Читать книгу Salomos Söhne - Philomène Atyame - Страница 8
Trostlos gute alte Zeiten
ОглавлениеEs gibt immer noch viele unverständliche Dinge auf dieser Welt. Zu diesen Dingen zählen jene Unglücke, die sich meistens plötzlich ereignen und den wenigen guten Männern auf dieser Erde widerfahren. Das größte dieser Unglücke ist der Tod ihrer Frauen nach einer schwierigen Geburt. So starben die Frauen meiner Vorfahren. Ich soll an diese Frauen erinnern, um die Missetaten meiner Eltern nicht ohne ihre Ursachen bloßzulegen, um überhaupt das Rätsel zu klären, warum Übeltaten in unseren Bräuchen noch so tief verwurzelt sind.
Mein Urgroßvater Obeme be Afane, den wir Vamba nannten, war eine Ausnahme: er hatte nur eine Frau.
Sie starb genau sieben Jahrzehnte vor dem Todesjahr meines Vaters. Es war im Jahre 1919. Abiaye Abe, der wir Urenkel heute mit dem Würdentitel der Ahninen »Nane« gedenken, war erst dreißig, hatte kaum gelebt. Ihr Name erinnert an die Leiden unserer Ahnen. Dieser Name machte alle, die ihn zum ersten Mal hörten, neugierig, versammelte an vielen Orten im Süden Kameruns immer und immer wieder Kinder, die etwas über die Geschichte dieser Ahnin wissen wollten. Da war mein Urgroßvater, ein schweigsamer Witwer, in seinem Geburtsort Mbaangok sehr gefragt. Aber nach dem Tod seiner geliebten Frau wollte er mit niemandem mehr sprechen, nicht einmal mit uns, seinen Urenkeln, die er über alles liebte.
Er reiste oft zwischen Mbaangok und Ebolowo’o in Begleitung meiner Mutter, um, wie ich später erfuhr, meine Stiefgeschwister zu besuchen, aber auch wegen seiner Augen und seines Rückens. Er hatte von den Feldarbeiten starke Rückenschmerzen und wegen seines Alters schwache Augen. Es waren die Ärzte von Enonga, einem Stadtteil Ebolowo’os, die ihn behandelten. Sie hatten damals einen guten Ruf und waren sehr bekannt für die Behandlung von altersbedingten Erkrankungen.
An einem Abend in Ebolowo’o, in dem bekannten Stadtteil Elat (Vamba Obeme und meine Mutter waren gerade vom Krankenhaus zurückgekehrt), versammelte mein Ahne, der kaum noch sehen konnte, seine Urenkel, meine Stiefgeschwister in einem der geräumigen Häuser unseres Vaters in diesem Stadtteil. Achtundzwanzig waren dabei, nur ich fehlte. Ich blieb in Mbaangok, wie meine Mutter es mir vorschrieb, genoss zuhause die Besuche von Opa Otam, meinem Großvater, der nur einige Schritte von uns entfernt wohnte und mir fast jeden Abend alte Weisheiten, Märchen, Geschichten über gute und schlechte Zeiten, Fabeln und alte Volkslieder beibrachte. Mein Urgroßvater bedauerte meine Abwesenheit sehr. Daher bat er meine Mutter, zurück in Mbaangok, mich über alles zu unterrichten.
Zwei Tage nach dem Familientreffen erfuhr ich alles. Meine Mutter und ich waren auf ihrem Maisfeld und säuberten es mit zwei großen Hacken von Unkraut. Da Reden beim Arbeiten uns immer munter machte, unterhielten wir uns über alles, was uns einfiel. Es war für meine Mutter die beste Gelegenheit, das zu tun, was Vamba Obeme von ihr erwartete.
»Obeme liegt mir am Herzen. Seine Frau war mit mir verwandt, eine Ezakok. Sie stammte aus Meyozo, wo auch ich herkomme. Obeme war so gut zu ihr, dass ich glaubte, alle Männer Mbaangoks wären genau so. Ahnungslos wie ich war, heiratete ich deinen Vater. Ein Fehler, den meine Kusinen aus Meyozo wiederholten, deine Stiefmütter.«
Zunächst abwesend hörte ich sie sprechen. Ich glaubte, sie wollte wieder über Papa jammern, wie sie es so oft tat. Aber irgendwann lenkte sie meine Aufmerksamkeit auf diesen Ort, Meyozo, ihren Geburtsort, zugleich den Geburtsort meiner Stiefmütter, auch den Geburtsort anderer Frauen, die ich in Mbaangok täglich sah.
»Sie hatte einen ungewöhnlichen Namen, Abiaye Abe«, fuhr sie weiter.
»Abiaye Abe?«, fragte ich überrascht.
»Ja«, antwortete sie.
»Die Geburt des Bösen?«, übersetzte ich.
»Ja.«
»Mama, warum hatten die Leute früher solche Namen?«, fragte ich lachend.
»Dein Urgroßvater ist derjenige, der dir besser antworten kann. Aber vorgestern hat er mich gebeten, euch allen, seinen Urenkeln, Abiaye Abes Geschichte zu erzählen«, erklärte sie.
»Waren alle da?«, forschte ich weiter.
»Nein, Liebste, du warst ja nicht dabei.«
»Das weiß ich. Ich meine die anderen.«
»Ja, sie waren alle da«, erwiderte sie. »Es war wie bei einem Schulklassentreffen«, berichtete sie weiter. »Achtundzwanzig Kinder«, sie meinte meine Stiefgeschwister, »saßen eins neben dem anderen, zwischen ihnen saßen dein Vater und ich, und zwischen uns beiden saß Obeme, dein Urgroßvater. Dazu kamen Ozila, Nkouse’e, Ebolo und Kulu, meine vier Kusinen, die dein Vater geheiratet hat. Fast die ganze Familie war da, eine Gelegenheit für Obeme, weiter zu schweigen. Er brach sein Schweigen nur für kurze Zeit, sprach mit mir, nur eine Bitte habe er an mich, mehr wolle er nicht sagen.« Meine Mutter verriet mir alles, was die ganze Familie an diesem Tag hörte, genau wie ich es von meinem Urgroßvater selbst (sehe ich von seinen eigenen Ergänzungen ab) bestätigt bekam. Sehr aufmerksam hörte ich ihr zu:
»Mama, du bist Papas erste Frau«, begann dein Vamba.
»Aber Mama, wieso ruft dich Vamba immer Mama? Auch hier im Dorf rufen dich alle Mama. Warum?«, unterbrach ich sie.
