Читать книгу Schattenkrieger - Pia Guttenson - Страница 8

Schwarzes Herz

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Er war sich ziemlich sicher, dass er gefallen war. Nikoma erinnerte sich an Ian MacLeods verzweifeltes »Nein!« als er losgelassen hatte. Wieso zum Teufel fühlte es sich dann nicht nach Fallen an? Vorsichtig öffnete er die Augen. Undurchdringlicher Nebel und Kälte umfingen ihn wie eine tödliche Umarmung. Seine zitternden Finger tasteten nach der tiefen Wunde an seinem Bauch. Inschala! Sie war verschwunden. Lediglich ein Riss in seinem Hemd erinnerte daran. Der verfluchte Gezeitennebel musste schuld an alledem sein. Kleine Lichtblitze zischten immer wieder durch das feine weiße Gespinst. Nikoma hatte keine Angst vor dem Tod. Alles, was ihm je etwas bedeutet hatte, wusste er in guten Händen. Ob Isandora seinen Sohn nach ihm nennen würde? Ein Lächeln huschte über seine Mundwinkel. Niemals hätte er es für möglich gehalten, dass diese eine Nacht mit Isandora solch einen vollkommenen Zauber hervorbringen würde. Ein Kind, halb Mensch, halb Formwandler, zusätzlich zu ihrer Tochter, mit der sie schwanger gegangen war. Wieso hing er also jetzt hier fest, anstatt in der Anders-Welt bei seinem Vater und seinen Ahnen zu sein? Mühevoll kämpfte er sich auf die schwachen Beine, irrte ziellos durch diese gespenstische Welt, die nur aus weißem Nichts zu bestehen schien und betete um baldige Erlösung. War Alana auch hier? Nikoma lief und lief, ohne je anzukommen. Irgendwann ging ihm die Kraft aus. Erschöpft brach er inmitten vom Nirgendwo in die Knie, schlief völlig entkräftet an Ort und Stelle ein. Kühle Feuchtigkeit umgab ihn, rauschte über ihn hinweg. Wie in einem nassen Grab, dachte er. Ein schrecklich lautes Geräusch ließ ihn abrupt die Augen öffnen. Er hustete Salzwasser. Mühevoll setzte er sich auf, den Blick auf das riesige Ungetüm im Meer gerichtet. Wieder erklang dieser scheußliche Ton, der ihn entfernt an den Klang eines Horns erinnerte. Was, in Inschalas Namen, ist das?, fragte er sich beklommen und mühte sich vergeblich ab, auf die Beine zu kommen. Wo kam plötzlich der Sand her? Unvermittelt vernahm er Stimmen. »Cat, wir sehen uns. Ich muss los und sag deinem Pa, dass ich pünktlich nach Dunvegan Castle kommen werde, aye. Ach und Cat, lass dich nicht von `nem Selkie beißen«, hörte er eine männliche Stimme sagen. »Ha, Ha, deine Witze waren auch schon einmal besser, Graham!«, antwortete eine weibliche Stimme bissig. Knirschende Schritte näherten sich ihm in gemächlichem Tempo. Leider war er außerstande, sich zu verstecken oder wegzubewegen. Entkräftet sank er zurück auf den Strand. Ein sorgenvolles »Hallo?«, gefolgt von einem Räuspern, ließ ihn erneut die Augen aufschlagen. Er sah an festen Schuhen, nackten, mit fremden Tribal tätowierten Waden und einer ausgefransten Hose empor. »Entschuldigen Sie bitte, Mister, aber ist mit Ihnen alles in Ordnung?«, sagte die seltsam anmutende Gestalt eines jungen Mädchens, das sich zu ihm hinab beugte, um sachte Haare und Algen aus seinem Gesicht zu wischen. Statt einer Antwort kam nur ein gequältes Stöhnen über seine Lippen. Resoluter als man ihrem dünnen Körperbau ansah, griffen die Arme des Mädchens unter seine Achseln, zogen ihn vom Wasser weg. »Mein Name ist Beth Càtroina MacCrimmon, aber sagen Sie ruhig Cat, das tun eh alle. Haben Sie sich verletzt? Sind Sie mit einer Fähre gekentert oder von Bord gefallen? Sie sehen aus, wie einer von dem Gothic-Event in Edinburgh. Keine Sorge Mister, ich hatte erst einen Rote-Kreuz-Kurs«, plapperte sie munter, ohne Luft zu holen, weiter. Er konnte nicht aufhören, in das hübsche Gesicht mit den funkelnden blauen Augen zu starren, das von blondem, für ein Mädchen viel zu kurzem, lockigem Haar umrahmt wurde. Kannten sie hier keinen Anstand? Wieder glitt sein Blick zu der bloßen Haut. Was sollten diese Tätowierungen bedeuten? Gesittete Kleidung schien es hier ebenfalls nicht zu geben. War dieses junge Mädchen vielleicht eine Amazone? »Wo bin ich«, presste er krächzend hervor, erntete dafür ein Lächeln, das ihm den Atem rauben wollte. »Machen Sie sich jetzt über mich lustig, Mister?«, antwortete das Mädchen pikiert. Er schüttelte mühevoll den Kopf. »Also, Sie sind in Schottland. Genauer gesagt, unweit von Kyleakin, dort, wo es zur Insel Skye hinübergeht und wo ich mit meiner Familie lebe«, antwortete sie mit durchdringendem Blick. Nikoma kam ein schrecklicher Gedanke. Lichtpunkte tanzten vor Anstrengung vor seinen Augen. »Ian Mac …?«, krächzte er fragend, während er sich auf das fremde glänzende Metall in ihrem Bauchnabel konzentrierte, um nicht ohnmächtig zu werden. »Woher kennen Sie meinen vermissten Onkel, verdammt!«, fragte das Mädchen argwöhnisch. Sie zog ein seltsames Ding aus ihrer Hose. Entsetzt sah er, wie sie mit den Fingern darauf herumtippte. Dann hielt sie den Gegenstand an ihr Ohr. »Pa. Pa, du musst mich schnell holen kommen. Ich habe einen seltsamen Mann gefunden. Der Mann hat nach Onkel Ian gefragt!« »Welches Jahr …?«, flüsterte er, kraftlos vor Entsetzen, während das Mädchen das seltsame Ding wieder in ihrer Hose verstaute. »Wir haben den 16. Mai 2017 …« Er hörte den Rest nicht mehr. Alle Luft wich auf einmal aus seinen Lungen. Der verschwundene Onkel Ian? Göttliche Blume, sei mir gnädig. Ich bin in Isandoras Welt gelandet, durchfuhr es Nikoma, bevor sich der Schleier der Ohnmacht auf ihn legte.


