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Die Photographie als Ausdruck und Mittel der Integration

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Um die Unzulänglichkeit einer rein psychologischen Erklärung der photographischen Praxis und deren Verbreitung endgültig zu bekräftigen, bedarf es des Nachweises, daß eine soziologische Erklärung diese Praxis vollständig zu begründen vermag, und zwar nicht allein diese selbst, sondern obendrein ihre Instrumente, ihre bevorzugten Gegenstände, ihre Rhythmen, ihre Anlässe, ihre implizite Ästhetik, ja selbst die Erfahrung, die die Subjekte mit ihr machen, die Bedeutungen, die sie ihr verleihen, und die psychischen Gratifikationen, die sie aus ihr ziehen. Was dem Betrachter sogleich auffällt, sind die zahlreichen Regelmäßigkeiten, nach denen sich die allgemeine Praxis organisiert7: Nur wenige andere Tätigkeiten sind gleich stereotyp und der Anarchie individueller Absichten weniger überlassen. Mehr als zwei Drittel der Photoamateure sind Saisonkonformisten, die ihre Aufnahmen bei Familienfesten oder Freundestreffen oder in den Sommerferien machen.8 Wenn man bedenkt, daß eine sehr enge Korrelation besteht zwischen dem Merkmal »Haushalt mit Kindern« und dem Besitz eines Photoapparats, und daß dieser oft das Eigentum der ganzen Familie ist, dann wird klar, daß die photographische Praxis meist einzig ihrer Funktion für die Familie wegen lebendig bleibt, genauer: durch die Funktion, die ihr die Familie zuweist, nämlich die großen Augenblicke des Familiendaseins zu feiern und zu überliefern, kurz, die Integration der Familiengruppe zu verstärken, indem sie immer wieder das Gefühl neu bestätigt, das die Gruppe von sich und ihrer Einheit hat.9 In dem Maße, wie die Familienphotographie als Ritus des Hauskultes dient – wobei die Familie Subjekt und Objekt zugleich ist –, wie sie das Gefühl des Festes, das die Familie sich gibt, zum Ausdruck bringt und dadurch verstärkt, werden das Bedürfnis nach Photographien und das Bedürfnis zu photographieren (die Verinnerlichung der sozialen Rolle dieser Praxis) um so lebhafter empfunden, je integrierter die Gruppe und je höher die Integrationskraft des Augenblicks ist.10 Es ist also kein Zufall, wenn die soziale Bedeutung und die Funktion der Photographie nirgendwo deutlicher zutage treten als in einer ländlichen Gemeinde, die stark integriert und nachhaltig ihren bäuerlichen Traditionen verhaftet ist.11 Daß das photographische Bildnis, diese ungewöhnliche Erfindung, die Verwirrung oder Unruhe hätte stiften können, sich rasch einbürgert und durchsetzt (zwischen 1905 und 1914), hat seinen Grund darin, daß es alte, ihm vorausliegende Funktionen wahrnimmt, nämlich die hohen Zeitpunkte des kollektiven Lebens einzufangen und auf Dauerhaftigkeit zu stellen. Die Hochzeitsphotographie wurde deshalb so schnell und allgemein akzeptiert, weil sie den Zusammenhang mit ihren gesellschaftlichen Existenzbedingungen offen einbekannte – die Verschwendung als Verhaltensbestandteil bei Festlichkeiten, der Erwerb des Gruppenbildes, der demonstrative Aufwand, dem sich niemand entziehen konnte, ohne gegen den Ehrenkodex zu verstoßen, all dies wird als obligatorisch empfunden, als Element einer Huldigung, die den Jungverheirateten erwiesen wird.

»Das Gruppenphoto ist sich jeder schuldig; wer keines abnehmen würde, gälte als geizig. Es wäre ein Affront gegenüber jenen, die zum Fest eingeladen haben. Es wäre rücksichtslos. Am Tisch ist man unter aller Augen, da kann keiner nein sagen.«

Als Objekt geregelter Tauschhandlungen tritt die Photographie in den Kreislauf der Geschenke und Gegengeschenke ein, deren Anlaß die Hochzeit ist. Dies bringt es mit sich, daß es keine Hochzeit ohne den Photographen gibt. Die Zeremonie der Gruppenphotographie bleibt selbst dann in Geltung, wenn bloß Photoamateure zugegen sind; sie können für den Berufsphotographen einspringen, für den Priester, dessen Anwesenheit die Feierlichkeit des Rituals sanktioniert, doch sie können ihn niemals ersetzen.