»Weil Obeme damit angefangen hat. Am Tage meiner Hochzeit sagte er zu mir: ›Deinen Mann, der eigentlich Tate heißt, rufen wir alle Papa, weil sein Taufname Tate im engeren Sinne des Wortes Vater bedeutet. Für uns ist er also der Vater der Yemezem, und du bist ab heute unsere Mutter. Deswegen werden wir dich nicht Ella, wie du eigentlich heißt, rufen, sondern Mama.‹ Ich bin für Obeme die Mutter, die Gott für die Leute von Mbaangok bestimmt hat, die Mutter der Yemezem. Und ehrlich gesagt, ich sehe alle Yemezem als meine Kinder. Deswegen fällt es mir sehr schwer, die Alten hier mit Papa, Opa oder Vamba anzureden. Vorgestern hatte ich wieder das Gefühl, auch Obeme wäre mein Sohn. »Mama, du bist Papas erste Frau. Du hast deswegen besondere Verpflichtungen in unserer Familie«, fuhr er fort.
»Ja«, erwiderte ich. Was sollte ich sonst sagen? Ich bin ja nun die erste Frau seines Sohnes.
»Da auch du aus demselben Dorf wie meine Abe stammst, gehe ich davon aus, dass du ihre Geschichte gut kennst.«
»Ja«, antwortete ich wieder.
»Früher, als meine Abe noch lebte, habe ich meinen Enkeln, deinem Mann Papa und seinen Schwestern diese Geschichte gern erzählt. Papa kann es bestätigen. Aber heute kann ich es nicht mehr, ich schaffe es einfach nicht mehr. Kaum mache ich den Mund auf, klingt mir jedes Wort traurig. Seitdem meine Abe tot ist, fällt es mir schwer, über sie zu reden … Ich glaube, ich bin noch nicht darüber hinweg. Ich bitte meine Urenkel deshalb um viel Verständnis. Mama, ich habe eine Bitte an dich: Kannst du den Kindern Abes Geschichte erzählen? Sie dürfen schon davon wissen, der Älteste ist schon acht Jahre alt.«
»Opa, die Älteste, nicht der Älteste. Du meinst doch Ada! Oder?«, fragte dein Vater seinen Großvater.
»Doch Ada, Ada meine ich. Tja, Papa, es ist das Alter, in meinem Alter wird man vergesslich. Aber, ehrlich gesagt, ich weiß nicht, ob es in unserer Familie jemanden gibt, der die Geburtsfolge deiner Kinder gut kennt. Zu viele Kinder auf einmal! Du bist in Mbaangok der erste, der in acht Jahren neunundzwanzig Kinder bekommen hat.«
»Opa, mit fünf Frauen ist alles möglich. Außerdem sind viele Zwillinge dabei und einmal Drillinge!«, bemerkte dein Vater.
»Ja, aber so was tut kein guter Papa«, meinte Obeme mit einer ernsten Miene.
»Opa, das ist Männlichkeit«, erwiderte dein Vater stolz.
»Lass das, Enkelchen. Das wirst du in ein paar Jahren nicht mehr sagen. Es kommt eine Menge auf dich zu … So, mein Lieber, kann Mama jetzt reden?«
Dein Vater hatte mit Obemes belehrenden Bemerkungen zu seiner großen Familie gerechnet. Er war sie schon gewohnt, aber sie ließen ihn nie gleichgültig, deshalb redete er weiter, sprach weiter von Männlichkeit, Zeugungsfähigkeit und Potenz in Gegenwart seiner Kinder, die da saßen und ihn anstarrten.
Aber seine Männlichkeit bedeutet ihm viel, und dein Vater meinte, dass die Bräuche es ihm erlauben, mit seinem Großvater zu scherzen, selbst wenn man sich dabei beleidigt.
»Opa, sollte ich etwa wie du nur eine sterbende Kuh heiraten, mit ihr ein einziges Kind zeugen und am Ende die tote Kuh begraben? Ist es das, was du von mir erwartest?«
Erschrocken sah dein Vamba seinen Enkel an! Ich fragte mich, ob Tate den Verstand verloren hatte. Welcher Enkel in Mbaangok hätte nur einmal gewagt, seinem Großvater so etwas zu sagen? Obeme war tief verletzt, ich sah es ihm an, aber dein weiser Vamba verzichtete auf einen großen Streit.
»Papa«, sagte er enttäuscht, »kannst du, auch wenn du Tate heißt, mich nur eine Sekunde ernstnehmen? Hör mir bitte zu! Ich rede heute wie ein Vater zu dir, und nicht wie dein Großvater, der ich eigentlich bin. Aber ich tue es, weil mein einziger Sohn Otam, dein Vater, es immer versäumt, seine Pflichten zu tun … Ich fürchte …, wirklich, ich fürchte, dass du bald unser König Salomon wirst. Nur, vergiss nicht, dass er seine tausend Frauen und zahlreichen Kinder – ich möchte die Zahl seiner Kinder nicht wissen – versorgen konnte, weil er ein reicher König war! Aber du, was hast du? Allein mit deinen Kakaofeldern schaffst du es nie, Papa, nie, nie und nie! Bitte, denk darüber nach! Außerdem: Ich habe deine Familie heute wegen einer Angelegenheit versammelt, die du schon hättest erledigen können.«
»Ist in Ordnung, Opa«, wagte dein Vater noch zu sagen.
»Das hoffe ich … Außerdem …, ich muss dir noch etwas sagen, bevor Mama zu reden beginnt. Ich versammele euch alle heute wegen Ossounou, deinem fünften Kindes, wenn mich mein Gedächtnis nicht wieder täuscht.«
»Dieses Mal nicht, Opa«, bemerkte dein Vater. Während er unter Tränen lächelte, warfen wir ihm vorwurfsvolle Blicke zu. Nur Ossounou kicherte. Aber Obeme ließ sich nicht weiter stören und sagte:
»Heute, nach dem Mittagessen habe ich mich eine Weile mit Ossounou unterhalten. Da fragte sie mich plötzlich, was ein häßlicher Name wie Abe in unserer guten Familie zu suchen habe.«
»Mein Kompliment, Töchterchen«, rief dein Vater. Ich war außer mir, konnte seine Frechheit nicht mehr aushalten. Abe war für Vamba Obeme alles. Wie konnte Tate in seiner Gegenwart so etwas sagen?
»Mann, wirst du jemals erwachsen sein?«, fragte ich ihn.