Wieso musste ausgerechnet ihr das passieren? Beunruhigt tasteten Cats Finger nach dem Puls des seltsamen Fremden, den sie gefunden hatte. Wenn sie nur laut genug geschrien hätte, wäre Graham vielleicht zurückgekommen. Leider war ihr dies zu spät eingefallen. Warum hatte sie nicht einfach einen Krankenwagen gerufen? Das wäre doch eigentlich das Logischste gewesen. Sie hatte doch keinen Schock, zumindest fühlte es sich kein bisschen danach an. Außerdem sah der Fremde rein äußerlich nicht schockierend aus. Trotzdem hatte sie nicht so reagiert, wie es sonst ihre Art war. Konzentriert versuchte sie, sich an den Ersthelferkurs zu erinnern, den sie erst kürzlich absolviert hatte. Als wäre es das Normalste der Welt, suchte sie vorsichtig den Mann nach etwaigen Wunden ab, die sie mit dem bloßen Auge übersehen hatte. Fehlanzeige. Der Fremde fühlte sich zwar ziemlich ausgekühlt an und auch sein Puls war beängstigend schwach, dennoch deutete nichts auf Frakturen oder offene Wunden hin. Was, wenn er innerlich verblutete? Ablenkend betrachtete sie die bloße Brust, die von seltsamen Tätowierungen fast zur Gänze bedeckt war. Ebenso war es auch mit dem Rest seines durchtrainierten Körpers. Die Zähne in ihre Lippen gepresst, konnte Cat nicht verhindern, dass ihre Finger sachte die Muskeln seines Sixpacks entlang glitten, als könne sie mit den Fingerspitzen innerliche Blutungen ertasten. Himmel, Cat. Du bist kein Arzt! Woher kannte so ein gefährlich aussehender Typ ihren seit Jahren verschwunden Onkel Ian MacLeod? Gut, Ian war schon immer ein aufgeschlossener und weltoffener Mensch gewesen. Sie konnte sich nur zu gut an seinen trockenen Humor erinnern. Gott, sein Lachen und seine Ratschläge fehlten ihr so sehr! Wie oft war sie sich wie eine wilde Bikerbraut vorgekommen, wenn Ian sie auf seinem Motorrad hatte mitfahren lassen. All die Ausflüge mit der Motocross-Maschine, auf der sie Motorrad fahren gelernt hatte. Als kleines Mädchen hatte sie sich viel zu oft ausgemalt, wie sie ihren gut aussehenden Onkel als erwachsene Frau von seinem gebrochenen Herzen heilen würde. Heimlich hatte sie sogar bereits ihre neue Unterschrift geübt, als Beth Càtroina MacLeod. Natürlich waren das Kleine-Mädchen-Fantasien, aus denen sie lange herausgewachsen war. Nein. Ihr Onkel und dieser Fremde passten überhaupt nicht zusammen. Was, wenn der Kerl etwas mit der rothaarigen Frau zu tun hatte, mit der Ian Mac angeblich durchgebrannt war? »Verflucht, Pa. Wo bleibst du nur?«, stieß sie mit wachsender Verzweiflung aus. Plötzlich keimte eine unerklärliche Angst in ihr auf. Was, wenn der Fremde nicht nur gefährlich aussah, sondern es tatsächlich auch war? Energisch schüttelte sie den Kopf. Nein. Cat war stolz auf ihre Menschenkenntnis und ihre Intuition. Außerdem konnte ein Mann, der so teuflisch gut aussah, dass sie sich bereits vorzustellen versuchte, was für einen Anblick er wohl splitterfasernackt zu bieten hatte, kaum gefährlich sein. Tatsächlich fühlte sie sich auf eine sehr befremdliche Art zu diesem Fremden hingezogen. Andererseits wusste sie nicht, was sie tun sollte, falls er doch das Atmen einstellte? »Lieber Gott. Beruhig dich, Cat. Beruhig dich und setze deinen Verstand ein!«, ermahnte sie sich. Erneut tastete sie nach dem Puls des Fremden, um im Anschluss seinen Kopf in ihren Schoß zu betten. Mehr, um sich selbst zu beruhigen, strich sie sanft über die markanten Wangenknochen und seine langen, pechschwarzen Haare, die durch mehrere breite silberne Strähnen unterbrochen waren. Eine seltsame Moderichtung oder ein neuer Steampunk-Hit? Der Mann hatte so volle Wimpern, dass sicherlich einige Frauen vor Neid erblasst wären.

Keine Minute zu früh fand ihr Vater sie endlich. Leider folgte ihm ihr älterer Bruder auf den Fersen. Auch das noch. Der hatte ihr gerade noch gefehlt.

Jason, oder Jess, wie ihn Ian immer genannt hatte, war die Vernunft und Strebsamkeit in einer Person. Ihr wenige Sekunden älterer Bruder war schon von klein auf das krasse Gegenteil von ihr gewesen. Das würde noch mächtigen Ärger geben. »Wie kannst du so leichtsinnig sein, einem solchen Kerl beistehen zu wollen? So haben deine Mutter und ich dich nicht erzogen, Beth Càtroina MacCrimmon!«, bestätigte ihr Vater bereits einen Atemzug später ihre Befürchtungen. »Meine Eltern haben mir beigebracht, verantwortungsvoll zu handeln. Der Mann scheint verletzt zu sein und außerdem hat er von Onkel Ian geredet, Pa!«, verteidigte sie ihr Handeln, wobei sie innerlich bereits vor Wut kochte, da ihr Vater den Fremden nicht wirklich zu beachten schien. »Lächerlich. Cat, das ist völlig lächerlich. Der da …«, sagte ihr Vater und streckte den Zeigefinger in die Richtung des Fremden. »… der da ist vermutlich ein zu gedröhnter Junkie. Du nimmst doch keine Drogen, oder? Ist er dein Freund?«

»Lächerlich, Pa?«, konterte sie mit seinen eigenen Worten, zutiefst verletzt. Würde sie es je schaffen, den hohen Erwartungen ihres Vaters gerecht zu werden?

»Hast du ihn dir überhaupt richtig angesehen, Pa? Nur, weil der Fremde vom Aussehen nicht in dein spießiges Weltbild passt, ist er doch nicht gleich ein Junkie! Und überhaupt, was zum Henker haben meine Freunde damit zu tun?« Oh nein, Cat. Kannst du nicht einfach, ein einziges Mal, dein vorlautes Mundwerk halten. Du machst es nur noch schlimmer!, rügte sie sich. »Hüte deine lose Zunge, Càtroina! Sieh ihn dir doch mal genauer an, Daingead! Dein Onkel Ian würde sich doch nicht mit so einem abgeben. Ausgerechnet du müsstest doch wissen, was für zwielichtige Gestalten es heutzutage gibt. Erzähle ich dir nicht genug von meinem Job?« Das war so typisch für ihren Vater! Ständig musste er jeden ihrer Freunde unter die Lupe nehmen. Überall mischte er sich ein. Die Tochter eines Polizisten zu sein war fürchterlich. Tatsächlich war ihr Vater erst ziemlich spät Polizeibeamter geworden. Hätte er einen anderen Beruf gewählt, wäre sein bester Freund nicht spurlos verschwunden?

Jason tat und sagte natürlich nichts, um ihr zur Hilfe zu kommen. Im Gegenteil zu ihr wusste er nämlich, wann es besser war, einfach den Mund zu halten. Mit vor der Brust verschränkten Armen beobachtete sie genervt das Tun ihres Vaters, fragte sich insgeheim, ob er genauso jobbesessen wäre, wenn er in Edinburgh oder Glasgow arbeiten würde. Vermutlich hätten sie dort so viel zu tun, dass er keine Zeit mehr für die Nichtigkeiten seiner Tochter hätte. Colin war neben ihr in die Knie gegangen, prüfte nun selbst den Puls des noch immer völlig regungslosen Mannes. Einen Moment lang war sie wieder da gewesen, die Trauer in der Stimme ihres Vaters. Ian war wie ein Bruder für ihn gewesen. Noch immer hatte er die Hoffnung nicht aufgegeben, selbst nach all den Jahren nicht, in denen aus dem kleinen Mädchen eine junge, widerspenstige Frau von fünfundzwanzig Jahren geworden war. Hatte er deshalb nie eine nennenswerte Karriere angestrebt? Hoffte er nach all der Zeit immer noch darauf, etwas über seinen besten Freund in Erfahrung zu bringen? Ihr Vater hatte es ihrer Mutter überlassen, Karriere zu machen. Würde sie je einen Mann finden, dem sie genauso viel bedeutete, wie ihre Eltern sich gegenseitig bedeuteten?

