Читать книгу King Artus und das Geheimnis von Avalon - Pierre Dietz - Страница 9

Оглавление

12. Juni 1996

Der Blick auf die Uhr zeigt kurz vor zwei am Morgen. Paris schläft trotz der ungewöhnlichen Hitze. Drückend warmer Wind bläst den Staub durch die breiten Uferstraßen. In der »Seine« spiegeln sich die Lichter des »Musée d’Orsay«. Über dem ehemaligen Bahnhof ragt die Spitze des Eiffelturms empor. Marcel Amidieu schwelgt in Kindheitserinnerungen. Bei der Eröffnung des Museums für französische Impressionisten vor sechs Jahren ist der damals Dreizehnjährige mit den Eltern zugegen gewesen. Das ist für den Gymnasialschüler lange her. Das Betrachten der Meisterwerke zwischen dem Beginn der Zweiten Republik und dem Ersten Weltkrieg hat in ihm den Wunsch geweckt, eines Tages ein reicher und berühmter Künstler zu sein.

In einer Plastiktüte warten die vereinbarten Utensilien auf die bevorstehende Aktion. Darunter ein fester Karton, in den das Motiv geschnittenen ist, eine große Spraydose mit rotem Autolack, ein winziges Notizbuch mit karierten Blättern, Einweg-Kugelschreiber und ein gefalteter Plan der Untergrundbahn. Der Junge wartet auf einen wenig älteren Künstlerfreund mit dem Pseudonym »ME«. Das Kürzel steht für »Messerschmitt«, eine Firma, die im Dritten Reich Jagdflieger und Bomber gebaut hat. Sein Freund sammelt bevorzugt Plastikmodelle dieses Flugzeugherstellers und bemalt die Bausätze möglichst originalgetreu.

Marcel und einige Schulfreunde spielen ebenfalls Krieg, mit kleinen Plastiksoldaten. Dank ihrer Freizeitbeschäftigung haben sich die Schüler intensiv mit der Geschichte des Zweiten Weltkriegs beschäftigt und über Bücher und Zeitschriften eine Menge über die Gräueltaten der Nazis erfahren. Der Holocaust ist immer wieder ein Thema, weshalb keiner von ihnen freiwillig den Part der Wehrmacht übernimmt. Alle ziehen die Rolle des gerechten Alliierten vor, der den Juden zu Hilfe kommt. Sein Fehler, vor den Kameraden geprahlt zu haben, sein Vater sei aus Deutschland. Um dem Sohn Fragen nach der Herkunft zu ersparen, hatte dieser bei der Hochzeit den Nachnamen der Frau angenommen. Trotzdem haben die Spielkameraden den Halbfranzosen gerne aufgefordert, den Part des »Rommel« im Kampf gegen »Montgomery« und »Patton« zu mimen. Für Franzosen aus Kreisen der Résistance ist der Halbdeutsche der Sohn des ehemaligen Feindes dem gewisse Mitschüler mit Argwohn begegnen. Zu seinem Glück ist Paris eine Weltstadt und genügend andere sind ihm freundlich gesonnen. Insbesondere die dunkelhaarigen Mädchen interessieren sich für ihn, den Blonden mit den azurblauen Augen.

»ME« und Marcel haben sich über ihre Leidenschaft für Miniaturen von militärischen Fahrzeugen auf dem »Salon du Jouet«, einer Modellbaumesse im Norden der Stadt, kennengelernt. Marcel ist an »MEs« Tisch stehen geblieben, um bei ihm mehr über die Airbrush-Maltechnik aufzuschnappen. Im Verlauf des Gesprächs wechselt die Problemstellung auf die aktuellen politischen Zustände im Bezug auf die Bildung der Jugend.

„Die wahren Verbrecher des Krieges verschweigen uns die Lehrer bewusst!“, sagt »ME« energisch. „Nur wenige haben eine Ahnung von der Existenz der Hintermänner der imperialen Staatsführung, die zu Zeiten Philippe Pétains Frankreich an den Rand des Untergangs getrieben haben!“

„Wer sind die Leute?“

„Geheimbünde, die mit Luzifer paktieren!“

„Der Beelzebub ist eine Märchenfigur.“

„Wenn der Meister der Finsternis nur ein Hirngespinst ist, hätte sich sein Andenken nicht über alle Epochen der Menschheit, in der Malerei, auf der Bühne und in Aufzeichnungen, so hartnäckig gehalten.“