Erwachsen? »Es gibt Männer, die nie erwachsen werden. So ist dein Vater!«, sagte meine Mutter immer zu mir. Ich wollte mehr wissen, hörte ihr weiter mit Aufmerksamkeit zu:
Erst nach dieser Bemerkung, die ihn sehr hart traf, schwieg dein Vater. Ich konnte Wut in seinem Gesicht sehen. Seine verkniffenen Lippen und die plötzlich rot gewordenen Augen verrieten seine verletzte Männlichkeit, die ihm selbstverständlich nicht alles, aber doch viel bedeutet. Am liebsten hätte er mich auf der Stelle beschimpft, mich »unfruchtbares Weib« gerufen, aber er schwieg, musste schweigen, weil er keinen großen Streit mit Obeme wollte. Denn, das weiß dein Vater besser als ihr alle, ich bin in seiner Familie die einzige Frau, die sein Großvater mag … Obeme war, ich konnte es ihm ansehen, mit meiner Bemerkung zufrieden. Zu seinem Enkel gedreht, redete er weiter:
»Es war klar, dass meine Urenkel keine Ahnung von ihrem Stammbaum haben. Deinetwegen! Deswegen meine Bitte an deine Frau, das Versäumte zu tun.«
»Gern tue ich es, Vamba«, erwiderte ich.
Auch meine Mutter rief ihn manchmal Vamba, was an sich nicht üblich war, da Vamba zu der Generation ihrer Großeltern gehörte, er also eher ein Opa für sie war; aber in Mbaangok ist der Rufname Vamba ehrenvoller als Opa, etwa wie verehrter Ahne, ein Titel, der meinem Urgroßvater die Würde gab, die er auch verdiente. Meine Mutter versprach meinem schweigsamen Ahnen, seiner Bitte zu folgen. Was sie dann den Kindern erzählte, ist bisher die traurigste Geschichte, die ich von meinen Verwandten aus Meyozo gehört habe:
Ich hörte, wie Obeme einen Seufzen ausstieß, als ich mich zu den Kindern drehte und zu ihnen zu sprechen begann:
Bekolo be Tate Sohn von Tate be Otam, Tate be Otam Sohn von Otam be Obeme, Otam be Obeme Sohn von Obeme be Afane dem Gatten von Abiaye Abe, der Stammbaum geht weiter mit Obeme be Afane Sohn von Afane be Bita, Afane be Bita Sohn von Bita be Zanga … Noch einmal: Bekolo be Tate Sohn von Tate be Otam, Tate be Otam Sohn von Otam be Obeme, Otam be Obeme Sohn von Obeme be Afane dem Gatten von Abiaye Abe, Obeme be Afane Sohn von Afane be Bita, Afane be Bita Sohn von Bita be Zanga … und so geht es weiter. Merkt euch das: Euer Stammbaum erinnert an eure Ahnin aus Meyozo, an Abiaye Abe, die Frau von Obeme be Afane, sie war eine Ezakok. Das müsst ihr euch gut merken, denn es ist selten in der Geschichte der Bulu, dass ein Stammbaum die Namen beider Eltern darstellt. Die üblichen Stammbäume hier bei uns im Süden schließen immer Frauen aus und nennen nur unsere männlichen Vorfahren. Deswegen sagt man, dass euer Stammbaum einen Namen zu viel hat! Er ist auf alle Fälle ungewöhnlich! Aber nicht ohne Grund. Der Name Abiaye Abe ist in den Erinnerungen der Alten dieses Dorfes geblieben, weil er an eine außergewöhnliche Geburt erinnert.
Abiaye Abe bedeutet, das hast du selbst schon gesagt, die Geburt des Bösen. Auch dies hat seinen Grund.
Alles begann mit der sehr schwierigen Schwangerschaft eurer Ururgroßmutter Nkolo Medjo, der Mutter von Abiaye Abe. Sie war epileptisch, wollte trotzdem ein Kind. Sie wurde schwanger, aber das Kind fühlte sich nicht wohl in ihrem Leib. In Meyozo lebte eine Hellseherin, die die schwangeren Frauen bis zur Geburt betreute. Im ersten Monat ihrer Schwangerschaft suchte Nkolo Medjo diese auf. Hocherfreut empfing die Initiierte die Schwangere. Sie sah Nkolo Medjo nur kurz an, dann sagte sie zu ihr, dass ihr Baby keinen guten Eindruck machte, sie deshalb gut aufpassen sollte. »Nichts tun, was man den Schwangeren verbietet, das heißt, keine Reptilien essen, sonst krabbelt dein Baby sein Leben lang; nie quer und nie andersrum im Bett liegen, sonst kommt dein Baby zuerst mit dem Popo oder mit den Füßen; immer Affen aus dem Wege gehen, sonst wird sich dein Kind immer kratzen; kein fließendes Wasser überqueren, sonst hast du eine Fehlgeburt; nie auf dem Bauch liegen, sonst blutest du die ganze Schwangerschaft …« Nkolo Medjo versprach ihr, all das zu beachten. Sie bemühte sich auch darum. Aber sie war epileptisch. Menschen, die diese Krankheit haben, fallen immer wieder in Ohnmacht. Nkolo Medjo war oft allein zuhause. Manchmal, aber sehr selten ging sie mit ihrem Mann Essono Medjo aufs Feld. Oooh! Wehe dem Mann, der damals im Süden unseres Landes nur eine Frau hatte und seinen Verwandten zeigen wollte, dass er seine einzige Frau sehr gern hatte! Essono Medjo ging täglich aufs Feld, damit sie etwas zu essen bekamen. Kein Ezakok half ihm dabei, obwohl er Hilfe brauchte. Wenn Nkolo Medjo einen Anfall hatte, fand er sie immer allein und oft auf der Seite liegend, manchmal dicht am Feuer. Ihr linker Arm hatte zwei große Brandnarben.
Die Ezakok besuchten sie selten, hatten Angst vor ihr wegen der bösen Gerüchte über sie. Viele glaubten, Nkolo Medjos Anfälle wären Hexerei, sie glaubten, dass sie immer mit Hexen in Kon war, wenn sie einen Anfall hatte. Kon ist für die Ezakok der Ort, wo die Toten leben und Sklavenarbeit machen.