Ihr Bruder lehnte noch immer teilnahmslos am Jeep ihres Vaters. Lediglich der Ausdruck seines Gesichts, vor allem seiner Augen, spiegelte Missfallen, gepaart mit einem Hauch von Verachtung, wieder. Das war so typisch für ihn. Weiß der Himmel warum, aber sie hatte das Bedürfnis, den Fremden zu verteidigen. »Pa, nur weil er tätowiert ist und zugegeben etwas seltsam aussieht, heißt es doch noch lange nicht, dass er keine Hilfe braucht!«, versuchte sie sich bei Colin einzuschmeicheln. In einer zärtlichen Geste legte sie ihm die Hand auf den Arm. »Dafür gibt es Krankenwagen, Càtroina. Warum zum Teufel hast du keinen angefordert?« »Jetzt hör doch mal auf, den staatstreuen Bullen raushängen zu lassen, Pa!« »Das müsste ich vermutlich nicht, wenn nicht meine eigene Tochter sich mit Dealern einlassen und verprügeln lassen würde!«

»Ich bin nicht mehr mit Marty zusammen. Und das mit den blöden Haschkeksen war ein Versehen. Ich habe dir bereits zigmal erklärt, wie es dazu gekommen ist …«

»Warum hast du keinen Krankenwagen gerufen, Càtroina?« Langsam wurde sie richtig sauer. Sie war noch nie die brave Tochter gewesen, die ihr Vater sich gewünscht hatte. Tätowiert, gepierct und rebellisch, wie sie war. Tief enttäuscht verzog sie die Lippen zu einem süffisanten Schmollmund. »Du willst wissen warum? Okay. Weil er keine offensichtliche Wunden hat. Ich hatte Angst, dass sie ihn nicht mitnehmen. Und wenn du es schon unbedingt genau wissen willst, Pa: Ja. Ja, verdammt, er ist mein neuer Stecher! Ich werde dir nicht sagen was wir hier getrieben haben oder nicht. Weil es dich nämlich, verdammt noch mal, nichts angeht. Können wir ihn jetzt endlich ins Raigmore nach Broadford fahren?«, entgegnete sie, und fühlte sich innerlich schrecklich verletzlich und erbärmlich.

Colins Augen hielten ihrem Blick stand. Verbissen zwang sie sich, nicht auszuweichen und nicht klein beizugeben. Verflucht, sie war fünfundzwanzig Jahre alt. Kein kleines Mädchen mehr. Irgendwann musste er verstehen, dass er sie nicht wie ein Baby behandeln konnte. Letztendlich ließ er ihr ihren Willen, half sogar den regungslosen schweren Körper des Fremden auf die Rückbank des Jeeps zu verfrachten. Der Mann wog nicht viel, aber da er über keinerlei Körperspannung verfügte, war es nicht einfach, ihn ins Auto zu befördern. Er schien tatsächlich auf beneidenswerte Art nur aus Muskelmasse zu bestehen. Trotzig missachtete sie die Blicke ihres Vaters, ebenso wie die ihres Bruders. Vorsichtig zwängte sie sich zu dem Fremden auf den Rücksitz, wo sie erneut behutsam seinen Kopf in ihren Schoß bettete. Beruhigend murmelnd, strich sie über seine Haare und Haut, während ihre Finger beständig seinen Puls kontrollierten. Ihr Blick blieb an einer altertümlichen Brosche hängen, welche an einem Stofffetzen seines Hemdes hing und an eine Wolfstatze erinnerte.»Ich bin gespannt, wie du das deiner Mutter erklären willst, Càtroina«, knurrte Colin hinterm Steuer mit einer Stimme, die aus seiner Gemütslage keinen Hehl machte. Wie so ziemlich immer, hatte ihr Vater natürlich Recht. Sie würde ganz gewaltigen Ärger bekommen, was so sicher war, wie das Amen in der Kirche. Aber wenn sie etwas gewohnt war, dann den Ärger, den sie wie magisch anzog. Trotz der späten Uhrzeit und des geringen Verkehrs, schien der Weg ins Krankenhaus sich ins Unermessliche zu ziehen. Mehr als einmal bildete sie sich ein, keine Atemgeräusche mehr zu hören. Inzwischen bereute sie bitterlich, nicht einfach einen Krankenwagen gerufen zu haben. Jetzt war es dafür allerdings zu spät.


Kaltes Licht brannte sich durch seine geschlossenen Augenlider. In seinem Körper brodelte der Schmerz, wie siedend heißes Wasser, das ihm bei lebendigem Leib, Haut und Fleisch von den Knochen brannte. War das Sterben? Fühlte es sich so an? Wo blieb der kalte, gefühlslose Hauch des Todes? Dem Tod Geweihten spüren doch angeblich nichts. Von wegen! Was für eine Farce trieb Gevatter Tod mit ihm? Er öffnete den Mund, um zu schreien, um zu protestieren, vernahm aber lediglich ein grausames Gurgeln. Sein Kopf war voller Geräusche. Es gelang ihm weder, sie einzuordnen, noch sich gegen diese zu wappnen. All seine Sinne waren in Aufruhr. Vergeblich mühte er sich ab, um sich zu bewegen. Auch dies misslang. Totaler Kontrollverlust. Nikoma, waberte ein Name durch seine heillos verwirrten Gedanken. Nein, nicht irgendein Name. Nikoma, dies war sein Name. So hieß er. Von einem Augenblick zum anderen war alles wieder da. Er war Nikoma, erstgeborener Sohn von Solena, der Herrscherin von Duncenbar. Er gehörte dem alten Geschlecht der Formwandler an. Gefallen. Himmel, er war durch die Nebel der Zeit gefallen …

»Oh Ian, oh Isa«, holperten die Namen seiner Freunde ungelenk über seine ausgedörrten Lippen und fanden Gehör. Schatten bewegten sich hinter seinen geschlossenen Lidern. Der Geruch nach Menschen sowie das Geräusch ihres Blutes, das warm und verlockend durch ihre Venen pulsierte, brachen so plötzlich über ihn herein, dass es ihm größte Mühe bereitete, sich zusammen zu reißen. Hunger und die Notwendigkeit von Blut, um seinen geschwächten Körper zu heilen, brachten ihn fast um den Verstand. Jemand berührte seine Haut, strich sacht wie ein Windhauch darüber. Beugte sich über ihn. Zu nah, viel zu nah.

»Ich weiß nicht, Mum. Er wirkt viel zu unruhig. Völlig verkrampft. Sieh nur wie sich seine Finger in die Matratze krallen. Warum musstet ihr ihn festschnallen?« »Schatz, ich hatte es dir erklärt. Wir wollen nicht, dass dein Freund runterfällt oder sich selbst weh tut. Das Drogenscreening läuft noch, und solange wir nicht wissen ob und was er genommen hat …« »Mum. Zum hundertsten Mal: Er hat nichts genommen«, tönte eine Stimme an seinem Ohr, die ihm seltsam vertraut vorkam. Konzentriert versuchte er, so wenig wie möglich zu atmen. Dummerweise bohrte sich gleichzeitig ein fürchterlicher Ton durch sein Gehirn, durchbrach seine Gedankenwelt. »Verdammt. Er hört auf zu atmen«, vernahm er eine entsetzte Stimme. »Aus dem Weg, Càtroina! Ich fürchte wir müssen intubieren.« Noch während Nikoma begriff, dass er normal atmen musste, um was auch immer „Intubieren“ war aufzuhalten, spürte er bereits einen fiesen Stich in seiner Armbeuge. Der scheußliche Ton verstummte. Verzweifelt kämpfte er darum, seine Augen zu öffnen und gleichzeitig den Drang zuzubeißen niederzuringen.