»Manchmal sitzen unter den geladenen Gästen auch Photoamateure. Aber man läßt trotzdem Photographen aus Pau kommen; die Amateure nehmen das Paar auf, während es gerade auf der Kirche kommt. [...] Solche Photos gibt es, wenn Amateure dabei waren, die vorher rausgegangen sind, die wissen, daß man das so macht. Sie machen sogar in der Kirche Aufnahmen, wenn am Altar die Ringe getauscht werden.«

Und noch ein Hinweis auf den rituellen Charakter der Photographie: »Der Photograph macht niemals Bilder vom Essen oder vom anschließenden Tanz.«12 Überdies können die Amateurphotographien gegenüber den »offiziellen« Bildern nicht bestehen, die man im Atelier machen läßt, um sie Verwandten und Freunden zu schicken: »Alle lassen sich dort im Atelier aufnehmen, sogar die ganz Armen.«

Geht man mit Durkheim davon aus, daß die Funktion von Festen darin besteht, die Gruppe zu neuem Leben zu erwecken, sie neu zu erschaffen, so versteht man, warum die Photographie hier die Rolle spielt, die sie spielt: Sie ist ein Mittel, die großen Augenblicke des gesellschaftlichen Lebens, in denen die Gruppe ihre Einheit aufs neue bestätigt, zu feiern. Im Falle der Hochzeit gehört das Bild, das die versammelte Gruppe, genauer: die Versammlung zweier Gruppen, für die Ewigkeit festhält, notwendig zu einem Ritual, das den Bund zweier Gruppen, der auf dem Umweg über den Bund zweier Individuen geschlossen wird, weiht, d.h. sanktioniert und heiligt.

Und so ist es ebensowenig ein Zufall, wenn die Reihenfolge, in der die Photographie sich in das Ritual der großen Familienzeremonien eingeführt hat, der sozialen Bedeutung dieser Zeremonien entspricht. Erst seit Beginn der dreißiger Jahre tauchen Aufnahmen von der Erstkommunion auf, und Photographien aus Anlaß einer Taufe sind noch jüngeren Datums und noch seltener. In jüngster Zeit nutzen manche Bauern den Umstand, daß die Vertreter landwirtschaftlicher Genossenschaften von Photographen begleitet werden, dazu, sich mit ihrem Vieh photographieren zu lassen; aber sie bilden eine Ausnahme. Was die Taufen betrifft, die niemals zu einer großen Zeremonie Anlaß geben und bei denen bloß die nächsten Anverwandten zusammenkommen, so sind Photos von ihnen überaus rar. Meist gibt die Erstkommunion den Müttern eine erste Gelegenheit, ihre Kinder photographieren zu lassen. Daran wird erneut deutlich, daß Bedeutung und Rolle der Photographie eine Funktion der sozialen Bedeutung eines Festes sind:

»Bei einer Hochzeit wird der Photograph niemals gebeten, die Kinder aufzunehmen. Ausgeschlossen. Das geschieht am Tag der ersten heiligen Kommunion, dem Fest der Kinder. Der Photograph macht ein gutes Geschäft. Der Hochzeitstag ist nicht zu Ehren der Kleinen, er ist nicht ihr Festtag. Um die Kinder kümmert sich an einem solchen Tag kein Mensch.«

Wie bei der Hochzeit fügt sich auch hier die Photographie in den Kreislauf der rituell auferlegten Tauschhandlungen ein. Das Photo vom Kommunionkind, am Montag nach der Zeremonie in der nächsten Stadt aufgenommen, ist in jüngster Zeit zum Erinnerungsphoto der Erstkommunion hinzugetreten, das die Kinder den Verwandten und Nachbarn als Gegengabe für ein Geschenk überreichten.

Man kann der Mutter nur beipflichten, die ihre Kinder photographieren läßt. Niemals zuvor stand das Kind ähnlich offen im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit wie heute. Die großen Feste und Zeremonien der Dorfgesellschaft waren vor allem eine Angelegenheit der Erwachsenen. Erst seit 1945 haben die Feste der Kinder, z.B. die Erstkommunion, an Glanz und sozialer Stichhaltigkeit gewonnen: Je größer der Platz wird, den die Gesellschaft den Kindern und zugleich der Frau als Mutter einräumt, desto mehr verstärkt sich der Brauch, sie photographieren zu lassen. In der Sammlung eines kleinen Dorfbauern zeigt die Hälfte der nach 1945 aufgenommenen Bildnisse Kinder, während Kinder auf den Photos aus der Zeit vor 1939 fast nicht vorkommen. Früher photographierte man überwiegend Erwachsene, dann Familiengruppen, wobei sich die Kinder eher beiläufig zu den Erwachsenen gesellten. Heute hat sich diese Hierarchie umgekehrt.