Schlimmer war, was sie über Essono Medjo, ihren eigenen Verwandten sagten: »Essono ist einer der größten Männer in Kon, er will seine Frau töten, damit sie mit ihm in Kon lebt. Das ist der Grund, warum sie immer fällt«, meinten sie. Die Ezakok verbreiteten dieses Gerücht im Dorf, um Essono Medjos Ruf zu schaden. Und viele von ihnen glaubten wirklich daran.
Bis heute glauben noch viele Ezakok, es gebe Kon irgendwo in ihrem Dorf. Das glaubte auch Nkolo Medjo damals, aber für sie gab es keine Männer in Kon, sondern nur Hexen. Essono Medjo war im Dorf der einzige Mann, der an diese gruselige Geschichte nicht glaubte. Dafür wurde er aber hart bestraft!
Im dritten Monat der Schwangerschaft Nkolo Medjos kam das, was beide die ganze Zeit befürchtet hatten: eine Blutung, die mit einer Fehlgeburt zu enden drohte. Nkolo Medjo war bei einem neuen Anfall auf den Boden ihrer Küche gefallen. Völlig hilflos lag sie dort auf dem Bauch, glücklicherweise nicht lange. Als sie wach wurde, blieb sie noch eine Weile liegen, bis ihr die Blutflecken auf ihrem Kleid auffielen. Entsetzt stand sie auf und ging zu der Hellseherin.
»Ich habe auf dich gewartet. Es tut mir sehr sehr leid. Du bist auf den Bauch gefallen«, sagte sie zu der Schwangeren.
»Sie wollen mich …, sie wollen mich töten, diese …, diese Hexen von Kon wollen mich …, wollen mich umbringen. Was soll ich tun?«, fragte Nkolo Medjo verzweifelt.
»Beruhige dich, beruhige dich. Ich weiß alles: Sie wollen dich töten. Ich habe diese Hexen mit meinen vier Augen gesehen. Aber eins musst du wissen: Ich verfolge keine Hexen. Ich bin nur eine Hellseherin. Aber ich kann dir einen Rat geben. Lege dich immer ins Bett, wenn du allein zuhause bist, lege dich richtig hin, auf dem Rücken. Geh jetzt, komm morgen früh wieder, wenn das Gras noch Tau hat. Dann behandele ich dich. Mach dir keine großen Sorgen. Dein Mädchen lebt noch.«
»Diese Hexen von Kon, gibt es sie wirklich, wie man erzählt?«, fragte ich meine Mutter.
»Ich weiß es nicht. Ich habe nur zwei Augen«, antwortete sie. »Du, pass auf! Jetzt kommt der Teil der Geschichte, der deinen Geschwistern vorgestern Tränen von den Augen raubte«, bemerkte sie. Ich hörte ihr dieses Mal sehr gespannt zu:
Es war schon Abend. Essono Medjo war vom Feld zurück. Erschrocken sah er seine Frau die Küche betreten.
»Liebste, ist das von dir?«, fragte er, während er auf zwei Blutstropfen auf dem Boden zeigte.
»Ja, ich bin auf den Bauch gefallen, aber das Kind lebt noch. Das sagt die Hellseherin.«
»Gott, ich danke dir. Liebste, ich wusste nicht mehr, wohin. Keiner hier im Dorf wusste, wo du bist.«
Ohne weiteres legte sich Nkolo Medjo ins Bett, auf den Rücken. Es war ein altes Bambusbett, das an jeder Ecke wackelte. Deshalb hasste Nkolo Medjo dieses Bett.
Sie stand wieder auf, fühlte dabei, wie sie erneut Blut verlor. Verzweifelt sah sie ihren Mann an und fragte ihn, ob es besser wäre, zu dem Heiler zu gehen, dem einzigen im Dorf, der Kon heilte. Sie wartete noch auf seine Antwort, als sie wieder das Gleichgewicht verlor und zu Boden fiel. Dieses Mal fiel sie auf den Rücken. Das Weiße ihrer Augen drehte sich nach oben. Kurz danach schlossen sich ihre Augen. Für einen Augenblick glaubte Essono Medjo, ein Witwer zu sein. Völlig verwirrt brachte er seine bewusstlose Frau ins Krankenhaus der Mission von Ebolowo’o.
»Sie ist schwanger, seit drei Monaten. Sie ist ohnmächtig. Es ist das zweite Mal heute. Ich hoffe, sie wacht bald wieder auf. Sie sollte schon wach sein«, erklärte er dem Arzt, der ihn in einem kleinen Untersuchungsraum empfing.
»Wer hat Ihnen das gesagt?«, fragte der Arzt.
»Was?«
»Dass sie schon wach sein sollte?«
»So lange war sie nie bewusstlos! Es sind fast zwei Stunden her!«, erwiderte Essono. Der Arzt wollte mehr wissen, stellte eine Frage nach der anderen.
»Epilepsie?«
»Was?«
»Ich frage, ob sie epileptisch ist?«
»Ich habe nie davon gehört. Meine Familie sagt, Hexen wollen meine Frau töten, in Kon. Ich aber glaube, es ist etwas anderes. Ich war einmal bei dem Konheiler unseres Dorfes. Aber nichts! Er hat meine Frau nicht geheilt. Deswegen bin ich hierher gekommen.«
»Das ist auch richtig … Wann genau ist sie gefallen?«
»Ich sagte es Ihnen eben! Es ist ungefähr zwei Stunden her. Viel zu lange! Sie war nie so lange ohnmächtig.«
»Hat sie geblutet?«
»Ja.«
»Hat sie viel Blut verloren?«
»Nicht besonders viel, soviel ich weiß.«
»Wie ist sie gefallen?«
»Das erste Mal auf den Bauch, das zweite Mal auf den Rücken.«
»Seit wann fällt sie?«
»Seit langem. Sie war noch ein kleines Kind, als sie damit anfing.«
»Kommt manchmal Schaum aus ihrem Mund?«
»Immer.«
»Zuckt sie auch dabei? Wie in Trance?«
»Ja. Wenn sie das hat, klammert sie sich an Sachen fest, die sie erst loslässt, wenn sie wieder wach ist. Meine Verwandten glauben, sie ist besessen.«
»Gott! Diese Brandnarben! Ist sie oft allein zuhause?«
»Ja, wenn ich auf dem Feld bin.«
»Gibt es in der Familie niemanden, der auf sie aufpassen kann?«
»Alle haben Angst vor ihr.«
»Warum? Sie ist nur krank.«
»Was ist das für eine Krankheit?«
»Erst nach den Untersuchungen kann ich Ihnen genau sagen, was sie hat. Ich vermute schon Epilepsie. Es kann aber auch sein, dass sie viel Blut verloren hat. Ihr Puls ist sehr schwach«, erklärte der Arzt, während er den Arm der Bewusstlosen festhielt.