„Dieses Wesen ist ein Synonym für die Mächte des Verderbens.“

„Der Antichrist ist die treibende Kraft, die uns zu absonderlichen Handlungen verleitet, die wir unter normalen Umständen niemals täten.“

„Was vermag ein Mensch wider einen Dämon auszurichten?“

„Alles, wenn du Mumm in den Knochen hast!“

„Den Mut, aber nicht die Mittel und erst gar nicht das nötige Wissen!“

„Bist du bereit, gegen die vom Teufel besessene Staatslenker aktiv vorzugehen und einen Beitrag zur politischen Kunst zu leisten?“

„Wenn das der Karriere als Künstler förderlich ist.“

„Fertige eine Schablone an, besorge Autolack-Spraydosen und lege dir einen Decknamen zu. Das Motiv sprühen wir an die Wände der Stadt und sorgen so für einiges an Aufsehen. Wir benötigen außerdem einen Stadtplan und ein Notizbuch. Vergiss die Stifte nicht!“

„Ist »33« für dich in Ordnung? Das ist meine Lieblingszahl.“

„Perfekt!“

„Wie heißt du?“

„Das verrate ich niemandem!“

Der Unbekannte mit dem südfranzösischen Akzent hat ein außergewöhnliches Muttermal auf der linken Wange. Auf dem angehefteten Namensschild stehen nur die zwei genannten Buchstaben.

„Du überredest mich zu rebellischen Aktionen und sagst mir nicht einmal den Namen! Das ist wenig Vertrauen erweckend!“

„Das ist besser so. Öffentlich nenne ich stets nur den »Nom de Guerre«.

Freunden gegenüber, die das genauso zu handhaben. Wenn uns die Polizei erwischt, sagt der Ertappte nichts über die anderen aus. Den Tipp habe ich vom Großvater. Der ist in der Résistance gewesen.“

„Wer sagt dir, ob ich unter den Umständen überhaupt komme?“

„Ich spüre deinen Drang, dieses Land zu verändern, wodurch du dich von den meisten Jasagern unserer Generation unterscheidest.“

»ME« skizziert grob seine Vorstellungen auf die Rückseite eines Flugblatts.

„Bekommst du das hin?“

„Ich denke schon!“

„Wir treffen uns nächsten Mittwoch, um zwei Uhr nach Mitternacht, auf der »Pont du Carrousel« vor dem »Louvre«.“


Zwei Uhr in der Nacht. Vom »Place de la Concorde« kommend, rast ein Auto mit hoher Geschwindigkeit an Marcel vorbei. Kurz darauf schlendert »ME« in kurzen Hosen über die Brücke. »33« ist komplett in schwarz gekleidet. Der wohlhabende Sohn eines Winzers hat ein weißes T-Shirt und helle Halbschuhe an.

„Bist du bereit?“, fragt »33« mit konspirativem Unterton.

„Na klar!“, sagt »ME« emotionslos. „Zeig mir die Vorlage!“

„Die Polizei sieht uns an dieser Stelle von weitem!“

„Sei nicht so übervorsichtig! Je offensichtlicher, desto unauffälliger!“

»33« holt vorsichtig den Karton aus der Tüte und hält das labile Gebilde mit der Schutzfolie in den Schein der großen Laterne neben der »Statue des Wohlstands«, in deren hohlen Sockel einst das Häuschen zum Abkassieren des Brückenzolls untergebracht gewesen ist.

„Den Teufel hast du ausgezeichnet getroffen und die Buchstaben hast du perfekt hinbekommen. »ME33« als Signatur, übertrifft jede Erwartung!“

„Die Schrift habe ich auf unserem Rechner mit dem Zeichenschnitt

»Stencil« gestaltet und ausgedruckt.“

„Bist du wahnsinnig! Wenn dein Vater die Datei findet!“

„Ich bin nicht doof! Ich habe die Daten erst gar nicht gespeichert.“

„Wer hält die Schablone? Wer sprüht? Hast du den Notizblock eingesteckt?“

„Du bist mir einer! Bei der Nutzung des Computers rastest du aus, und im Gegenzug notierst du jede Straßenecke, an der wir sprühen auf dem Stadtplan. Wenn die Bullen uns schnappen, schreibt uns die städtische Reinigung spielend leicht die Rechnung für das Entfernen der Kunstwerke.“