»Mum, ich glaube, er kommt zu sich!«, erklang es erneut zu nahe und eine warme Hand legte sich an seine Wange. »Hallo, Raven. Schön, Sie wieder bei uns zu haben. Ich habe Ihnen eine Spritze zur Stärkung gegeben und Sie hängen an einem Tropf mit Kochsalzlösung. Mein Name ist Sarah MacCrimmon. Ich bin Ihre behandelnde Ärztin.« Was zum Teufel war eine Ärztin? Lag es an seiner Unterernährung, dass er sich so schwach fühlte? Sein Kopf pochte beständig vor Schmerzen. Zu viele unbeantwortete Fragen und überstrapazierte Sinne geisterten durch jede Windung seines Seins. Endlich gelang es ihm, die Augen zu öffnen. Zuerst schien die Frau, die sich mit Sarah MacCrimmon vorgestellt hatte, regelrecht zu leuchten. Doch nach einigen Sekunden hatten sich seine empfindlichen Falkenaugen an das grelle Neonlicht gewöhnt. Die Panik in seinem Inneren war fast übermächtig. Zu schwach um zu fliehen, war er gezwungen, widerstandslos der Dinge zu harren, die auf ihn zukamen. Begriffen diese törichten Menschen nicht, wen oder besser gesagt, was sie vor sich hatten? Allem Anschein nach nicht. Denn würden sie wissen, mit was für einer Spezies sie es zu tun hatten, würden sie sicherlich nicht seine Fesseln lösen, oder? Genau das tat die Frau jedoch mit einem aufmunternden Lächeln im Gesicht. Sie, die sich als Ärztin vorgestellt hatte, löste diese seltsamen Fesseln, die seine Arme und Beine festgehalten hatten, während das seltsame Mädchen unablässig auf ihn einredete und über sein Haar strich. Bar jeglicher Vernunft beruhigte ihn ihr Tun sogar. Nikoma wünschte sich nur, er hätte ihre pulsierende Halsschlagader nicht direkt vor Augen. Hunger und Blutdurst fraßen ihn von innen heraus auf.

»Ist schon gut, Raven. Ich bin ja bei dir!«, hauchte das Mädchen und er schloss erneut ergeben die Augen.

»Wir werden immer Vampire sein, Bruder. Eines fernen Tages wirst du bereuen, so gelebt zu haben, wie du gelebt hast. All die zerbrechlichen Geschöpfe, die nur dazu dienen sollten, unsere Gelüste zu befriedigen. Sandkörner im Wind der Zeit ...« Nikoma konnte Anuks Stimme, die Stimme seines Zwillings-Bruders, so klar und deutlich hören, als stünde er neben seinem Bett. Was auch immer sie ihm gegeben hatten, es pulsierte wie Gift durch seine Adern, durch jede Vene, beherrschte sein Denken. Der köstliche Geruch und die warmen Körper der Menschen, ließen ihn die Zähne voller Gier fletschen. Das Raubtier in seinem Körper brach aus. Voller Anmut, und doch mit tödlicher Präzision, zog er binnen Sekunden das Mädchen zu sich und grub die Zähne bis zum Anschlag in ihre Halsschlagader. Warmes Blut spritzte durch den Raum. Die Ärztin schrie bei dem Anblick gellend auf, doch noch, bevor der Körper des Mädchens zu Boden gesunken war, hatte er ihrer Mutter bereits das Genick gebrochen und im Blutrausch ihr komplettes Blut getrunken. Der rote Saft des Lebens und Leichen kennzeichnete seinen Fluchtweg aus dem Krankenhaus.

Nikoma schrak durch seinen eigenen entsetzten Schrei aus seinem Albtraum auf. Inschala sei ihm gnädig. Er musste hier weg, bevor er Unschuldigen das Leben nahm. Was auch immer diese Ärztin seinem Körper gegeben hatte, zumindest hatte er nun Kraft genug, um sich zu bewegen. Seinen zitternden Fingern zum Trotz gelang es ihm, all die seltsamen Schläuche aus den Armen zu reißen. Obwohl vor dem Fenster augenscheinlich die Nacht anbrach, leuchteten in seinem Raum kleine Lichter, die seine ungewohnte Umgebung in diffuses Licht tauchten. Sanft berührte er eines davon mit der Fingerspitze. Seltsam, es war nicht wirklich warm. Wie wurden diese kleinen Flammen gespeist und warum fehlte ihnen die Hitze? Noch immer waren seine Sinne in Aufruhr, funktionierten nicht, wie sie sollten. Seine Kleidung war verschwunden, lediglich das Erbstück seiner Familie, eine Brosche lag auf dem kleinen Tisch. Fest schloss er die Hand um diese, drückte so fest zu, dass sich das kalte Metall in seine Haut bohrte. Er konzentrierte sich auf diesen pulsierenden Schmerz, um den Hunger aus zu blenden. So war er gezwungen, in dem seltsamen weißen Kleid, welches hinten offen war, die Flucht anzutreten. Schwankend gelangte er zur Wand, an der er sich entlang hangelte. Wehrlos wie ein Neugeborenes, die Zähne gebleckt und den verlockenden Geruch nach Blut in der Nase, zwang er sich, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Sein Magen und sämtliche Eingeweide rebellierten in seinem Inneren. Gierten nach Nahrung. Warum strafte die Göttliche Blume ihn so sehr? Wie ein hungriger Wolf in einer Herde voller Schafe, so fühlte er sich. Hatte er nicht alles getan, was ihm möglich gewesen war, um die Prophezeiung zu erfüllen? Er hatte den größten Teil seiner Unsterblichkeit aufgegeben, den Verlust eines Teils seiner Seele und seines Herzens in Kauf genommen. Er, Nikoma, einstiger Erbe der Krone der Formwandler, hatte auf den Thron verzichtet, um sein Leben für die Hoffnung Fenmars zu geben. War dies nun der Dank dafür? »Oh Isa. Ich bereue nicht, was ich für dich getan habe«, wisperte er. Selbst der einzelnen Tränen schämte er sich nicht. Vor ihm tauchte eine Wand aus kühlem, glattem Material auf, die ihm den weiteren Weg versperrte. Nikoma war gefangen. Plötzlich vernahmen seine gespitzten Ohren lachende Stimmen und das Geräusch von Schritten, die immer näher kamen. Verflucht, er durfte nicht entdeckt werden. Nicht jetzt, nicht in diesem erschreckend wehrlosen Zustand. Panisch suchte er nach einer Waffe. Ohne Erfolg. In einer Ecke entdeckte er ein seltsames Gefährt, hinter dem er notdürftig Deckung fand. Ein

Surren erklang, und die Wand bewegte sich zur Seite, wobei sie zwei ins Gespräch vertiefte Frauen in langen weißen Kitteln ausspuckte. Ohne ihn zu entdecken, entfernten die beiden Frauen sich von ihm. Nikoma überlegte nicht lange, einmal mehr die wenige Kraft mobilisierend, zu der er noch fähig war, gelang es ihm gerade noch, den Durchgang zu passieren, bevor dieser sich wieder schloss.