»Sie darf bloß nicht sterben. Bitte tun Sie etwas!«
»Keine Panik. Sie wird es überstehen … Sie ist schwanger, sagten Sie?«
»Ja, drei Monate.«
»Sie bleibt zuerst hier. Danach sehen wir, wann Sie sie wieder mit nach Hause nehmen können. Die Kosten trägt in einem Fall wie diesem allein die Mission.«
Sie kam nie wieder mit offenen Augen nach Hause. Nkolo Medjo hatte die letzten sechs Monate ihrer Schwangerschaft im Krankenhaus liegen müssen. Es waren rund sechsundzwanzig Wochen, keine Woche ohne Tränen. So lange hat keine Frau geweint. Sie lag sechsundzwanzig Wochen im Krankenhaus der Mission von Ebolowo’o, hatte keine Wahl. Es war für eine Schwangere mit einer gefährlichen Krankheit wie ihrer die einzige Möglichkeit, eine Hausgeburt zu vermeiden.
Sie lag voller Hoffnung im Krankenhaus, wünschte, dass das Ganze ein glückliches Ende nimmt, glaubte, dass ein Ende näher rückte, als im neunten Monat die Blutung aufhörte. Sie wusste leider nicht, dass es ihr Ende war: das Ende eines zu kurzen Lebens. »Gott sei Dank. Bald komme ich wieder auf die Beine. Die Wehen, ich fühle sie! Bald ist es so weit! Essono, bald sind wir so weit!«, sagte sie zu ihrem Lebensgefährten. Aber es waren ihre letzten Worte, denn am selben Tag, kurz vor der Geburt, fiel sie ins Koma.
Sie hatte Wünsche gehabt. Ihr letzter Wunsch, sie wollte eine neue Küche, wollte diese besser einrichten, bat Essono täglich darum, flehte ihn an, erklärte ihm, dass sie wegen des Kindes auch ein besseres Bett brauchte, ohne die geringste Ahnung, dass sie nie wieder mit offenen Augen nach Hause zurückkehren würde … Abiaye Abes Geburt war eine außergewöhnliche Geburt. Selbst die erfahrene Geburtshelferin sprach von einem Wunder. Sie sah keinen Kopf, sondern Füße, Sichelfüße, dann krumme Beine. Plötzlich blieb das Kind im Mutterleib stecken, Nkolo Medjo lag wie tot. Sie hatte viel Blut verloren. Das Kind brauchte dringend Hilfe, beinahe wäre es erstickt.
Beide wären gestorben, wenn die Hilfe zu spät gekommen wäre. Doch, Abiaye Abe überlebte, gerettet von der tapferen Geburtshelferin. Wie das Kind schrie! Es hatte die Augen weit aufgemacht wie ein älteres Kind, schrie ungewöhnlich laut, während es auf dem Bauch seiner Mutter zappelte. Aber sie war schon tot, Nkolo Medjo erwachte nie wieder aus dem Koma … Jeder, der diese Geschichte hörte, sagte, dass Abe etwas gefühlt hatte, dass ihre ungewöhnlich lauten Schreie auf dem Bauch des Leichnams ihrer Mutter kein Zufall waren. Abe hatte um ihre tote Mutter geweint … Eine sehr rührende Geschichte!
Meine Mutter hatte das Talent, solche Geschichten noch rührender zu machen. »Man kann nicht genug weinen. Vorgestern, als ich mit der Erzählung fertig war, hatten alle, selbst Obeme und Papa, Tränen in den Augen«, verriet sie mir. »Mir standen immer Tränen in den Augen, wenn Essono Medjo, euer Ururgroßvater, mir in Meyozo diese Geschichte erzählte«, fügte sie hinzu. Auch ich hatte Tränen in den Augen. Gerührt kam Mama auf mich zu und hielt mich in ihren Armen fest.
»Sie starb zu früh, deine Ururgroßmutter, sie war erst zwanzig, hatte kaum gelebt. Nun Kind, genug geweint! Die Geschichte hat doch ein glückliches Ende! Oder? Das Kind überlebte! Abiaye Abe überlebte. Also Schluss mit dem Weinen!«, schloss sie, während sie selbst mit den Tränen kämpfte.
Es hörte sich wie eine Beichte an, wie die Beichte der Leiden meiner Vorfahren, die Beichte einer dieser bitteren Geschichten der Schwarzen, die ich so gern umgeschrieben hätte.
Ich fragte mich, ob Nane Abes Überleben ein glückliches Ende war. Denn sie überlebte mit einem körperlichen und einem seelischen Schaden. Nane Abe überlebte mit einem gebrochenen Bein und einer gebrochenen Seele. War das ein glückliches Ende, wie meine Mutter es meinte?
»Aber Mama, unsere Vambas hatten es nicht so einfach, wie du es immer meinst. Nane Nkolo Medjo war epileptisch, Nane Abes Geburt schwierig. Außerdem verstehe ich nicht, warum man dem unschuldigen Baby so einen schrecklichen Namen gegeben hat. Wer kam überhaupt darauf?«
»Der Vater des Kindes, dein Vamba Essono Medjo.«
»Mama, warum hat er eine so kranke Frau geheiratet?«
»Er liebte sie.«
»Hm, Mama, ich glaube, Nane Nkolo Medjo war eine sehr liebe Frau, sonst hätte Vamba Obeme sie nicht geheiratet. Aber wäre ich sie gewesen, hätte ich nie geheiratet, nie, Mama, nie! Ihr Baby ist mit den Füßen in die Welt gekommen, bestimmt, weil sie immer andersrum ins Bett fiel … Mama, es war ein Wunder, dass dieses Kind nicht gestorben ist.«
Meine Mutter schwieg. Ich aber dachte weiter an das arme Kind, fragte mich, warum Vamba Essono Medjo unbedingt ein Kind mit einer kranken Frau haben wollte. Ich wollte vor allem wissen, was ihn bewog, sein unschuldiges Baby mit so einem hässlichen Namen zu bestrafen.
