine Richtung. Aber der Mensch dachte sich seine Ordnung aus, bestimmte seinen Lauf und wählte seine eigene Richtung. Und immer wieder musste er feststellen, dass er nicht derjenige war, der das letzte Wort hatte. So suchte er weiter nach der Ordnung der Dinge, hinkte dauernd hinter der Zeit her, lief immer den Winden davon.
Sie lief ihrer Ehe davon, nach acht Monaten Eheglück und achtzehn Jahren eines unglücklichen Familienlebens. »Ich wollte gleich nach deiner Geburt weggehen, weit weg von ihm, aber ich wollte dein Glück, ich wollte dich glücklich sehen, ich wollte dir die bittere Suche nach einem Vater ersparen … Ich habe deinen Vater am Anfang so geliebt, doch nur kurz, nach deiner Geburt fühlte ich nichts mehr für ihn.«
Ein großes, aber zu kurzes Eheglück für eine Frau wie meine Mutter, die damals an die große und ewige Liebe glaubte. Mit mir hatte sie nur noch das Mutterglück, das Eheglück war schnell vorbei, aus wie ein Licht. Es kehrte nie wieder zurück!
»Irgendwann stieg Wut in meinem Herzen auf, ich konnte seine Herzlosigkeit nicht ewig hinnehmen. Für mich war dein Vater kein Mensch, sondern ein gefühlloses Tier, denn ein Mann, der ein neugeborenes Kind, sei es Junge oder ein Mädchen, so herzlos, so gefühllos auf den Schoß nimmt, es dann achtzehn Jahre lang vernachlässigt, der verdient keine Liebe von einer Frau.«
Ich hatte Schuldgefühle, dachte, dass mein Geschlecht an allem schuld wäre, dass ich die Wurzel allen Gräuels sei. Ich erinnerte mich an das verlorene Paradies, an Eva, die Urfrau, die (das sagte mir meine Mutter eines Tages) die Hauptschuld für den Kummer aller Frauen trug, weil sie ihren Lebensgefährten Adam in die Sünde bis zum Tod verführte. Alle Frauen mussten nun ihre Schuld weiter tragen. Die Frauen Mbaangoks wurden deswegen gefoltert. Evas Fluch traf, nur Gott weiß warum, die Frauen im Süden Kameruns hart. Meine Ururgroßeltern kannten das Alte Testament nicht, aber auch sie glaubten, dass eine Frau immer am Tod ihres Mannes schuld sei. In Mbaangok folterten sie die Witwen deswegen, beerdigten sie lebendig in den Gräbern ihrer Männer. Zum Glück kam meine Mutter später zur Welt!
Mama ist 1956 geboren. Die Missionen waren schon im Süden des Landes. In Mbaangok sah man die ersten Missionare gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts. Sie kamen mit der Botschaft Christi, predigten die Vergebung der Sünden aller Menschen. »Es war das erste Mal, dass man hier Weiße sah«, berichtete meine Mutter. »Die Leute nannten sie Nanga Kon, die Außerirdischen, hatten Angst vor ihnen, weil sie so weiß waren. Auch die Missionare hatten Angst, weil sie die Schwarzen nicht kannten und keine ihrer Sprachen verstanden. Aber sie waren auf ihre Mission so gut vorbereitet, dass es ihnen gelang, mit der Bibel viele zu bekehren, die sie hier fanden. Hier, in Mbaangok, wo man Witwen lebendig beerdigte, predigten sie den Leuten, dass es im Buch Moses ein Gebot gibt, das die Vergeltung erlaubt, das aber seit Christi Tod nicht mehr gültig ist. Damit meinten sie, dass alle, die die Witwen weiter folterten, später vor dem Gericht Gottes ihre Taten zu verantworten haben. Seitdem hat man in Mbaangok keine Witwe mehr lebendig begraben. Die Alten sagen, dass die letzte Witwe, die man lebend beerdigte, 1912 starb.« – »Was machte man mit ihren Kindern?«, forschte ich. »Wenn eine Witwe Kinder hatte, vertraute man sie den Verwandten ihres Mannes an.« – »Und wie war’s, wenn eine Frau vor ihrem Mann starb?« – »Der Mann durfte weiter leben. Er war ja keine Frau, sondern ein Mann.«