Um sich über dieses Dämonenwerk zu wundern, blieb ihm keine Zeit, da im nächsten Korridor mehr los war. In einiger Entfernung durchschritten Menschen geschäftig den Gang. Das Mädchen mit dem Namen Cat lag zusammen gesunken auf einer Art Bettstatt, in seiner unmittelbaren Nähe. Der weite Ausschnitt ihrer Kleidung gab den Blick auf einen hellen, anmutigen Hals frei, der ihn schmerzlich an Isandora erinnerte. Klar und deutlich vernahm er das Pochen ihres Herzens, das Blut, welches gleichmäßig durch ihre Venen und Adern pulsierte. Vielleicht hatte er unbewusst ein Geräusch von sich gegeben, er konnte es nicht mit Sicherheit sagen. Dennoch trafen seine Augen jäh auf das ozeantiefe Kristallblau ihrer Iris, die sich alarmiert zu verdunkeln schienen. Jetzt konnte er sich selbst vor Blutdurst knurren hören. Das Raubtier in ihm war kaum noch zu bändigen. In seiner Not warf er sich gegen etwas, das zumindest eine Ähnlichkeit mit den ihm bekannten Türen hatte. Es war tatsächlich eine, und diese gab so schnell nach, dass der Schwung seiner Schritte ihn ungelenk die ersten Stufen einer Treppe hinabstolpern ließ. Ungebremst prallte er gegen eine Wand. Die Treppe verlief in einer Art Schacht nach unten und er konnte nicht erkennen, wo sie endete. Doch ihm blieb keine Zeit, um sich darüber Gedanken zu machen oder auf weitere Schmerzen zu reagieren. Zu nahe waren ihm seine Verfolger. Über ihm erklangen bereits rasch näher kommende Schritte. Seine Schmerzen missachtend, packte er in einem Akt purer Verzweiflung das Geländer der Treppe mit beiden Händen und holte Schwung.


Ein Geräusch wie aus einem der Horrorfilme, die ihr Bruder ihr regelmäßig aufzwang, weckte Cat aus einem seltsamen Albtraum. Ihr Onkel Ian stand hinter dem Steinernen Tor am Strand und winkte ihr zu. Sie war sicher, dass er ihr etwas Wichtiges zu sagen versuchte, doch sie konnte ihn partout nicht verstehen. Als sie die Augen öffnete, starrte sie direkt in die weit aufgerissenen, leuchtend grünen Augen des Fremden. Wie konnte ein Mensch nur über so unnatürlich grüne Augen verfügen? Sie hätte schwören können, dass er sie angeknurrt hatte. Im nächsten Moment war er, mit wehendem Krankenhauskittel, der einen wirklich entzückenden Einblick auf einen verflucht sexy tätowierten Hintern gegeben hatte, ins Treppenhaus verschwunden. War der Kerl übergeschnappt? Selbst einem Laien fiel auf, dass der Mann einen ungesunden grauen Hautfarbton hatte und dass er stark schwitzte, obwohl die Räume hier alle gut klimatisiert waren. Ohne groß nachzudenken, rannte sie hinter ihm her. »Raven? Raven, du kannst doch nicht in deinem Zustand wegrennen!«, rief sie ihm hinterher, bis ihr einfiel, dass sie ja nicht einmal eine Ahnung hatte, wie der Kerl wirklich hieß.

Merde. Wenn ihre Mutter herausfand, dass er nicht ihr neuer Freund war und damit nicht genug, dass sie ihn überhaupt nicht kannte, würde diese ihr sämtliche unliebsamen Jobs verschaffen. Oder Schlimmeres. Sie strapazierte die Geduld ihrer Eltern bereits zur Genüge. Womöglich hatte sie jetzt den Bogen überspannt und würde nach einer eigenen Wohnung suchen müssen. »Jetzt bleib doch stehen, Raven!«, flehte sie, um im nächsten Augenblick, wie zur Salzsäule erstarrt, mitten im Schritt zu verharren. Selbst ihr »Nein!«, war kaum hörbar, da ihr regelrecht die Stimme versagte. Mehrmals kniff sie die Lider fest zusammen. Sie musste unter Halluzinationen leiden. Kein Mensch würde vom achten Stock des Treppenhauses freiwillig in den Keller springen. Entsetzt beugte sie sich über das Geländer, wappnete sich gegen den Anblick eines verrenkten Körpers, doch da war nichts. Wie war das möglich? Dafür gab es doch keine logische Erklärung, oder? »Merde. Ich sollte umkehren. Im Horrorfilm erwischt es immer die Neugierigen zuerst«, murmelte sie, nervös von einem aufs andere Bein tretend. Zähneknirschend überlegte Cat, was sie tun sollte. Andererseits war sie so was von im Arsch, wenn es ihr nicht gelang, den Kerl unbemerkt zurück in sein Bett zu bringen. Gedanklich sah sie sich bereits mit einem Koffer unter der Sligachan Brücke schlafen. Für ihren Vater war sie schließlich bereits jetzt eine drogensüchtige Enttäuschung, dabei hatte sie lediglich unbeabsichtigt von diesen Haschkeksen gegessen. Den Rücken an der kühlen Wand, schob sie sich Stufe für Stufe hinab. Bis ihr der Geduldsfaden riss und sie, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, dem Fremden hinterher eilte. Wusste der Kerl nicht, dass es hier unten nur die Leichenhalle mit ihren Kühlfächern und die Räume der Autopsie gab?

An der Stelle, wo der Fremde aufgekommen sein musste, gab es lediglich drei kleine Blutstropfen.