„Sind wir erst bedeutende Künstler, beweisen wir mit diesen Aufzeichnungen, an welchen Stellen wir die kleinen Botschaften hinterlassen haben.“

„Warum sprayen wir nicht »Freestyle«? Das ginge schneller und das Ergebnis wirkt spontaner.“

„Das nervige Geschmiere? »Zigoing« oder »Shaboom«? Das hat keinen Style. Wo bleibt die politische Aussage? Die Leute sind von den knallbunten Schmierereien genervt und viele schauen erst gar nicht mehr hin. Mit der Form hat das Statement Charakter, einen Wiedererkennungswert!“

„Wir probieren die Wirkung des Graffitis besser erst einmal unten am Ufer aus?“

„So vergeuden wir nur Zeit! Den ersten Schritt wagen wir gleich am Gebäude gegenüber!“

„Am »Louvre«? Bist du von allen Geistern verlassen?“

„Das Schloss ist das bekannteste Kunstmuseum der Welt. Wir verewigen uns an seinen Mauern und sind morgen früh berühmt! Ein Skandal! Das bestbewachte Bauwerk Frankreichs ist verschandelt! Denke nur an die Presse, die ihre Fotoreporter schickt!“

„Und die Bullen?“

„Siehst du einen?“

„Jetzt nicht! Jeden Moment taucht eine Streife auf.“

„Künstler zermartern sich nicht das Hirn über solche Nebensächlichkeiten. Angst vernebelt die Sinne. Lass uns endlich loslegen!“

Die beiden Aktionskünstler überqueren den »Quai François Mitterrand« und schreiten auf den östlichen der fünf Torbögen zu. Auf dem anderen Ufer der »Seine« fährt ein Auto. Nervös zupft »ME« an einem Lederbändchen am Handgelenk. Das Brummen verhallt in Richtung »Palais Bourbon«. Unmittelbar unterhalb der italienischen Gemälden des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts hält »33« die Schablone an die halbhohe Wand mit steinernen Sitzgelegenheiten, die den Fußgängerbereich vom Verkehr trennt. Diese Ecke ist von zufällig vorbeifahrenden Fahrzeugen aus nicht einsichtbar. »ME« sprüht gleichmäßig – von links nach rechts und von oben nach unten – über die ausgeschnitten Stellen im Karton. Der erfahrene Hobby-Lackierer dreht die Dose auf den Kopf und bläst die restliche Farbe aus dem Ventil, um das Eintrocknen der Düse zu verhindern. Im Licht einer Taschenlampe holt »33« das Notizbuch aus der Tüte und notiert den Ort und die Uhrzeit. Ein erhabener Blick auf das gelungene Werk. Nach einer kurzen Trockenzeit verstauen die Freunde ihre Tatwerkzeuge wieder.

„Wo sprühen wir als nächstes?“

„Im Durchgang gegenüber zur »Rue de Rivoli«.“

„Du läufst nicht allen Ernstes übers offene Gelände? An den Laternen sind Kameras installiert.“

„Wir kriechen durch die Hecken. Dort sind wir für die Überwachungsbeamten unsichtbar.“

„Am Ufer sind wir überhaupt nicht zu sehen!“

„Für wahr! Und kein Mensch sieht dort unsere Botschaften!“

Wenige Meter vor dem »Arc de Triomphe du Carrousel« leuchten im »Cour Napoléon« schlagartig gleißend helle Flutlichter. Schnell ducken sich die ihre Köpfe. Ein rechteckig geschnittenes Gebüsch dient ihnen als Deckung. Aus einem Seitenportal des Museums strömen schwer bewaffnete Soldaten auf den Platz und postieren sich in einer Linie vor der größten der gläsernen Pyramiden.

„Ich habe dich vor den Überwachungsgeräten gewarnt!“, keucht

»33« panisch. „Jetzt sind wir geliefert!“

„Diese Veranstaltung ist staatlicher Natur und hat mit uns nichts zu schaffen. Einer der intriganten und korrupten Politiker empfängt vermutlich mitten in der Nacht einen geheimen Staatsgast. Die Medien sind aus leicht nachvollziehbaren Gründen nicht informiert.