»Aber Mama, unser Vamba Essono Medjo, ich meine, er konnte seine Tochter Ngole, Mitleid, oder auch Mindjuk, die Schwierigkeiten, nennen. Warum bloß die Geburt des Bösen? Warum Abiaye Abe?«
»Kind, ehrlich gesagt, dieser Name gefällt mir auch nicht. Nur, früher war alles anders. Frauen mit langen und starken Wehen litten sehr viel. Wenn die lang ersehnte Geburt schwer verlief und für die Mutter unglücklich endete, bekam das neugeborene Kind einen Namen, der an die Leiden seiner Mutter erinnerte … Unsere Ahnen sahen die Dinge anders als wir, meinten, dass ein Kind, dessen Mutter bei der Geburt starb, von Hexen gesandt wurde, um seine Mutter zu töten. Deshalb sollte man dieses Kind anders behandeln. Es sollte wissen, welche Schmerzen es seiner Mutter zugefügt hatte, welchen seelischen Schaden es gebracht hatte, wie viel Mühe es seine Eltern gekostet hatte. Dein Vamba Essono meinte, dass der Name Abiaye Abe sein Kind an all das erinnern sollte, es dann daran hindern würde, nie wieder seiner Mutter Übel anzutun, es gebieten würde, seine Mutter zu ehren. Er meinte, dass dieser Name seine Kleine zuerst entsetzen, aber dann erziehen, aufrichtig halten, zurechtweisen würde.«
»Aber Mama, Nane Nkolo Medjo war schon tot.«
»Die Toten sind nicht so tot, wie du denkst! Man kann sie entwürdigen, ehren, preisen, lieben und hassen. Sie leben weiter in uns, in unserem Geist, in unserem Gedächtnis. Deswegen erinnern wir uns immer wieder an sie.«
Ich musste schweigen, weil ich keine weiteren Fragen hatte. Aber weiter dachte ich, dass Nane Abiaye Abe, die Geburt des Bösen, doppelt schwer bestraft wurde: erstens mit einem Beinbruch, zweitens mit einem seelischen Schaden.
Und wer sprach da von den guten alten Zeiten? Hatte es sie jemals auf unserer Erde gegeben? Waren vielleicht diese guten alten Zeiten nur eine Einbildung der Menschheit?
»Unsere Ahnen hatten es einfacher«, hörte ich meine Mutter oft sagen. Was konnte das kleine Mädchen, das ich war, dazu sagen? Auf alle Fälle glaubte ich es ihr, und ich glaubte es ihr lange. Sie erzählte immer wieder davon, von einer besonders einfachen Zeit meiner Ahnen, sprach Tag und Nacht von ihnen, redete dabei von Menschen, die sorglos lebten und das Leiden nicht kannten. Sie erzählte mir von dieser Ahnenzeit, bis ich von Vamba Obeme ähnliche Dinge hörte: »Die Umwelt war noch nicht so schmutzig wie heute. Damals atmeten wir noch frische Luft ein, hörten nur Züge fahren. Wir kannten keine Autos, hatten nur Schienenwege. Unser Obst und Gemüse holten wir frisch aus dem Garten, wir aßen Erdnüsse und Mais von unseren eigenen Feldern. Unser Trinkwasser war Quellwasser, wir holten es immer frisch aus der Quelle. Dieses Wasser hatte natürliche Heilkräfte. Unsere Erde gab uns alles, was wir wollten, sie gab uns allerlei Heilpflanzen, vor allem Heilmittel gegen das Gift der Schlangen, denen wir täglich auf dem Weg zum Feld begegneten. Wir hatten großes Glück!«
Es gibt viele von diesen Alten, die von ihrer Zeit so reden, als ob sie damals nichts anderes als Glück fühlten.
Glück ist ein großes Wort, vor allem aber ein großes Gefühl, das ein winziger Teil der Menschheit gekannt hat. Ohne Zweifel: Auf ihren Feldern, unter den Strohdächern ihrer Hütten, wo sie sich nach guten Ernten ausruhten, fühlten meine Ahnen, was Glück ist. Aber die Härte ihrer Arbeit, vor allem ihre unaufhaltsame Suche nach Kindern verringerte dieses Glück, und die Leiden ihrer Frauen brachten ihnen immer mehr Augenblicke der Trauer, die mit den vermeintlichen guten alten Zeiten nichts zu tun hatten.
Hatte die Bibel vielleicht Recht? Es war wie ein Fluch, und das Ganze wie eine Wiederholung der Geschichte der Menschheit, wenn ich an Adam und Eva dachte. Im Lustgarten, unter den schönen Pflanzen und Tieren des Paradieses, wo sie sich nach einem erfüllten Tag ausruhten, fühlte das erste Menschenpaar, was Glück ist. Aber ihr Irrglaube an Liebe und die Härte der Urstrafe verringerten dieses Glück, und die Wehen der Urfrau brachten Augenblicke der Trauer. Und die guten alten Zeiten waren vorbei.
Abe bedeutet das Böse, böse wie nur das Leben sein kann, wenn man ein Leben lang ein Bein nachziehen muss. Meine Urgroßmutter Abiaye Abe trug einen körperlichen Schaden ihr ganzes Leben lang, hinkte mit dem rechten Bein. Es war keine schwere Behinderung, aber auch keine leichte. Es war ein Schicksalsschlag, mit dem sie seit ihrer Geburt haderte und den sie nicht hinnehmen wollte.
Nane Abe, das erzählt jeder, der sie gekannt hat, war ein liebevolles Kind, aber sie mochte die Kinder von Meyozo nicht, weil sie ihr die Kindheit zur Hölle machten. Sie riefen sie Mon Evou, kleine Hexe, sagten ihr ins Gesicht, was man im Dorf glaubte, dass sie nämlich nur am hellen Tag behindert war, aber nachts schneller als ein Hase lief. Nane Abe wollte sich wehren, schlug immer zu, wenn sie außer sich war, schickte diese Kinder, die ihr wie Satansbrut vorkamen, zum Teufel. Manchmal versuchte sie, hinter ihnen herzulaufen, bis sie hinfiel. Dann blieb sie am Boden liegen, aber nicht, weil sie nicht in der Lage war, wieder aufzustehen, sondern weil sie die Leute im Dorf auf das Vorgefallene aufmerksam machen wollte. Der erste, der sie liegend fand, hob sie vom Boden auf und brachte sie zu ihrem Vater. Vamba Essono Medjo sah seine Tochter immer voller Mitleid an. »Wie kann ich dir nur helfen? Wie kann ich dich vor diesen kleinen Teufeln schützen? Abe, am besten bleibst du zuhause. Ich sehe keine andere Lösung. Vielleicht hätte deine Mutter eine bessere gewusst. Leider bin ich nur ein Mann, der nicht viel über die Erziehung eines Mädchens weiß.«
Nane Abe war ein schweigsames Mädchen, widersprach ihrem Vater nie, selbt wenn er im Unrecht war. Sie blieb zuhause. Tage und Nächte vergingen. Wieder ein Tag, wieder eine Nacht. Nane Abe ließ sich nicht sehen. Erst nach Wochen wagte sie wieder hinauszugehen und längere Strecken über die einzige Dorfstraße zu gehen, um Nachbarn zu besuchen, die sich über ihr Verhalten beschwerten, über ihren »Rückzug aus dem Gemeinschaftsleben«, wie sie das nannten. Welch ein großes Wort! Gemeinschaftsleben. Dieses Wort bedeutet mehr als sich nur besuchen: Es verpflichtet die Menschen, Behinderte zu versorgen, zu pflegen, zu beschützen, zu unterhalten. Jedoch, in Meyozo fühlte sich nur ein Mann dazu verpflichtet: Vamba Essono Medjo, Nane Abes Vater. Die anderen redeten nur vom Gemeinschaftsleben. Oooh! Sie hatten keine Ahnung davon. Hätten sie etwas darüber gewusst, dann hätten sie dafür gesorgt, dass nicht Nane Abe, sondern sie selbst sich regelmäßig auf den Weg machten, um Nane Abe zu besuchen.