Doch auch die Photographie von Kindern wird in aller Regel nur deshalb in die Zeremonie mit eingeführt, weil sie eine soziale Funktion erfüllt. Die Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern behält der Frau die Aufgabe vor, die Beziehungen zwischen den Gruppenmitgliedern zu pflegen, die weitab, häufig in einem eigenständigen Familienverband leben. Ebenso wie der Brief und mehr noch als dieser dient die Photographie mit dazu, die Bekanntheit der Verwandten untereinander stets auf dem neuesten Stand zu halten. Nicht zufällig führt das Versenden von Photographien nach einer Hochzeit im allgemeinen zu einer Wiederbelebung der Korrespondenz. Es ist üblich, die Kinder (gelegentlich, nach Möglichkeit jedoch regelmäßig) zur Verwandtschaft außerhalb des Dorfes und vor allem, falls die Braut von auswärts stammt, zu deren Mutter mitzunehmen. Es ist stets die Frau, die derlei Besuche anregt, und manchmal unternimmt sie diese auch ohne den Ehemann. Der Austausch von Photos hat den nämlichen Zweck: Mit dem Bildnis präsentiert man dem Ensemble der Gruppe den Neuankömmling, den diese »anerkennen« muß.

So ist es denn nur natürlich, daß die Photographie zum Gegenstand einer »Lektüre« wird, die als soziologisch gelten kann, und daß sie niemals an sich und für sich, im Hinblick auf ihre technischen oder ästhetischen Qualitäten »gelesen« wird. Vom Photographen wird erwartet, daß er sein Metier versteht, und Vergleichskriterien sind keine zur Hand. Die Photographie soll lediglich eine treue und genaue Darstellung liefern, um das Wiedererkennen zu ermöglichen. Man nimmt eine methodische Prüfung und Längsschnittbeobachtung vor, die derselben Logik gehorcht, die das Kennenlernen von Personen im Alltag beherrscht: Über einen Vergleich des Bildes mit den eigenen Kenntnissen und Erfahrungen ordnet man jede Person unter Berufung auf deren genealogische Linie ein. Die Lektüre alter Hochzeitsphotos nimmt oft Züge eines Kursus in Genealogie an – die Mutter, Expertin auf diesem Gebiet, erläutert dem Kind die Beziehungen, durch die es mit jeder der abgebildeten Personen verbunden ist. Man möchte gern wissen, wie die Paare zusammenfanden, man analysiert und vergleicht das Feld der sozialen Interaktionen jeder der beiden Familien, man registriert die Abwesenden – ein Zeichen für irgendwelche Zwistigkeiten – und die Anwesenden (die wissen, was sich gehört). Kurz, die Hochzeitsphotographie ist ein veritables Soziogramm und wird auch so verstanden.

Jedem geladenen Gast wird die Photographie zur Trophäe, zum Zeichen gesellschaftlicher Geltung und zur Quelle von Prestige. Als Angehöriger einer »kleinen Familie« besitzt B.M., ein Dorfbauer, nur drei Hochzeitsbilder.13 J.B. dagegen, ein gutsituierter Städter, verheiratet mit der jüngeren Tochter einer »großen Familie«, besitzt eine stattliche Anzahl solcher Aufnahmen, wobei zu diesen noch Photos von Kollegen hinzukommen, die bei Spaziergängen oder Ausflügen aufgenommen wurden. Bei näherer Betrachtung der eingeladenen Gäste treten bedeutsame Unterschied hervor: Die Gäste von B.M. sind vorwiegend Verwandte und Nachbarn, das Auswahlprinzip ist traditionell; bei der Heirat von J.B. erschienen außer den obligatorisch Geladenen auch die »Kameraden« des Bräutigams und sogar die Freundinnen der Braut.

Wer sich photographieren läßt, ist damit einverstanden, daß seine Gegenwart bezeugt wird – unverzichtbare Gegenleistung für die durch die Einladung empfangene Wertschätzung; damit bringt man zum Ausdruck, daß man die Ehre der Einladung würdigt und daß man teilnimmt, um anderen seine Wertschätzung zu bekunden.

»Du warst bei Gott weiß was für einer Hochzeit, aber nicht mit auf dem Photo. Das ist aufgefallen. Du warst nicht mit der Gruppe dabei, man hat gesagt, daß M. L. nicht mit auf dem Photo war. Man hat gedacht, daß du dich entzogen hast, das wird übel aufgenommen.« (Junge Frau aus einer kleinen Provinzstadt zu ihrem Mann im Verlauf einer Unterhaltung)

Wie auch sollten Stimmung und Haltung der abgebildeten Personen nicht von Feierlichkeit gekennzeichnet sein? Keinem kommt es in den Sinn, sich den Anordnungen des Photographen zu widersetzen, mit seinem Nachbarn zu sprechen oder nicht zur Kamera zu blicken. Das wäre gegen jeden Anstand, geradezu ein Affront gegenüber der ganzen Gruppe und, in den Augen des Familienoberhaupts, gegenüber denen, die »ihren Ehrentag« begehen, den Familien der Neuvermählten.