Ich sehe auf jeden Fall niemanden von der Presse.“

„Und ich sehe keine Anzugträger. Nur Uniformierte. Das ist ein Manöver.“

„Im Zentrum der Stadt? Aber egal, lass uns hurtig verschwinden!“

Lautlos schwebt ein unbeleuchtetes Fluggerät heran. Das Luftfahrzeug, welches aus zwei durchdrungenen, ungleichen Zylindern mit einer komplizierten Oberflächenstruktur besteht, landet neben der großen Pyramide, ohne deren Glasfassade zu zerstören. Kurz bevor der seltsame Flieger aufsetzt, umgibt blaues Licht das Gefährt. Staub wirbelt auf. Eine Tür am Rumpf öffnet sich und eine Rampe fährt aus.

„Ich traue meinen Augen nicht! Und ich bin der Auffassung gewesen, alle Flugzeuge der Welt zu kennen! Das Gerät widerspricht allen Regeln der Aerodynamik!“

„Ich sehe weder Kennzeichen noch Flagge. Die Maschine scheint nicht aus Frankreich zu stammen.“

„Das ist garantiert eine asiatische Neuentwicklung. Ungewöhnlich leise!“

Ein Dutzend Männer und Frauen in Zivil schreiten andächtig durch das Tor des »Cour Carrée«, der seit dem Auszug des Finanzministeriums Teil der Ausstellung ist. Zwei Mitarbeiter tragen ein für den Louvre verhältnismäßig kleines Gemälde aus den Beständen der Kunstsammlung heraus.

„Das sind die »Arkadischen Hirten« von Poussin“, erkennt »ME« das Bild aus der Mitte des siebzehnten Jahrhunderts.

„Erkennst du das Motiv aus der Entfernung?“

„Das Bild ist Thema einer Hausarbeit gewesen“, sagt »ME«.

„Was denkst du?“, fragt »33«. „Hat das Museum das Bild verkauft? Hat der Louvre das Recht, den Besitz der französischen Nation zu veräußern?“

„Das Bildnis umgibt ein Geheimnis. Zwei Schäfer deuten auf den Schriftzug »ET•IN•ARCA•DIAEGO«. Schatzsucher vermuten hinter den Worten einen Hinweis auf das Grab Jesu oder eines Apostels.

Der steinerne Sarkophag steht, dem Gelände nach zu urteilen, in Südfrankreich.“

„Was ein Zufall!“, erinnert sich »33«. „Wir haben uns in Latein mit genau jenem Spruch befasst. »Und in Arkadien ich«, ergibt keinen Sinn! Also haben wir angefangen, die Buchstaben anders aneinanderzureihen. Das ist lustig gewesen. Ich erinnere mich an die Kombination »ET•IN•ARCA•DIAEGO«.

Demnach liegt der Heilige Jacob im Bogen und nicht Jesus!“

„Hut ab! Nicht übel für einen Laien! Jeder Verschwörungstheoretiker nähme dir die Theorie mit Kusshand ab. Das Tor erscheint mir in dem Zusammenhang nicht zu passen.“

„Welche Ecke des »Midi« ist das?“

„Angeblich aus der Nähe von »Rennes-le-Château«.“

Aus dem futuristischen Flugapparat kommen düstere, in lange dunkle Mäntel gekleidete Figuren die Rampe heruntergelaufen. Zwei von den Fremden schleppen eine Packung, dessen Papier mattschwarz gefärbt ist. Ein Anzugträger aus den Reihen der Museumsleute schreitet würdevoll auf die absonderlichen Ankömmlinge zu.

„Das ist unser Staatspräsident!“, entfährt »33« ein Erstaunen. Auf ein Kommando hasten die Schatten eilig zur Seite. Mit übermenschlich großen Schritten eilt ein zweibeiniges Wesen im Format eines Goliaths auf das Staatsoberhaupt zu.

„Glaubst du mir jetzt“, holt »ME« tief Atem, „was ich dir über die Verbindung der Regierung zum Teufel gesagt habe?“

„Der ist annähernd drei Meter groß!“, sagt »33« ein wenig zu laut.

„Leise! Wenn der uns hört, sind wir geliefert!“

Der Riese gibt dem Präsidenten die Hand. Das Landesoberhaupt verbeugt sich unterwürfig und ordnet mit einer Handbewegung die Übergabe des Gemäldes an. Die Museumsmitarbeiter erhalten im Austausch das schwarze Paket. Die dubiosen Gestalten kehren mit den »Arkadischen Hirten« in das Fluggerät zurück, begleitet von dem Giganten, der seinen Untergebenen langsamen hinterherschreitet.