Ich war froh, dass meine Mutter zu einer besseren Zeit zur Welt gekommen war. Nur: Sie war in ihrer Ehe so verbittert, dass ich mich fragte, ob es jemals auf dieser Welt eine bessere Zeit für Frauen geben wird. Sie hasste Papa mehr als sie ihn liebte, nahm es ihm übel, dass sie unglücklich war, gab ihm die Schuld an allem. Ich weiß, meine Mutter hätte meinen Vater nie ermordet, aber ich glaube, sie hätte (in jenen Augenblicken der großen Verzweiflung) ihn gern lebendig begraben gesehen! Sie war 1992 schon sehr krank, als ich sie eines Tages in ihrem Zufluchtsort Bangi besuchte. Ich lag mitgenommen neben ihr in ihrem Bett, als ich sie etwas Fürchterliches murmeln hörte: »Möge er in Mbaangok als Fisch zurückkehren, die Schlangen dort werden ihn fressen und zur Hölle schicken.« Plötzlich zuckte mein Herz heftig. Ich fürchtete, meine Mutter hätte kein Herz mehr. Erst als ich Tränen in ihren Augen sah, verstand ich, dass ihre Gefühle für meinen Vater immer noch unklar waren, dass ihre Liebe zu ihm noch nicht tot war und dass diese Hassliebe, unter der auch ich litt, wahrscheinlich nie sterben würde.
»Er ist im Himmel«, war die Antwort, die ich immer gab, wenn die Leute mich nach meinem Vater fragten. Es war keine eindeutige Antwort, keiner wusste, ob ich meinen leiblichen Vater oder den lieben Gott meinte. Diese Antwort half mir, so wenig wie möglich über meinen Vater zu reden, denn oft folgten keine weiteren Fragen.
Ich ließ die Leute ahnen, was sie wollen. Wer ahnte, dass ich den lieben Gott meinte, der verstand mich. Wer aber ahnte, dass ich meinen leiblichen Vater meinte, der verstand nur den Christen, denn Jesus befreite die Toten von ihren Sünden und ließ ihnen die Pforte zum Himmel offen. Es war leider eine enge Pforte … Auch ich habe Papa alles verziehen und ihm eine gute Himmelsfahrt gewünscht, als ich die Nachricht von seinem Tod gehört habe. Ich weiß nun nicht, ob Papa einen Platz im Himmel bekommen hat, aber ein Mann wie mein Vater, der Tate hieß, durfte solch ein Ziel nicht verfehlen, denn Tate bedeutet im weitesten Sinne erhabener Gott.
Ich ging mit achtzehn nach Mbyo, in eine Mission der katholischen Schwestern, nicht weit von Yaoundé. Oh, eine Mission, das muss ich hier vorwegnehmen, dort versammeln sich nicht nur Heilige, sondern allerlei Menschen. Sie sprechen viel über Gott, preisen seine Schöpfung, aber sehnen sich auch nach seinen Geschöpfen. Was ein hübsches Mädchen wie ich in einer Mission zu suchen hatte, war eine Frage, die mir am Anfang dort viele stellten. Ehrlich gesagt, es gab andere schöne Mädchen in dieser Mission, deswegen wunderte ich mich immer über diese Frage.
Ich schwieg, dachte, die Frage käme zu früh, weil ich noch nicht über den Tod meines Vaters hinweg war, weil ich noch zu schwach war, um über mein Schicksal zu reden. Aber auch heute, wo ich nicht nur über den Tod meines Vaters, sondern mittlerweile auch über den Tod meiner Mutter reden kann, wage ich nicht, diese Frage zu beantworten.
Es stimmt schon, dass ich, wie einige Verwandte es meinen, nach einem Vater suchte, nach einem erhabenen Vater, nach Gott, eine Suche, die meine Mutter mir trotz ihres guten Willens nicht ersparte. Ich suchte Gott, weil Papa, mein leiblicher Vater, weit weg von mir war. Eine weitere, mögliche Antwort wäre, dass ich Hilfe suchte, eine Stütze, eine Zuflucht. Ich sehnte mich so danach, nach etwas, was ich von meinen Eltern, besonders von meinem Vater zu wenig bekam! In Papas Reich habe ich keine Geborgenheit empfunden.