»Wer bist du? Batman, oder was?« Eigentlich machten ihr die kühlen Räume des Bradford Krankenhauses nichts aus. Sie hatte in der Autopsie sogar ein Praktikum absolviert, das, zum Leidwesen ihrer Mutter, wenig abschreckend auf sie gewirkt hatte. Wenn man es genau bedachte, zog sie das Thema Tod, seit dem Verschwinden ihres Onkels Ian, magisch an. Vielleicht war sie deshalb in der Gothic-Szene gelandet. »Hallo? Wo sind Sie?«, rief sie den spärlich beleuchteten Gang entlang. »Hören Sie, Mister. Sie sind verletzt und sollten im Bett bleiben. Außerdem kann ich Ihnen versichern, dass meine Mutter keinen Spaß versteht, wenn es um ihre Patienten geht.« Eigentlich bildete sie sich ein, auf alles gefasst zu sein. Doch das, was sie schließlich ausgerechnet in der Leichenhalle vorfand, übertraf all ihre schlimmsten Vorstellungen. Blutbesudelt saß der Fremde in einer Ecke des Raumes, wirkte völlig apathisch. Im Nachhinein konnte sie nicht mehr sagen, warum sie trotzdem einfach nur reagierte. Ein logisch denkender Mensch wäre sicherlich laut schreiend davon gerannt. Sie war jedoch mit drei Schritten bei dem Fremden angelangt, kontrollierte geübt den Puls und suchte ihn ohne Berührungsängste nach Verletzungen ab. »Was denken Sie sich eigentlich dabei, Mister. Sie können nicht einfach aus Ihrem Bett abhauen. Dachten Sie, das bleibt unbemerkt? Wo kommt überhaupt das ganze Blut her? Wenigstens sieht Ihre Hautfarbe jetzt besser aus«, schimpfte Cat, ohne auch nur einmal Luft zu holen. Deshalb schrieb sie das »Entschuldige bitte die Umstände!«, welches in einem tiefen, rauen Timbre ausgesprochen wurde, zuerst ihrer Einbildung zu. »Eins steht fest, so kann ich Sie schlecht wieder ins Bett stecken!« »Ich werde da auch nicht mehr hingehen!«, antwortete der Fremde, als wäre dies völlig klar. Was dazu führte, dass Cat ihn zum ersten Mal, seit sie ihn am Strand gefunden hatte, richtig ansah. »Tatsächlich? Und wo wollen Sie dann hin? Ich meine, wir sind hier nicht bei ‘Ich wünsch mir was‘!«, entgegnete sie kühl und ärgerte sich im Stillen darüber, dass der Kerl sie so durcheinanderbrachte. Cat hatte mit allem gerechnet, aber sicherlich nicht mit einem: »Du hast doch ganz gewiss auch ein Bett?« Was war das denn für eine billige Anmache? »Jetzt hören Sie mal, Mister ...« »Nikoma. Man nennt mich Nikoma. Es lag mir fern, dich zu beleidigen!« Die Klangfarbe seiner Stimme brachte sämtliche Nerven in ihr zum Schwingen. Unvermittelt sah sie erneut sein pechschwarzes langes Haar im Wasser des Meeres treiben, so wie vor mehreren Stunden, als sie ihn gefunden hatte. Er versuchte, sie beruhigend anzulächeln, offenbarte dabei jedoch spitz zugefeilte Zähne. Der Kerl war wohl echt ein ziemlich schräger Vogel. »Öhm, nun Mister Nikoma, ist Nikoma Ihr Voroder ihr Nachname?« So wie mein richtiger Vorname Càtroina und mein Nachname MacCrimmon lautet. Von welcher Hinterlandinsel kommt der nur?, dachte sie stumm und bekam prompt eine Antwort, fast als hätte der Fremde ihre Gedanken gelesen. »Raven. Mein voller Name lautet Nikoma Raven. Ich komme von einer winzigen, unbekannten Insel die Duncenbar heißt. Eure Gepflogenheiten sind mir teilweise unbekannt. Bitte entschuldige mein Verhalten!« Das war doch unheimlich. Woher zum Teufel hatte sie seinen Nachnamen gewusst? Hatte er ihn ihr bereits irgendwann genannt oder hatte sie den Namen irgendwo gelesen? Weshalb war ihr das dann wieder entfallen? Den Kopf schief gelegt, die Lider mit den längsten Wimpern, die sie je bei einem Mann gesehen hatte, halb über den stechend grünen Augen geschlossen, sah er sie durchdringend an. »Und warum bist du verflucht noch mal aus deinem Bett abgehauen?« Vermutlich nicht versichert. Womöglich ist seine komplette Brieftasche irgendwo im Meer abhandengekommen. Lieber Gott, bitte lass es nicht das sein!, flehte sie in Gedanken. »Ich … ich bin wohl ziemlich in Schwierigkeiten. Meine … meine Brieftasche liegt vermutlich auf dem Grund des Meeres und ich bin nicht … nicht …« »Versichert? Merde! Ich hab’s befürchtet. Waren Sie vielleicht unterwegs nach Dunvegan Castle auf Skye, um Onkel Ian um Hilfe zu bitten? Ich fürchte, da muss ich Sie enttäuschen. Mein Onkel ist vermutlich tot!« Es gelang ihr nicht, den weinerlichen Tonfall in ihrer Stimme zu unterdrücken. Sanft berührten kühle, feingliedrige Finger ihre Hand. »Ich suchte Hilfe bei Ian Macs Familie. Das ist wahr. Aber meines Erachtens erfreuen er, Isandora und die Kinder sich bester Gesundheit. Erst vor kurzem sprachen wir noch miteinander!« Der Blick, mit dem der Mann sie visierte, ließ ihr einen Schauder über den Rücken laufen. Plötzlich verspürte sie Angst vor dem Fremden, wich vor ihm zurück. Weder wusste sie genau, wer er war, noch, ob er überhaupt die Wahrheit sagte. Der Mann konnte ein gemeingefährlicher Terrorist oder ein gesuchter Mörder sein. »Seine Frau ... seine ... seine Kinder? Ich glaube Ihnen kein Wort! Und wenn Sie denken, Irgendeiner würde Ihren fantastischen Spinnereien Glauben schenken, dann sind Sie verrückter, als ich angenommen hatte!«, empörte sie sich, zum Ausgang ausweichend. Er war so schnell, dass Cat keine Chance hatte. Bevor sie die rettende Tür erreichen konnte, versperrte er ihr den Fluchtweg. Wie er salopp, mit vor der Brust verschränkten Armen, an der Tür lehnte und sie ansah, wirkte er zutiefst gefährlich. Nichts erinnerte mehr an den schwachen, kranken Mann, den sie ins Krankenhaus gebracht hatte. Stattdessen ließ der Anblick sie unwillkürlich an ein Raubtier denken. Einen Panther vielleicht. Denn der Fremde bewegte sich mindestens genauso geschmeidig, und auf eine verwirrende Art elegant. »Bitte, Cat. Dein Onkel hat meine Freundin geheiratet. Ian Mac liebt den Kampf mit dem Schwert. Er versteht es mit seinem Bariton wundervolle schottische Traditionals, so nennt er sie, zu singen. Er ist einer der besten Strategen, die ich je kennengelernt habe.«

Jetzt rannen die Tränen ungehindert Cat‘s Wangen hinab. Zornig wischte sie diese mit dem Handrücken weg. Ian war schon immer ihr wunder Punkt gewesen. Verflucht. Ihre Lippen zitterten unkontrolliert, als sie antwortete. »Hat er Sie auch im Schach geschlagen, Mister? Aye, er war besser darin als Pa. Ich vermisse seinen Gesang, seine Stimme ...« Seine Umarmungen, die so voller Sicherheit waren. Der Fremde überwand denn Abstand zwischen ihnen, ohne dass sie es wirklich bemerkte. Unbeholfen strich er ihr sachte über die zerzausten Haare. »Càtroina, Cat. Bitte! Ich könnte wirklich deine Hilfe brauchen. Im Gegenzug verspreche ich dir, alles über Ian Mac und Isa zu erzählen! Bitte. Ich kann dir die Wahrheit meiner Worte beweisen. Wenn du mich lässt.« Konnte sie diesem Mann wirklich trauen? Was, wenn er wirklich die Wahrheit sagte? Ihr Onkel würde ihr den Hals umdrehen, wenn sie seinen Freund mittellos auf der Straße stehen ließ.

»Fürs Erste wäre eine Dusche und frische Klamotten wohl das Sinnvollste«, durchbrach sie die gespenstische Stille, die jäh zwischen ihr und dem fremden Mann herrschte. Innerlich aufgewühlt bis tief ins Mark, begleitete sie den Mann bis vor die Duschräume der Pathologie. In keinem der Schließfächer, die sich vor den Duschräumen befanden und die Habseligkeiten des Personals beherbergten, fand Cat Kleidung. Das Personal dieser Abteilung schien nicht so vergesslich zu sein, wie in anderen Abteilungen des Krankenhauses. Da sie aber vermutete, dass man Nikoma Raven bereits suchte, schied ein Besuch in einem anderen Stockwerk aus. Bewaffnet mit dem Einzigen was sich hatte auftreiben lassen, typisch grüne OP-Hosen und ein ebensolcher Kittel, ging sie vor den Duschräumen mit gemischten Gefühlen auf und ab. Nikoma Raven hatte die Tür nicht richtig geschlossen und diese hatte sich einen guten Spalt breit geöffnet. Cat kam nicht umhin, den ihr dargebotenen Anblick wie hypnotisiert zu verfolgen. In all den Jahren, seit sie sich für das männliche Geschlecht interessierte, wäre sie bei keinem einzigen Mann auf die Idee gekommen, ihn als schön zu bezeichnen. Bis jetzt. Das Wasser schimmerte wie kleine Perlenketten auf Nikomas alabasterfarbener Haut, von der sich die Tätowierungen ebenso pechschwarz und geheimnisvoll abhoben wie die langen Haare, in denen helle Strähnen leuchteten wie pures Silber. Warum musste sie jetzt an einen Selkie-Mann denken? War sie nicht aus dem Alter, in dem man an Legenden und Märchen glaubte, längst herausgewachsen? Andererseits hätte es sie keineswegs gewundert, wenn der Fremde sich direkt vor ihren Augen in einen Seehund verwandelt hätte. Sie war schließlich eine Schottin, lebte und glaubte an all die geheimnisvollen Legenden um sie herum. An diesem Körper gab es nicht ein Gramm Fett. Kein Muskel zu viel oder zu wenig trainiert. Selbst wie er das Handtuch benutzte, um sich abzutrocknen, war so voller Anmut, dass sie nur trocken schlucken konnte. Ihre Zähne gruben sich nervös in die Lippe, spielten mit dem Ring ihres Piercings, während die Finger zitterten, so sehr durchströmte ihren Körper die Erregung. Cat hatte bisher nur mit zwei Männern geschlafen. Aber wenn Nikoma Raven in diesem Moment mit den Fingern schnippen würde, war sie sich sicher, dass sie sich, ohne zu fragen, die Kleider vom Leib reißen würde. »Merde, Càtroina! Du bist schon immer durchgeknallt gewesen, aber hier und jetzt, quasi fast in der Leichenhalle ..., schäm dich!«, murmelte sie entrüstet über sich selbst und klopfte entschlossen an der Tür. Den Kopf demonstrativ in die andere Richtung gereckt, streckte sie die Hand mit dem Kleiderstapel durch den Türspalt. Noch bevor er ihr den Kleiderstapel aus der Hand nahm, spürte sie einige nasse Tropfen, die ihrer Haut benetzten. »Ich danke dir, Cat. Hat dir gefallen, was du gesehen hast?«, wisperte die Stimme des Fremden viel zu nah an ihrem Ohr. Ertappt zuckte sie zurück. Oh nein. Er hatte sie beim Spannen erwischt. Wie peinlich war das denn? Entsetzt von dieser Demütigung, fing sie an zu hüsteln und setzte sich in Richtung Notausgang in Bewegung, ohne auf den Fremden zu warten.