Der Staatschef winkt zufrieden und lächelt politisch korrekt. Geräuschlos entschwindet der Spuk in der Dunkelheit der Nacht. Lastwagen der Armee brausen aus beiden Richtungen auf den »Place du Carrousel« und die Sicherheitskräfte leiten den Abzug ein.

„Zu dumm, ich habe meinen Fotoapparat vergessen! Derartige Aufnahmen sind gewiss ein Leckerbissen für die Boulevardpresse!“

„Das Spektakel hat uns die beste Zeit für eigene Kunstwerke geraubt.

Gleich öffnen die Bäckereien!“

Im Osten graut der Himmel über den Dächern des Palastes. Die zwei stehen unvorsichtigerweise auf und setzen ihren Weg fort. Ein lauter Pfiff ertönt und dringt ihnen bis ins Mark. Einige Soldaten steht im Schatten des Triumphbogens und sind von den mittlerweile Übermüdeten übersehen worden.

„Unbekannte Subjekte!“, ruft ein vermutlich altgedienter Haudegen.

„Dort, an der Hecke!“

„Ergreifen!“, befiehlt eine Frau in Uniform.

Der Fettleibige trampelt los und zerrt am Revolver. Der Verschluss des Halfters klemmt. Der Uniformierte verlangsamt das Tempo, um sich mehr auf das Waffenetui zu konzentrieren.

„Nichts wie weg!“, zischt »ME«. „Lauf!“

Ohne sich umzudrehen, rennen die Ertappten zum »Jardin des Tuileries«.

„Die Vorlagen!“, keucht »33« atemlos. „Ich habe unsere Tüte liegen lassen.“

Ein Schuss fällt! Entgegen aller Vernunft beschleunigen die Freunde in ihrer Todesangst die Laufgeschwindigkeit.

„Feuer einstellen!“, schreit die Vorgesetzte. „Sind Sie wahnsinnig? Sie hatten Befehl, die Agenten festzunehmen, nicht zu erschießen!“

„Das ist ein Warnschuss in die Luft gewesen!“, verteidigt sich der Angesprochene.

„Wir sind nicht im Krieg! Fassen Sie die Kerle, ohne gleich die halbe Stadt zu wecken!“

»ME« und »33« erreichen das Ende des »Louvre« und gelangen an den »Quai François Mitterrand«. Von dort führt der Sprint zur gegenüberliegenden Straßenseite und dort eine Treppe zum »Quai des Tuileries« hinunter. Die Flüchtenden wenden sich nach links und nähern so der »Pont Royal«.

„Durchhalten!“, treibt der sportliche »ME« zur Eile an. „Unter der nächsten Brücke lebt ein Bekannter von mir.“

In den zahlreichen Nischen zwischen den Pfeilern stehen Zelte von Obdachlosen.

„Etienne! – Etienne, bist du da?“

„Wer ist da?“, ruft eine jugendliche Stimme aus einer der Einbuchtungen.

„Ich bin’s, Thomas. Wo steckst du? Uns sind Soldaten auf den Fersen!“

„Uns Kleinkriminelle jagt gelegentlich die Polizei und ihr legt euch mit der ganzen Armee an? Respekt, Kollege!“

Der minderjährige Stadtstreicher zieht einladend die Zeltbahnen auseinander. Die beiden schlüpfen hektisch hinein. Der seit längerer Zeit ohne Körperpflege lebende »Clochard« schließt den Reißverschluss. Aus Erfahrung lässt der Lebenskünstler den Eingang einen Spalt offen, um hinaus zu spähen. Das stampfende Traben sich nähernder Armeestiefel verstärkt sich im Widerhall des Kalksteingewölbes. Unmittelbar vor dem Zelt verschnaufen die Uniformierten. Die Gejagten halten die Luft an. Anspannung und die Hitze treiben ihnen den Schweiß auf die Stirn.

„Na bravo!“, beschwert sich die Vorgesetzte. „Die sind über alle Berge!“

„Wenn Sie mich fragen“, entschuldigt sich der alte Mann in Uniform, der die vermeintlichen Agenten entdeckt hat, „sind das womöglich Kinder! Die zugegeben äußerst sportlichen Backfische haben das Entscheidende gewiss nicht zur Kenntnis genommen.