Aber sie blieben in ihren Häusern, aus Angst vor Nane Abe, die sie für eine kleine Hexe hielten. Nane Abe besuchte sie, bis sie die Kinder wieder traf. Überrascht hörte sie einige »Entschuldigung, Verzeihung« sagen, auf Anweisung ihrer Eltern, denn sie blieben ungezogen. »Mon Evou, Mon Evou«, riefen sie wieder, bis Nane Abe das Dorf verließ. Sie wollte die Kinder von Meyozo, ihrem Geburtsort, nicht mehr sehen, und sie sah sie nie wieder, denn mit Unterstützung ihres entsetzten Vaters zog sie zu einer Verwandten nach Mbaangok und kehrte nie wieder heim.
Dort lernte sie Vamba Obeme kennen. Mit ihm, dem Sohn von Afane, wollte sie ihren Schicksalsschlag bewältigen, sie wollte beweisen, dass sie kein außergewöhnlicher Mensch war, auch wenn sie ein Bein nachziehen musste, wollte beweisen, dass sie ein normales Leben führen konnte. Sie träumte, schwärmte vom Eheglück. Sie sehnte sich so danach! Und sie fand es! Sie verliebte sich in Vamba Obeme, billigte später freudig seine Heiratsabsicht und ließ sich mit ihm trauen.
Ein Traummann! Auch einer von den wenigen in jener Zeit! Er verwöhnte sie Tag und Nacht, erleichterte ihr das Leben, übernahm mehr als die Hälfte der ursprünglichen Frauenarbeiten, holte täglich Wasser von der Quelle, putzte, kochte an manchen Tagen, machte die schwersten Feldarbeiten und trug jeden Abend Nane Abes Hotte vom Feld nach Hause, was üblicherweise kein Mann aus Mbaangok tat. Durch dieses große Eheglück gewann Nane Abes Leben einen neuen Sinn.
Aber ihr Eheglück war nur von kurzer Dauer. Nane Abe wurde schwanger, hatte kaum den ersten Hoffnungsschimmer des Mutterglückes gesehen, da lag sie gelähmt, Zwillinge im Bauch einer so zarten Frau, das konnte nicht gut ausgehen. Sie musste liegen, wie ihre Mutter, bis sie starb, wie ihre Mutter. Die schwierige Schwangerschaft Nane Nkolo Medjos endete mit einer schweren Geburt im Koma. Auch Unannehmlichkeiten begleiteten Nane Abes Schwangerschaft bis zum letzten Atemzug.
Das erste Kind starb im Mutterleib. Es war zwei Uhr morgens. Nane Abe lag in einem Geburtsbett im Krankenhaus der Mission von Ebolowo’o. Man hörte Neugeborene in dem Kreißsaal weinen, während ein ungeborenes Kind im Bauch seiner Mutter erstickte. Entsetzt, aber nicht überrascht, sah die Geburtshelferin ein lebloses Baby kommen, ein Mädchen. Das zweite Kind lebte noch, das wusste die Geburtshelferin. Aber Vamba Obeme wusste es nicht, machte sich wieder Sorgen, rechnete schon mit einem zweiten Toten, als das Kind sich meldete. Die Krankenschwestern hatten schon das tote Baby gewickelt und es Vamba in einem Korb überreicht, als sie den Kopf des zweiten Kindes sahen. Schnell kehrten sie zu dem Kommenden zurück, den sie ohne große Mühe herausholten. Mit lautem Geschrei begrüßte Opa Otam seine neue Welt. Aber neben dem schreienden Kind lag eine tote Frau. Nach einer Doppelgeburt erlag meine Urgroßmutter ihren Schmerzen. Meine Mutter erzählte, dass Nane Abe mit dreißig verstarb.
»Gott, musste das sein?«, fragte ich.
»Was?«, forschte meine Mutter.
»Musste sie schwanger werden?«
»Ada, jede Frau wünscht sich ein Kind, weil Kinder so niedlich sind, kleine unschuldige Wesen. Kinder sind ein Geschenk Gottes! Auch Abiaye Abe wollte ein Kind, daran gibt es keinen Zweifel, sonst hätte sie Obeme nicht geheiratet.«
»Ich meine, Vamba Obeme liebte sie, er wusste aber auch, dass sie nicht viel Kraft hatte.«
»Das stimmt, aber – das wirst du später verstehen – die Liebe macht blind. Obeme liebte Abiaye Abe so sehr, dass er sich Kinder von ihr wünschte, um den Yemezem zu zeigen, dass auch er ein Mann ist, ich meine, dass auch er zeugungsfähig ist. Er konnte das spöttische Lachen seiner Onkel und Vetter nicht mehr aushalten. Die Yemezem, seine eigenen Verwandten, lachten ihn aus, weil er nur eine Frau hatte, eine behinderte noch dazu, die – das glaubten sie am Anfang – kein Kind gebären konnte. Schlimmer war sein Vater Afane, ein Mann mit sechs Frauen und zweiundzwanzig Kindern, der immer darüber jammerte, dass sein erster Sohn Obeme kein Mann wäre.«
»Aber Mama, eine Sache verstehe ich immer noch nicht: Wie konnte Vamba Obeme Nane Abe lieben?«
»Kind, wieso nicht? Dein Vamba war nicht der einzige, der Abiaye Abe liebte. Auch diese Yemezem, die Obeme auslachten, liebten sie, selbst wenn sie es heute nicht zugeben. Abiaye Abe war sehr hübsch. Das kann man noch aus ihren alten Fotos sehen. Obeme hat noch einige. Außerdem, das muss ich dir noch sagen, Abiaye Abe war nicht schwer behindert. Sie hatte eine leichte Behinderung, die bei einer so hübschen Frau wie sie gar nicht auffiel. Ich glaube, sie hätte auch ohne tödliche Folge ein Kind gebären können, aber Zwillinge waren ihr zu viel … Wie gesagt, Obeme liebte sie und wünschte sich Kinder von ihr. Schwierigkeiten bei der Geburt hat er leider nicht geahnt, oder er hat sie geahnt und mit einem Wunder gerechnet.«
»Das ist alles sehr traurig«, bemerkte ich.