Amüsiert folgte Nikoma der jungen Frau, deren lauten und kompromittierenden Gedanken es tatsächlich gelungen war, ihn etwas abzulenken. Sie hatte etwas derart Unschuldiges an sich, dass er sie einfach mit ihren eigenen Gedanken hatte aufziehen müssen. Alles in ihm schrie nach Ablenkung. Er machte sich keine Illusionen, über den Berg war er längst noch nicht. Vielmehr war ihm speiübel. Menschenblut, dazu noch alt, leblos und voller Verunreinigungen, gab ihm zwar einen kleinen Zeitaufschub, doch der würde schneller vergehen, als ihm lieb war. Es glich einem Wunder, dass diese junge Frau nicht schreiend vor ihm und dem blutbesudelten Anblick, den er ihr geboten hatte, davongelaufen war. Verlockend, und umso deutlicher, vernahm er jetzt all das warme, voller Leben pulsierende Blut in seiner unmittelbaren Umgebung. Es rief nach ihm, lockte verführerisch. Nikoma war klar, dass jeder Augenblick der eine sein konnte, in dem er die Kontrolle über das Tier in sich verlor. Wenn das geschah, war niemand da, der ihn stoppen konnte. Kein Ian Mac der die Kraft besaß, ihn festzuhalten, keine Isandora, die seinen müden, geschundenen Körper in ihren Armen wiegen würde und ihm versicherte, dass er dagegen ankämpfen und es durchhalten würde. Menschenblut machte das Unterdrücken der Gier nur noch komplizierter. Leider war ihm wahrlich keine große Wahl geblieben, höchstens, er hätte das Mädchen umbringen wollen. Und das war etwas, das Nikoma noch nie getan hatte, nicht tun würde. Die junge Frau spürte die Gefahr, welche von ihm ausging, beeilte sich, die Tür am Ende des Ganges zu erreichen. Törichtes Mädchen, du hättest mich einfach verrecken lassen sollen! Kopfschüttelnd fixierten seine Augen ihren wohlgeformten Hintern, der in viel zu kurzen Hosen steckte und mit dem sie, wie er nur zu gut wusste, mehr wackelte, als nötig gewesen wäre. An der Tür angekommen, zog sie etwas aus ihrer Hosentasche und bearbeitete das Schloss. »Ich besitze keinen Schlüssel für diese Tür, aber keine Sorge, Raven, ich hab sie bereits schon mehrmals geknackt. Ist nämlich der einzige Platz hier unten, an dem man ungestört rauchen kann«, erklärte sie ihm mit einem unsicheren Lächeln und öffnete mit einem »Voilà!« die Tür. Das grelle Licht einer Straßenlaterne blendete Nikoma für Sekunden, während eine Unzahl an fremden Geräuschen auf ihn einprasselte, wie Eisregen. Für einen Lidschlag geriet er ins Taumeln. Die junge Frau bemerkte sein Zögern nicht, lief einfach, munter plaudernd, weiter. Rede einfach weiter, Càtroina. Da ist gar nichts dabei. Der Kerl wird nicht merken, wie nervös er dich macht. Ganz ruhig Càtroina!, machte sie sich dabei gedanklich selber Mut. Das Mädchen wurde ihm immer sympathischer. Wie sehr er dieses Gefühl der Hilflosigkeit verabscheute! Sein ganzes Leben lang war Nikoma ein Krieger gewesen. Keine Schlacht hatte er vermieden, war sie noch so ausweglos erschienen. Jedem Gegner, selbst der Übermacht der Noctrum, hatte er sich in den Weg gestellt, um die zu schützen, die ihm wertvoller waren als das eigene Leben. Wofür dies alles? Um in einer fremden Welt, jenseits seiner eigenen Zeit, festzusitzen, zum Nichtstun verdammt? Zu jedem Schritt musste er sich zwingen. Scheu und verängstigt, wie ein vermaledeites Milchbübchen, abhängig von einem Mädchen, das noch grün hinter den Ohren war. Jedoch blieb ihm keine andere Wahl. Wenn er lange genug am Leben bleiben wollte, um in dieser Welt zu überleben, war Beth Càtroina MacCrimmon seine einzige Chance. Bevor er es sich anders überlegen konnte, schloss er zu ihr auf. Sie hielt erneut den seltsamen kleinen Kasten in der Hand, der ihm bereits am Strand aufgefallen war und auf welchem sie nun erneut herum tippte, um das Teil schließlich an ihr Ohr zu halten. »Mum, meinem Freund geht es besser ...« »Was soll das heißen, Cat? Wo steckt ihr beiden? Der Kerl kann doch nicht einfach aus dem Bett steigen und abhauen, wie es ihm gefällt! Ihr werdet sofort wieder herkommen!« Nikomas gespitzte Ohren nahmen jedes gesprochene Wort wahr. Die Ärztin klang sehr besorgt und aufgebracht, während Càtroina mit Engelszungen auf sie einredete, obwohl er ganz genau bemerkte, wie genervt die junge Frau bereits war. »Die Sache ist die, Mum; Nikoma, also mein Freund, kommt aus einem mickrigen slawischen Dorf und er ist weder versichert, noch hat er das Geld, um für so eine Behandlung zu bezahlen …«