Die Nachteulen sind zum besagten Zeitpunkt schlicht zu weit weg gewesen.“

„Dank der unüberlegten Schießerei kommen wir nicht umhin, die Zeugen zu eliminieren! Nicht auszudenken, wenn die Geschichte in der Presse erscheint!“

„Ohne Hintergrundwissen sind ihre Aussagen wertlos! Die Medien oder die Polizei interessieren sich nicht für das Abfeuern einer Waffe, wenn dies folgenlos geschieht. Jede Nacht fallen Schüsse in Paris. Entlang der großen Boulevards haben alle Metropläne Einschusslöcher. Durchgeknallte Halbwüchsige in schnellen Autos nutzen die hell erleuchteten Flächen als Zielscheiben. Die subversiven Subjekte haben, wenn überhaupt, den Präsidenten gesehen, der einen Staatsgast verabschiedet hat.“

„Haben die Vögelchen den Austausch der Geschenke denn mitbekommen?“

„Peinlich ist die fehlende Verpackung! Eine maßlose Schlamperei! Das hat Konsequenzen!“

„Unser Gast hat deinen Fauxpas galant übersehen. Vermutlich sind die schwulen Burschen nur zufällig vor Ort gewesen. Die Hecken dienen zur Deckung ihrer Spielchen.“

„Ruhe!“, mault ein Obdachloser auf der anderen Seite des Gehweges.

„Du bringst der Organisation nur Schande. In meiner Einheit ist kein Platz mehr für dich!“

»33« sieht vorsichtig hinaus. Der Waffenträger zieht der angestauten Hitze wegen sein Barett vom Kopf. Der Mann hat eine Glatze und auffallend kleine Ohren. Derart winzige Hörorgane hat Marcel bislang nicht beobachtet. Weitere Soldaten, die den Uferweg in die entgegengesetzte Richtung abgesucht haben, erreichen ihre Vorgesetzte und nehmen ebenfalls ihre Kopfbedeckungen ab. Keiner von Ihnen hat Haare auf dem Kopf. Nicht einmal ihre Chefin. Und alle haben die gleichen Besonderheiten.

„Wir vergeuden kostbare Zeit. Erstatten Sie Meldung! Abzug!“

„Der Leitungsstab hat uns sein Kommen zu spät angekündigt! Wir sind zu sehr in Eile gewesen, um das Gelände angemessen abzusichern!“

„Der Meister liebt spontane Auftritte! Selbst wenn die Schwuchteln das Bild erkannt haben, ist die Information alleine wertlos!“

Der Trupp kehrt zur Treppe an der »Pont Royal« zurück. Leise und beständig plätschert das Wasser der »Seine« gegen das gemauerte Ufer. Der Hund winselt nicht mehr. Der heiße Wind lässt die Zeltbahnen flattern. Ein Lastwagen fährt über die Brücke.

„Verfolgt von Außerirdischen!“, seufzt »ME«.

„Sind dir ihre winzigen Lauscher aufgefallen?“, fragt »33«.

„Ein nicht zu übersehendes Merkmal! Danke, Etienne, du hast uns das Leben gerettet.“

„Keine Ursache! Diese blassen Gestalten sind öfter entlang des Ufers anzutreffen und ständig auf der Suche nach einer imaginären Bedrohung. Uns Obdachlose nehmen die merkwürdigen Wesen aus unerfindlichen Gründen nicht wahr. Nicht die geringste Ahnung, warum das so ist. Als ob wir aus Luft bestünden.“

„Wir haben einen Riesen gesehen. Eine furchteinflößende Erscheinung, deren Anblick scheinbar verboten ist. Einer der Soldaten – der Alte – hat auf uns geschossen! In was sind wir da nur hineingeraten? Weshalb steht von übergroßen Existenzen nichts in den Zeitungen?“

„Hauptsache, ihr seid erst einmal in Sicherheit!“

„Ich bringe dir bei Gelegenheit eine Pulle Wein vorbei“, bietet »ME« seinem Freund an. „Ist das okay für dich?“

„Da sage ich niemals nein! Das weißt du. Bleibt eine Weile in meinem Zelt.“

„Ich gehe nach Hause“, drängelt »33«. „Bald fängt die Schule an!“

„Verstehe! Freut mich, dich kennengelernt zu haben. Wenn du am Ufer bist, schaue bei mir rein. Du bist immer willkommen!“


Marcel begeht den Fehler, sich kurz auf sein Bett zu legen. Der Wecker klingelt. Der Übermüdete wacht nicht auf und verpasst das Frühstück. Sein Vater hat das Haus früh am Morgen verlassen. Der Ingenieur eines französischen Fahrzeugkonzerns zieht die frühen Morgenstunden vor, um am Nachmittag Zeit für sich zu haben.