»Ja, dein Vamba ist deswegen bis heute ein sehr trauriger Mann. Nach Abes Tod verfiel Obeme in Schwermut. Seine Schuldgefühle verbitterten ihn Tag und Nacht. Man konnte es in seinem Gesicht sehen, und man sieht es ihm immer noch an. Obeme hat nach Abes Tod viel gelitten. Das Schlimmste für ihn war, was die Leute über ihn und seine verstorbene Frau erzählten. Allerlei Geschichten: Obeme sei ein Dämon, habe deswegen eine Hexe geheiratet. Hexen sterben immer, wenn sie gebären. Sie sterben immer mit ihrem Kind. Otam habe nur überlebt, weil er ein Zwilling ist und so weiter. Das Gerede verbitterte Obeme so sehr, dass er niemanden mehr sehen wollte. Seine Ehe mit Abes jüngster Kusine, Otams Stiefmutter – sie hieß Issama – änderte nichts daran. Obeme war so verbittert, dass er ein ganzes Jahr in seinem Haus eingeschlossen lebte, ohne zu merken, wie seine neue Familie, das Baby und seine Stiefmutter darunter litten. Hübsch war Issama, Otams Stiefmutter, aber Obeme liebte sie nicht. Sein Kummer war zu groß, um wieder eine Frau zu lieben. Erst nach einem Jahr kam Obeme wieder zu Kräften, widmete seinem Kind und nur seinem Kind immer mehr Zeit. Bis zum letzten Tag ihres Lebens gelang es der wunderschönen Issama nicht, sein Herz zu gewinnen.
Otam machte schon seine ersten Schritte, als er die volle Zuneigung seines Vaters gewann. Zuerst fielen Obeme die Augen des Kindes auf, danach seine Nase und sein Mund. »Er ist ganz seine verstorbene Mutter! Ganz meine Abe! Ein hübscher Junge!«, rief er immer, wenn man ihn darauf aufmerksam machte. »Ich liebte ihn über alles, er bedeutete mir alles. Er ist der einzige Mensch, der mich am Leben erhalten hat«, verriet mir Obeme eines Tages. »Ich wollte ihn nicht allein lassen, aber ich wollte mich bestrafen, durch einen Selbstmord. Es hört sich grausam an, aber ich wollte es tun, um meiner Schuld ein Ende zu setzen, um mich von diesen quälenden Gefühlen zu befreien. Aber das wäre ein neues Vergehen gewesen, das zweite nach Abes Tod, die Flucht vor meiner Verantwortung gegenüber meinem Sohn, eine neue Schuld, von der der liebe Gott mich nie befreit hätte … Abe ist mit Gewissheit im Himmel, ich aber wäre in die Hölle gekommen. Aber, wie du siehst, ich lebe noch, ich habe meine Pflicht getan. Jetzt bin ich frei. Otam ist ein besonders lieber Vater, er hat ein sehr gutes Herz. Er ist leider kein verantwortungsbewusster Mann. Ich bin nicht so stolz auf ihn, aber immerhin froh, dass er gutmütig ist. Dafür danke ich Issama, seiner Stiefmutter. Auch Issama hat ihre Pflicht getan, hat mich in der Erziehung Otams viel unterstützt. Sie starb vor zwei Jahren. Möge der liebe Gott mir verzeihen, dass ich nie Zeit genug für sie hatte. Und möge der liebe Gott, wenn ich tot bin, Otams Erziehung im besten Sinne vollenden. Meine Zeit ist gekommen. Ich warte nur noch auf den Tag, an dem Gott mich rufen wird.«
»Armer Vamba!«, sagte ich gerührt.
»Na ja, so ist das Leben. Wir können unser Leben leider nicht bestimmen. Gott allein kann es. Aber dein Vamba hat ein gutes Herz«, bekräftigte meine Mutter. »Deswegen lebt er so lange. Das ist Gottes Segen. Dein Urgroßvater ist schon achtzig. Auch Otam, sein einziges Kind, hat etwas von diesem Segen. Er ist sechzig und sieht immer noch jung aus.«
Sie lebten zehn weitere Jahre, Vamba Obeme wurde neunzig, Opa Otam siebzig. Dann kehrte der Tod wieder ein, holte meine Verwandten gnadenloser als je zuvor. Er nahm ihn weg, meinen Vamba, mit seinem Sohn, meinem Großvater, und seinem Enkel, meinem Vater. Der Tod verschwand mit ihnen, für immer, siebzig Jahre nach dem Tod von Nane Abe. Für mich war es, als ginge die Welt unter, zumal meine Mutter daraufhin ihren eigenen Tod voraussagte.
Entsetzt starrte sie mich an, ließ das Kleidungsstück unter die Nähmaschine fallen und brach in Tränen aus, als sie Opas Todesnachricht hörte. Er war der dritte Tote in jenem Jahr 1989. Der erste war Vamba, der zweite Papa. Ich war genau neunzehn Jahre alt. Meine Mutter weinte, schluchzte, zuckte heftig, betete weinend zu Gott. Sie flehte ihn an, mir ihr trauriges Schicksal zu ersparen. Sie, so dachte meine Mutter, hätte nach dem Tode ihrer Liebsten auf dieser Welt nichts mehr zu suchen, dreiunddreißig verfluchten Jahren ihres Lebens hätte sie gern ein Ende gesetzt.
»Mama, nein, nein!«, flehte ich sie weinend an, auch wenn ich wusste, dass der Schatten des Todes sie immer verfolgen würde.