Das Photographieren von großen Zeremonien ist deshalb – und nur deshalb – möglich, weil die Photographie gesellschaftlich gebilligte und geregelte, d.h. bereits in den Rang des Feierlichen erhobene Verhaltensweisen festhält. Nichts darf photographiert werden außer dem, was photographiert werden muß. Die Zeremonie darf photographiert werden, weil sie von der alltäglichen Routine abweicht, und sie muß photographiert werden, weil sie das Bild verwirklicht, das die Gruppe als Gruppe von sich zu vermitteln wünscht. Das, was photographiert wird und was der »Leser« der Photographie erfaßt, sind strenggenommen keine Individuen in ihrer Besonderheit, sondern soziale Rollen: der Jungvermählte, der Erstkommunikant, der Soldat, oder soziale Beziehungen: der Onkel aus Amerika oder die Tante aus Sauvagnon.

So enthält beispielsweise die Sammlung von B.M. ein Bild, das den ersten Typus perfekt illustriert: Es zeigt den Schwager des Vaters von B. M. in der Uniform des städtischen Briefträgers. Die Schirmmütze auf dem Kopf, das weiße Hemd mit Stehkragen, die weißkarierte Krawatte, der Gehrock ohne Revers, auf der Brust eine Blechmarke mit der Nummer 471, die mit goldenen Knöpfen verzierte Weste hochgeschlossen, die Uhrkette sichtbar drapiert, so posiert er stehend, mit der rechten Hand auf ein kleines Podest in orientalischem Stil aufgestützt. Dieses Bild, das die in einen anderen Ort gezogene Tochter ihrer Familie schickte, ist nicht die Photographie ihres Mannes, sondern das Symbol seines gesellschaftlichen Erfolgs. – Eine Illustration für den zweiten Typus ist eine Photographie, die aus Anlaß eines Besuchs des Schwagers von B.M. in Lesquire aufgenommen wurde und die die Begegnung der beiden Familien feiert, indem sie auf einem Bild Onkel und Nichten, Neffen und Tanten vereint. So als habe man bekunden wollen, daß das eigentliche Objekt der Photographie nicht die Individuen sind, sondern die Beziehungen zwischen ihnen, tragen die Eltern der einen Familie auf ihren Armen die Kinder der anderen.16

Die meisten bäuerlichen Familien »verstauen« die Photographien in einer Schachtel, ausgenommen das Hochzeitsbild und bestimmte Porträtphotos. Es wäre schamlos und indiskret, wenn jeder Besucher sofort die Bilder von Familienmitgliedern zu Gesicht bekäme. Der große Gemeinschaftsraum, die Küche, zeigt nur unpersönlichen Schmuck, der allerorten derselbe ist, einen Kalender der Post oder der Feuerwehr, Reproduktionen in aufdringlichen Farben, die man von einer Reise nach Lourdes mitgebracht oder in Pau gekauft hat. Die zeremoniellen Photographien sind entweder zu feierlich oder zu intim, als daß man sie an dem Ort des täglichen Lebens zur Schau stellen dürfte; ihr Platz ist das prunkvolle Empfangszimmer, der Salon oder, für die Photographien verstorbener Verwandter, die Kammer, neben den Votivbildchen, dem Kruzifix und dem Buchsbaumzweig über dem Weihwasserkessel. Amateurphotographien werden von den Bauern in der Schublade verwahrt, von den Kleinbürgern dekorativ gebraucht oder affektiv besetzt: vergrößert und gerahmt, schmücken sie die Wände des Wohnzimmers zusammen mit den Reisesouvenirs. Sie okkupieren sogar den Altar der Familienwerte, den Kaminsims im Besuchszimmer, ja, sie nehmen den Platz von Medaillen ein, von Ehrenauszeichnungen und Ausbildungszertifikaten, die man früher dort zur Schau gestellt hatte und die die junge Dörflerin diskret in die dunkelste Ecke verbannt hat, gleich hinter der Tür, um »die Alten« nicht zu sehr vor den Kopf zu stoßen – als hätte sie Angst, sich damit lächerlich zu machen.