Die bretonische Mutter ist Parfümverkäuferin in einem der gigantischen Kaufhäuser hinter der »Opéra Garnier«. Cécile Amidieu ist ein Kopf größer als sein Alter Herr, weshalb der Spätpubertäre nur ungern mit den Eltern Gemeinsames unternimmt, insbesondere wenn Schulkameraden am gleichen Ort zu erwarten sind. Die strenge Mama wünscht sich nichts sehnlicher für ihren begabten Sohn als ein Studienplatz an der Elite-Universität »Sorbonne«. Vor ihrem Weg zur Arbeit rüttelt diese an der Zimmertür, um sich zu verabschieden. Aus Panik, den Geruch des Obdachlosen zu verbreiten, bleibt die Tür verschlossen.

„Bist du erkältet mein Liebling?“

„Nein, ich habe nur miserabel geschlafen!“

„Hast du gestern zu lange ferngesehen?“

„Bin beim Film eingeschlafen und mich haben Alpträume geplagt!“, lautet die Ausrede.

„Du hast in Kürze deine Prüfungen! Nervosität ist absolut normal.

Stehe endlich auf und gehe in die Schule!“

„Lass mich in Ruhe! Ich bin kein Kind mehr!“

„Dein Frühstück steht auf dem Tisch. Ich gehe jetzt los, mein Schatz!“

„Danke, Mama! Bis heute Abend.“

Marcel brüht sich am Gasherd in der kleinen schmalen Küche erst einmal einen überdosierten, von Hand gefilterten Kaffee. Das dickflüssige Aufputschmittel schmerzt im Gaumen und erzeugt kurz darauf Herzrasen. Marcel zittert am ganzen Körper. Der Raubbau an den Reserven hat zur Unterzuckerung geführt. Der Junge flucht wegen der eigenen Dummheit laut vor sich hin. Drei längliche Würfelzucker versinken in der öligen Substanz der zweiten Tasse. Der Gestank der Nacht schreit nach einer heißen Dusche. Ein weiterer Schluck zur Probe.

„Schon besser! Zwei Zucker mehr und die Mischung ist perfekt!“ Die Müdigkeit steckt tief in den Knochen. Der Gymnasiast schleppt sich zu dem ehrwürdigen Bauwerk, in dem das »Lycée Louis le Grand« seit 1563 untergebracht ist. Marcel steigt an der Metro-Station »Cluny – La Sorbonne« aus, durchschreitet den »Jardin Médiéval«, überquert den »Place Paul Painlevé« und biegt in die »Rue des Écoles« ab. Ihn trifft der Schlag. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite lehnt »ME« an einer Hauswand und winkt ihn zu sich herüber.

„Ich habe auf dich gewartet.“

„Woher weißt du, auf welche Schule ich gehe?“

„Ist das so wichtig? Lass uns nach der Tüte suchen, bevor die Polizei unsere Unterlagen findet!“

„Ich schwänze nicht! Wir haben demnächst die ersten schriftlichen Klausuren.“

„Du handelst dir weit mehr Ärger ein, wenn die Schablone in die falschen Hände gerät!“

„Warum bist du nicht sofort zum Louvre gegangen?“

„Du beobachtest den Platz und warnst mich, falls diese sonderbaren Gestalten wieder auftauchen!“

Auf dem »Place du Carrousel« patrouillieren keine Glatzköpfigen mehr. Scharen von ahnungslosen Urlaubern stehen vor der großen Pyramide Schlange, weil ihnen der Nebeneingang, an dem sich nur selten Warteschlangen bilden, nicht bekannt ist. Trotz intensivem Stöberns bleibt die Tüte unauffindbar. Entweder haben die Soldaten das Beweismittel aufgelesen oder der Kehrdienst den Müll entfernt. Einige Touristen fotografieren ihr nächtliches Werk.


„Was habe ich dir gesagt!“, triumphiert »ME«. „Morgen lesen wir einen Artikel über das Kunstwerk in der Zeitung! Lass uns gleich heute Abend weitermachen!“

„Ich habe den Unterricht geschwänzt! Ich hoffe, meine Eltern bekommen davon nichts mit.“

„Du bist erwachsen. Schreibe deine Entschuldigung selbst!“


King Artus und das Geheimnis von Avalon

Подняться наверх