»Càtroina, hast du noch alle Tassen im Schrank? Mit wem hast du dich da eingelassen? Du kannst doch nicht einfach ...« »Hör auf, mich anzuschreien, Mum! Ich bin kein kleines Baby mehr! Nikoma ist ein Freund von Onkel Ian. Er hat ihn nach seiner überstürzten Abreise kennengelernt. Vor kurzem hatte er mich über Facebook kontaktiert und ich hab der Sache erst nicht getraut, okay. Nikoma hatte sich seine Ankunft bei unserer Familie auch völlig anders vorgestellt. Stattdessen wurde er ausgeraubt, über Bord geworfen, ist fast ertrunken und jetzt hat er nur Probleme am Hals.« Amüsiert verfolgte Nikoma die Lügenmärchen, die Cat ihrer Mutter auftischte. Dummerweise kamen ihm selbst eben diese Lügenmärchen fast schon plausibel vor. »Ich glaube diesem Kerl kein Wort! Das Gleiche solltest du auch tun, Cat. Ich rufe jetzt deinen Vater an, der soll auf seiner Polizeidienststelle Nachforschungen anstellen. Das hätte ich schon längst tun sollen!« »Ich habe mit ihm geschlafen, Mum. Kapierst du das? Ich hatte wilden, hemmungslosen Sex mit diesem Mann. Außerdem liebe ich Nikoma, und wenn du ihn wegschickst, oder Pa und seinen Bullen zum Fraß vorwirfst, dann seht ihr mich nie wieder. Ich werde wie Onkel Ian mit Nikoma durchbrennen und per Anhalter in seine Heimat zurückkehren ...« Jetzt fing ihre Geschichte an, ihm gar nicht mehr zu gefallen. Die Kleine war dabei, mächtig zu übertreiben. Als ob er bei so einem jungen Ding liegen würde. Beide Frauen waren so geladen, dass er ihre Emotionen inzwischen wie geladene Blitze wahrnahm. »Beth Càtroina, du machst dich lächerlich und rennst in dein Unglück. Hast du wenigstens verhütet?« »Hilfst du uns, oder nicht?«, wich Cat der Frage ihrer Mutter schnippisch aus. »Wie kannst du nur so verflucht stur sein? Hol dir meine Schlüssel am Tresen bei Máire ab. Ich werde mit Sol heimfahren. Wir sprechen uns zuhause, junge Dame, und Càtroina, dein Freund schläft im Gästezimmer. Haben wir uns verstanden?« »Aye!« Einige Zeit später hatte Nikoma sich in einem metallenen Ungetüm wiedergefunden, das sich Auto nannte. In seinen kühnsten Träumen hatte er sich zwar gewünscht, ein einziges Mal in so einem Gefährt mitfahren zu können, aber jetzt, wo es soweit war, fand er es gar nicht mehr so erstrebenswert. Erschöpft schloss er die Augen und lauschte dem sanften Widerhall von Isandoras Stimme in seiner Erinnerung, die nicht müde wurde, ihm von den zahlreichen Wundern ihrer Welt zu erzählen. Weder die metallenen Pferde auf Rädern, Autos genannt, noch die stählernen Vögel in der Luft, die den Namen Flugzeuge trugen, hatte er sich vorstellen können. Wie unsagbar dumm er doch gewesen war. Jetzt und hier, im Inneren eines dieser metallenen Pferde, musste er sich dazu zwingen, sich nicht panisch irgendwo festzukrallen. Immer wieder traf ihn Cats misstrauischer Blick, erschwerend kam ihr liebliches Bukett hinzu, welches durch den geschlossenen Raum noch verstärkt wurde. Bei der Göttlichen Blume, er hatte noch nie etwas Anziehenderes gerochen als ihr unschuldiges Blut und ihre Erregung. Zweiteres erschreckte ihn weit mehr als seine eigene Erregung. Ein in ihn verliebtes, kleines menschliches Mädchen hatte ihm zu seinem Glück gerade noch gefehlt. Was tust du mir an, Göttliche Blume? Warum ich?, wiederholten seine Gedanken unablässig. Es stand außer Frage, dass er Cat loswerden musste. Seine und ihre Sicherheit standen dabei auf dem Spiel. Nur, wenn er sich von diesem Mädchen lossagte, wer blieb ihm dann zu seiner eigenen Hilfe übrig? Jetzt könnte ich deine schlauen Ratschläge brauchen, Ian Mac! Wie bleibe ich in deiner Welt unerkannt? Ich kenne nur wenige eurer Sitten und Bräuche, nur das, was du und Isa mir erzählt habt. »Also ich finde, du übertreibst, Nikoma Raven. Mein Bruder fährt viel schlimmer als ich. Oder gibt es bei euch nicht so viele Autos?« Ertappt zuckte er zusammen, zwang sich zu einem freundlichen, offenen Lächeln und löste seinen Klammergriff von der Beifahrertür. Wie erhofft, wich sie ihm mit geröteten Wangen und niedergeschlagenen Lidern aus.

»Wir sind ein ziemlich rückständiges Dorf mit, ihr würdet es ärmliche Verhältnissen nennen«, antwortete er ausweichend. »Na ja, bei uns hier auf Skye ist auch nur in den Touristen-Monaten richtig was los, wie du sicherlich bereits bemerkt haben dürftest«, erklärte sie ihm im Lehrton. »Ich glaube, ich mach dir mal kurz das Fenster auf. Du bist nämlich irgendwie ganz grün um die Nase.« Fast wäre ihm ein lautes Knurren entwichen, als das Fenster neben ihm sich plötzlich nach unten bewegte und im Unterteil der Wand verschwand. Zurück blieb eine Öffnung, durch die ihm die kalte Nachtluft um die Nase wehte. »Danke«, murmelte er, die klare, kühle Luft begierig inhalierend. Für wenige Minuten erlaubte Nikoma sich, einfach die Augen zu schließen. Keine Gedanken, keine zu analysierenden Geräusche oder Gerüche. Dummerweise verflogen diese Minuten zu schnell, und lösten sich mit der Witterung von frischem Blut in Wohlgefallen auf. Das hungrige Knurren, das ihm entwich, ging zum Glück im Lärm unter, der, wie aus dem Nichts, im Auto erscholl. »Oh, entschuldige bitte. Ich hab vergessen, wie laut Mum immer die Red Hot Chilli Pipers hört. Das sind mehrere Dudelsäcke, also Musikinstrumente. Ich mach das Fenster lieber zu. Der Wind weht aus Richtung der großen Schlachtfabrik. Mir persönlich tun die ganzen Schafe und Rinder ja leid, die dort landen. Leider esse ich aber zu gerne Fleisch, um zur Vegetarierin zu werden. Und du, Nikoma Raven? Wie sieht es bei dir aus? Du bist doch kein Veggie, oder?« Wer oder was, zum Teufel, war ein Veggie? In Gedanken sah er sich bereits an ihrer Halsschlagader nuckeln wie ein kleines Baby.

Redeten in diesem Zeitalter alle Frauen so viel? Gegen dieses Mädchen erschien ihm selbst Isandora plötzlich als wortkarg. »Also magst du Fleisch?«, hakte sie mit einem unschuldigen Augenaufschlag nach. »Ja, ich mag Fleisch. Und es darf ruhig blutig sein«, antwortete er sarkastisch, wobei er hinter vorgehaltener Hand die Augen genervt verdrehte. Sie hatte die Augen wieder konzentriert auf die Straße gerichtet, die, allem Anschein nach, auch in dieser Welt nicht wirklich besser waren, als in seiner eigenen. Was ihn dazu bewog, sie genauer zu beobachten. Nervös spielten ihre Zähne mit dem seltsamen Ring in ihrer Unterlippe. Wie konnte man solch ein hübsches Paar Lippen derart verunstalten? Ohne die viele schwarze Schminke könnten diese unverschämt blauen Augen regelrecht anziehend wirken, stellte er fest. Um sich abzulenken, blickte er aus dem Fenster, wo das Mondlicht die spektakuläre Aussicht in Silber tauchte. Seine scharfen Falkenaugen nahmen jede noch so winzige Kleinigkeit wahr.

Die Umrisse des Steinernen Tores traten so plötzlich in sein Sichtfeld, dass er das unbestimmte Gefühl hatte, sein Herzschlag müsse aussetzen. Wie Isa und Ian es ihm beschrieben hatten, lag es malerisch am Strand, unterhalb eines imposanten Gebäudes aus Wehrmauern und Stein. Dabei musste es sich wohl um Dunvegan Castle handeln.


Schattenkrieger

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