Obschon es einerseits zutrifft, daß die Städter in einem sehr allgemeinen Sinne die photographische Praxis akzeptiert haben, im Gegensatz zu den Bauern, die in ihr die Werte der urbanen Gesellschaft, die Negation der eigenen Werte erblicken und ablehnen, schreiben sie andererseits dem photographischen Bild in der Regel dieselbe Bedeutung und Funktion zu wie der Dörfler. Sie photographieren eigenhändig, was die Bauern vom Berufsphotographen aufnehmen lassen, doch ohne deshalb ein wirkliches Interesse für die Photographie im strengen Sinne zu entfalten. Auch gilt ihre Aufmerksamkeit mehr dem fertigen Bild als der Art und Weise, wie es zustande gekommen ist. Da sich das Bedürfnis, zu photographieren, in der Mehrzahl der Fälle als bloßes Bedürfnis nach Photographien erweist, wird verständlich, warum alle Faktoren, die eine Intensivierung des häuslichen Lebens und eine Verstärkung der Familienbande determinieren, das Auftreten und die Intensivierung der photographischen Praxis begünstigen.

Wenn diese Praxis im Laufe der Jahre an Reiz verliert, dann deshalb, weil mit der im Alter schwindenden Teilnahme am sozialen Geflecht und insbesondere am Kontext einer Familie, deren Mitglieder verstreut leben, die Gründe fürs Photographieren nicht länger bestehen. Daß der Unterschied zwischen dem Anteil der Photographierenden an den Unverheirateten und dem an den Verheirateten mit zunehmendem Alter immer größer wird, hängt damit zusammen, daß die verlängerte Ehelosigkeit stets ein Indiz für eine schwächere Integration in die Gemeinschaft ist. Daß die Beschäftigung mit der Photographie in den Ferien ihre Hochkonjunktur hat, erklärt sich teilweise daraus, daß die Ferien zu den »hohen Zeiten« des Familienlebens gehören (ganz besonders die Weihnachtsferien), während deren man die Bande mit entfernten Verwandten fester knüpft und durch den Austausch von Besuchen und Geschenken den Kontakt mit den nahen Verwandten intensiviert.17 Sachverhalte dieser Art – einmal abgesehen von dem, verglichen mit den traditionellen Familienaufnahmen, relativ hohen Anteil von Landschaftsbildern bei den Oberklassen – lassen sich allesamt bis zu einem gewissen Grad mit der Lockerung der Verbindungen (die sich gewöhnlich in den Ferien wieder festigen) zwischen der Kernfamilie und den übrigen, verstreut lebenden Familienmitgliedern erklären.18 Und wenn ein enger Zusammenhang besteht zwischen der Beschäftigung mit der Photographie und dem Merkmal »Haushalt mit Kindern« (und zwar um so stärker, je jünger diese sind), so zweifellos darum, weil die Gegenwart des Kindes die Integration der Gruppe und zugleich die Neigung verstärkt, das Bild dieser Integration festzuhalten, ein Bild, das seinerseits wiederum der Verstärkung der Integration dient.19 Dem »Familiengesetz« den Obolus zu entrichten, wird als zwingend empfunden: »Die Bilder von meinem Kleinen, ach so, ja, die lasse ich gleich dreimal abziehen, die brauche ich für die Großeltern und die Patentante.« Da die Photographien die besonderen Zeichen und Werkzeuge der Geselligkeit innerhalb der Familie sind, wird die Pflicht, die Verwandtschaft damit zu versorgen, deutlich wahrgenommen; sich ihr zu entziehen gilt als unhöflich oder als Aufkündigung des guten Einvernehmens. »Photos für die Familie? Das ist unvermeidlich, es ist eben höflicher. Wir schicken sie an Gott und die Welt, es ist völliger Blödsinn und kostet nur Geld, aber es gibt immer welche, die sich sonst ärgern würden.«

Je nach dem Integrationsgrad der Familiengruppe, je nach der Intensität der Bindungen, die sie mit den Verwandten der Haupt- und der Seitenlinie unterhält, kann die Liste der berechtigten Empfänger variieren; doch im Hinblick auf die Photographien der Kinder scheinen die Großeltern, die Verwandten der (vor allem mütterlichen) Hauptlinie und die Patin in jedem Fall dazuzugehören. Die geographische Versprengtheit der einzelnen Verwandten verlangt gebieterisch die mehr oder weniger regelmäßige Wiederbelebung der Verwandtschaftskontakte, und dem genügt die Photographie besser als der bloße Austausch von Briefen.

Das Photo selbst ist in den allermeisten Fällen nichts anderes als eine Reproduktion des Bildes, das der Gruppe von ihrer Integration. Unter den Photographien, auf denen Personen abgebildet sind, zeigen fast drei Viertel Gruppen und mehr als die Hälfte Kinder, allein oder gemeinsam mit Erwachsenen; Photos, auf denen Kinder zusammen mit Erwachsenen erscheinen, verdanken ihre Häufigkeit und ihr feierliches Aussehen (das sich vor allem in der konventionellen Starrheit der Posen ausdrückt) dem Umstand, daß sie das Bild des Familiengeschlechts festhalten und symbolisieren.20

Da sie das Objekt einer kollektiven und quasi-zeremoniellen Betrachtung herzustellen vermag, verlängert vor allem die Farbphotographie das Fest, an dem sie teilnimmt und dessen Bedeutung sie signalisiert. Der festliche Gebrauch, den man vom Festbild macht, haftet diesem wie ein Signum an und inspiriert seine Genese21; gerade weil sie wie dazu geschaffen ist, als Technik des Festes oder, genauer gesagt, als Technik der Wiederholung des Festes zu dienen, hält sie die eklatant euphorischen und euphorisierenden Augenblicke fest, den Walzertanz der Schwiegermutter oder die »unbezahlbaren Spaße der Stimmungskanone«. Selbst außergewöhnlich, erfaßt sie außergewöhnliche Gegenstände, die »schönen Augenblicke«, die sie in »schöne Erinnerungen« verwandelt. In ritueller Weise mit dem Fest, mit der Familienzeremonie oder dem Freundestreffen verknüpft, steigert sie den Eindruck des Festes als außergewöhnliches Ereignis, indem sie ihm dieses Opfer des Außergewöhnlichen gewährt. Sie wird schon jetzt so erlebt, wie sie später einmal betrachtet werden wird, und der schöne Augenblick kommt als solcher durch sie besser zum Vorschein, weil sie sichtbar macht, was er recht eigentlich ist: eine schöne Erinnerung. Sie wird später so »gelesen« werden, wie man sie erlebt hat, unter Gelächter und Scherzen, die dem Gelächter und den Scherzen des Festes eine längere Dauer verleihen.22 Und wenn sie sich in aller Regel auf ein bloßes Zeichen reduziert, entzifferbar lediglich für denjenigen, der über den Schlüssel dazu verfügt, dann deshalb, weil das Fest etwas ist, was man aus nichts oder mit Nichtigkeiten macht oder schafft, vom Augenblick der Entscheidung an, in festlicher Stimmung zu sein. Daher behält man von ihm häufig auch nur die Erinnerung, in festlicher Stimmung gewesen zu sein. Das Photo hält diese Erinnerung fest, in den meisten Fällen wüßte man nicht zu sagen, worüber und warum man gelacht hat. Es bezeugt zumindest, daß man herzlich gelacht hat.23

Als Instrument der feierlichen Überhöhung kann die Photographie selbst dem symbolischen Sakrileg einen komischen sakralen Charakter verleihen. So kann das Photographieren der Frau eines Freundes in einer lächerlichen oder gar unschicklichen Haltung das Gelächter verdoppeln, da dies darauf hinausläuft, in der Umkehrung der Normen, gegen alle Gebote des Anstandes, einen Verstoß gegen die Regeln der Schicklichkeit zu feiern, der die lockere, aber gleichwohl geordnete Struktur des Festes zum Ausdruck bringt und damit zugleich verstärkt. Deshalb muß man sich davor hüten, in den Albereien vor dem Photographen oder in den Photographien der Albereien ein Indiz für den Verlust des sakralen Charakters der Photographie zu sehen; sie sind vielmehr bewußte Barbarismen, die ihre komische Wirkung ihrer Eigenschaft als rituelles Sakrileg verdanken. Als Technik der feierlichen Erhebung oder Technik des Festes und allemal Technik der feierlichen Erhebung des Festes wird die Photographie in dem Maße unentbehrlich, wie sich mit der Zersplitterung der großartigen Feierlichkeiten, mit dem Verschwinden der öffentlichen Zeichen eines Festes, die dem Gefühl, in feierlicher Stimmung zu sein, den Anschein einer objektiven Begründung geben konnten, das Fest (Geburts- oder Namenstag) zunehmend als etwas Beliebiges und Willkürliches verrät, da die Familiengruppe dazu verurteilt ist, es in autarker Weise zu erleben. Mithin wird dem Unternehmen der feierlichen Erhebung, dem die Photographie dient, wahrscheinlich nur dann Erfolg beschieden sein, wenn es einem Mitglied der Gruppe überantwortet wird, das wie alle anderen darauf bedacht ist, zu vergessen und vergessen zu lassen, daß es nur dann ein Fest gibt, wenn man es »macht«, und weil man sich dazu entschließt, eines zu »machen«. Von dem Augenblick ab, da die Teilnahme am Fest dieses insgeheime Einverständnis voraussetzt, das nur die Teilhabe an der Gruppe gewährleisten kann, muß der Fremde zum Störenfried werden. Während der Bauer eine Praxis verwirft, die seinem Wertesystem widerspricht, und einem gruppenfremden Spezialisten die Aufgabe überträgt, ein Ritual zu vollziehen, zu dem die gesamte Dorfgemeinde aufgerufen ist, überträgt die auf sich selbst verwiesene Familie in der Stadt den Vollzug des rituellen Hauskults einem Mitglied der Familie, gewöhnlich deren Oberhaupt.24 Als einzige Primärgruppe, die in der städtischen Gesellschaft ihre Geschlossenheit und Beständigkeit bewahren kann, behauptet sich die reduzierte Familie, mehr und mehr ihrer traditionellen – ökonomischen wie sozialen – Funktionen beraubt, indem sie Zeichen ihrer emotionalen Einheitlichkeit, d. h. ihrer Intimität, anhäuft. »Früher«, schreibt Durkheim,

»war die Hausgemeinschaft nicht nur eine Vereinigung von Individuen, die miteinander durch die Bande gegenseitiger Zuneigung verbunden waren; sie war auch die Gruppe selbst, in ihrer abstrakten und unpersönlichen Einheit. Es war der ererbte Name mit allen Erinnerungen, die mit ihm zusammenhingen, das Elternhaus, die Stätte der Ahnen, seine Lage und sein überlieferter Ruf und noch mehr. Alles dies ist im Verschwinden begriffen. Eine Gesellschaft, die sich in jedem Augenblick auflöst, um sich an anderer Stelle wieder zu bilden, aber unter ganz anderen Bedingungen und aus ganz anderen Elementen, hat nicht genügend Kontinuität, um sich ein besonderes Gepräge zu schaffen, keine eigene Geschichte, mit der sie ihre Mitglieder an sich binden könnte.«25

Ist es da nicht ganz natürlich, daß der Photographie allmählich die Aufgabe zuwächst, das Familienerbe gleich einem Schatz zu bewahren? Mag auch die Anhäufung langlebiger Konsumgüter wie Kühlschränke, Waschmaschinen oder Fernsehgeräte dazu beitragen, den Eindruck der Familieneinheit zu stützen, so kann der Erwerb dieser Massenprodukte doch das Gefühl der Intimität niemals so uneingeschränkt befestigen wie die photographische Praxis, die häusliche Herstellung häuslicher Embleme. In der Tat bestätigt die Photographie innerhalb der erheblich reduzierten Skala familiärer Produktionstätigkeiten besser als die Gärtnerei oder das »hausgemachte« Gebäck, fiktive Zugeständnisse an die Sehnsucht nach Autarkie, besser als das Heimwerken oder die Befriedigung einer Sammelleidenschaft (was diejenigen von der Gruppe isoliert, die daraus ihr Steckenpferd machen) die Kontinuität und Integration der häuslichen Gruppe und festigt beide, indem sie sie zum Ausdruck bringt.

Die Scheidung zwischen den Themen, die in die Zuständigkeit des Berufsphotographen fallen, und denen, die von den Amateuren in der Familie Photographien werden, besteht nicht zufällig.26 Beispielsweise wendet man sich in einem kleinen Marktflecken im Süden Korsikas, wo sich die Praxis der Photographie in dem Maße verbreitet hat, wie die urbanen Werthaltungen Einlaß fanden, nach wie vor an den Berufsphotographen, um die festlichen Ereignisse (Hochzeit und Erstkommunion) und deren hohe Augenblicke festzuhalten. Dasselbe gilt für die Porträts der Kinder. Kurz, den Ausschlag gibt jeweils, ob ein Moment der Intimgeschichte der Person oder ihr gesellschaftlicher Aspekt aufgezeichnet werden soll. So stehen etwa den von Amateuren aus der Familie aufgenommenen Bildern, die die Etappen einer besonderen Kindheitsgeschichte dokumentieren, die konventionellen Photographien der Erstkommunion gegenüber, die im Atelier hergestellt wurden.27 Das heißt, die Durchsetzung der Amateurphotographie in den Familien fällt mir einer präziseren Differenzierung dessen zusammen, was dem öffentlichen Bereich und was der Privatsphäre zugehört. Ein Beleg dafür ist, daß die »großen Porträts«, die man noch eine Generation zuvor in jedem korsischen Haus an den Wänden des Besucherzimmers oder des Wohnzimmers sehen konnte, heute in der Mehrzahl der Haushalte den Amateurphotos Platz gemacht haben, die diskret auf einem Möbelstück aufgestellt werden. Seitdem man von der Photographie verlangt, nicht mehr allein das öffentliche Bild einer Person wiederzugeben, das so wenig individuelle Züge trägt, daß es keiner periodisch wiederholten Aufnahmen bedarf, und das so stark durch soziale Normen bestimmt ist, daß es geradezu prädestiniert scheint, vorgezeigt zu werden, sondern von ihr auch fordert, den vergänglichen Anblick und die besonderen Gesten eines Familienmitglieds aufzuzeichnen, ist die Unterscheidung zwischen Bildern, die der Betrachtung im Kreis der Familie vorbehalten bleiben, und solchen, die man »Fremden« preisgeben kann, unerläßlich geworden. Und sie ist nirgendwo so ausgeprägt wie bei den Leuten, die viele Jahre außerhalb von Korsika verbracht haben. In der Tat entreißt die Emigration die Kernfamilie dem ursprünglichen kollektiven Lebenszusammenhang; sie macht aus jeder individuellen Lebensgeschichte eine Kette von je besonderen Ereignissen, die nicht länger einer Stereotypisierung des Verhaltens unterliegen, wie der Rhythmus des Gemeinschaftslebens sie einschließt. Das Gesetz der unterschiedlichen Kalender gebietet, jene Feierlichkeiten, die es verdienen, daß man sie mit der Gruppe von gemeinsamer Herkunft teilt, von denen zu trennen, die als privat oder intim erscheinen, weil sie im Kalender der Primärgemeinde keinen Ort haben und ebenso verschiedenartig sind wie die Gruppen, in welche die Emigrierten für eine bestimmte Zeit eingebunden waren. Der Wunsch, die Zugehörigkeit zur Familiengruppe durch den Austausch von Photographien zu erhärten, schärft also zugleich den Sinn dafür, daß das öffentliche Leben in den eigenen vier Wänden nicht mehr wie früher in der Dorfgemeinschaft einem einzigen und einheitlichen Kodex von Regeln untersteht.

Als private Technik produziert die Photographie private Bilder des Privatlebens. Mit dem photographischen Bild hat die industrielle Technik den am meisten Benachteiligten die Möglichkeit eröffnet, Porträts zu besitzen, die nicht länger die Porträts der Großen dieser Welt oder der Heiligen im Himmel sind. Die Porträtgalerie ist demokratisiert worden, und jede Familie verfügt in ihrem Oberhaupt über ihren »Hofphotographen«. Die eigenen Kinder zu photographieren bedeutet, sich zum Historiographen ihrer Kindheit zu machen und ihnen als Vermächtnis das Bild von dem zu hinterlassen, der sie einmal waren. So geschieht es durch die Vermittlerrolle der Familiengruppe, daß die primäre Funktion der Photographie sich dem Photographen wieder in Erinnerung bringt: die wichtigen Ereignisse in ihrer Besonderheit und die Familienchronik in Bildern festzuhalten. »Man muß eine Erinnerung an die Kinder haben.« Man verspricht einander, Photos aufzunehmen oder zu verschenken, und für den Photographen ist es sozusagen »das mindeste«, diesem kollektiven Auftrag zu genügen. Wenn die Photographen, abgesehen von einer verschwindend kleinen Minderheit, in der Aufzeichnung des Familienlebens die primäre Bestimmung der Photographie erblicken, wenn sie nach wie vor der photographischen Pose, jenen steifen und stereotypen Bildern fürs Familienalbum, Tribut zollen, obschon sie sie laut verurteilen, dann vor allem deshalb, weil sie sie für ebenso unvermeidlich halten wie die sozialen Zeremonien, die von den Bildern ihre Weihe empfangen.

»Familienphotos? Die natürlich auch, schließlich muß man ja allen eine Freude machen. Aber das ist was ganz anderes!« (Angestellter aus Paris, 32 Jahre)

Das Familienalbum drückt die Wahrheit der sozialen Erinnerung aus. Nichts gleicht weniger der autistischen Suche nach der verlorenen Zeit als diese kommentierten Darbietungen von Familienphotographien, Integrationsriten, denen die Familie ihre neuen Mitglieder unterwirft. Die Bilder der Vergangenheit, in chronologischer Ordnung, der »Vernunftordnung« des gesellschaftlichen Gedächtnisses gereiht, beschwören und übermitteln die Erinnerung an Ereignisse, die der Bewahrung wert sind, da die Gruppe in den Monumenten ihrer früheren Einheit ein Moment der Einigung sieht oder, was auf dasselbe hinausläuft, weil sie aus ihrer Vergangenheit die Bestätigungen der gegenwärtigen Einheit bezieht. Deshalb ist nichts geziemender, beruhigender und erbaulicher als ein Familienalbum. Alle persönlichen Begebenheiten, welche die individuelle Erinnerung in die Besonderheit eines Geheimnisses sperren, sind aus ihm verbannt, und die gemeinsame Vergangenheit oder, wenn man so will, der größte gemeinsame Nenner der Vergangenheit erscheint hier schon in der beinahe anmutigen Sauberkeit eines Grabmals, das treulich besucht wird.28

Eine illegitime Kunst

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