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Gelegenheiten der Praxis und gelegentlich betriebene Praxis

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So verdankt die photographische Praxis in ihrer allgemeinsten Variante der sozialen Funktion, mit der sie ausgestattet ist, das und nur das zu sein, was sie ist. In der Tat, ob es um ihre innere Rhythmik geht, ihr Gerät oder ihre Ästhetik, die Gebrauchsweise, der sie ihr Dasein schuldet, markiert gleichzeitig die Grenzen, innerhalb deren sie sich bewegen kann, und verhindert ihre Transformation in eine andere, intensivere und anspruchsvollere Praxis. Da ihre Existenz an die soziale Funktion gebunden ist, der sie dienen soll, ist sie eng mit den Lebensprozessen der Gruppe verknüpft. Ihre Beschränkung auf einige wenige Anlässe und Gegenstände limitiert zugleich ihre Ausübung. Aus dem nämlichen Grunde nimmt sie mit behelfsmäßigem oder antiquiertem Arbeitsgerät vorlieb, vorausgesetzt, es gestattet die Wahrnehmung der ihr zugewiesenen Funktion, d. h. Bilder zu liefern, die das Wiedererkennen ermöglichen. Und da sie schließlich – aus abermals demselben Grund – die Gebrauchsbestimmung, aus der sie hervorgeht, nicht abzustreifen vermag, kann sie ihre Zwecke nicht selbst setzen und die spezifischen Intentionen einer autonomen Ästhetik verwirklichen.

Zwar stimmt, daß die allein an der Familienfunktion orientierte photographische Praxis sich ihre Grenzen selber zieht; aber es lassen sich nicht alle Varianten in Intensität und Qualität der Praxis einzig der Macht des »Bedürfnisses« nach Photographien zuschreiben (das an die Struktur und den Integrationsgrad des Familienmilieus gebunden bleibt). Soweit man beispielsweise das Bedürfnis nach Photographien befriedigen kann, ohne die Photos selbst zu machen, soweit die eigenständige photographische Praxis gar als Luxus erscheinen mag, da letztlich die selbstgefertigten Bilder in der Mehrzahl der Fälle zu den Atelieraufnahmen hinzukommen statt diese zu ersetzen, so weit ist es nur natürlich, daß die Zahl der Besitzer von Photoapparaten mit steigendem Einkommen zunimmt. Es versteht sich ebenfalls von selbst, daß innerhalb des begrenzten Ensembles von Gegenständen und sozial gebilligten Anlässen noch Raum bleibt für Nuancen in der Intensität der Praxis, die ein höheres Einkommen zuläßt.

Viele Saisonkonformisten besitzen eine Kamera besserer Qualität und eine ganze Anzahl von Zubehörartikeln, die sie nach wie vor in den Dienst der traditionellen Funktionen der Photographie stellen. Keinesfalls darf man in dem Umstand, daß die Quote der Besitzer von hochkomplexen Photoapparaten proportional mit dem Einkommen wächst, ein Indiz für steigende Ansprüche an die Qualität der Praxis sehen: Die Intensivierung der Praxis, begünstigt durch das höhere Einkommen, das wiederum höhere Ausgaben für Filme (vor allem teure Farbfilme) erlaubt und die Anlässe zum Photographieren vervielfacht, überwindet allein noch nicht die übliche zugunsten einer qualitativ ausgefeilten Praxis. Für die meisten Käufer einer Kleinbildkamera sind deren technische Finessen als explizites Kaufmotiv nicht ausschlaggebend.

Zahlreiche Besitzer von Kleinbildkameras wissen über deren Möglichkeiten keineswegs genau Bescheid. Auch haben die, die nach eigenen Aussagen mit dem Gedanken spielen, eine hochwertige Kamera zu erwerben, keine bessere Fachkenntnis von deren Eigenschaften als diejenigen, die einem solchen Kauf gleichgültig oder ablehnend gegenüberstehen. Die Untersuchung einer Stichprobe von Amateurphotographen hat ergeben, daß die Besitzer hochentwickelter Apparate (mit eingebautem Belichtungs- und Entfernungsmesser oder Spiegelreflexsucher) insgesamt weniger technische Kenntnisse haben als die Besitzer von minder komplizierten Apparaten. Andererseits lassen sich die Besitzer von anspruchsvollen Kameras deutlich in zwei Kategorien unterteilen, nämlich in solche, die die Möglichkeiten ihrer Kamera gut kennen und technisch ziemlich versiert sind, und in solche, die zugeben, von der Technik ihres Apparats überfordert zu sein, und die nur über wenig professionelles Wissen verfügen. Das heißt, der Erwerb einer kostspieligen Ausrüstung scheint eher von Konsumgewohnheiten bestimmt zu sein, die qualitativ hochwertige Produkte zu bevorzugen vorschreiben, als von einer qualitativen Änderung der photographischen Ambitionen. Kurz, die Perfektionierung der zur Verfügung stehenden Mittel dringt von außen in die Photographie ein: Nichts weniger als das Resultat neuer Ansprüche, die sich unmittelbar aus der photographischen Praxis ergeben, ist diese vielmehr Ausdruck der Bemühung, einer diffusen Gruppennorm zu entsprechen.29 Es verhält sich daher keineswegs so, daß die ästhetische oder gar technische Qualität des produzierten Bildes und die Modalität der Praxis sich aus den Eigenschaften des Apparats, aus seinen Möglichkeiten oder Grenzen ableiten ließen, daß die routinehafte und stereotype Produktion der meisten Photographierenden aus den Beschränkungen erklärt werden könnte, die ihnen durch ein einfaches Gerät oder ihre technische Inkompetenz auferlegt werden. Vielmehr ist es die photographische Intention selbst, die – den traditionellen Funktionen nach wie vor untergeordnet – erst den Gedanken aufkommen läßt, sämtliche Möglichkeiten eines Apparats voll zu nutzen (welche übrigens bei dessen Auswahl kaum eine Rolle gespielt haben), und die ihre eigenen Grenzen im Felde der technischen Möglichkeiten bestimmt.

Die verstärkte Beschäftigung mit der Photographie folgt also in den meisten Fällen aus äußeren Bedingungen, etwa der Verfugung über ein bestimmtes Einkommen und dem damit verbundenen Lebensstil, und nicht aus einer eigenständigen Modifikation der Praxis. Allerdings, obschon die familiale Funktion der Photographie mehr oder weniger vollständig und je nach Einkommen auf unterschiedlichem Niveau wahrgenommen werden kann, geschieht dies allemal nur zu bestimmten Gelegenheiten und in Gebrauchsformen, die im allgemeinen wenig intensiv sind und gegenüber ästhetischen Intentionen gleichgültig bleiben. Da die soziale Norm sowohl das festlegt, was photographiert werden muß, als auch das, was photographiert werden darf, könnte die Skala des Photographierbaren nicht unendlich erweitert werden, und mit dem Verschwinden der photographischen Anlässe müßte auch die Praxis selbst verschwinden. Nun läßt sich tatsächlich das Photographierbare nicht unbegrenzt photographieren, und außerhalb des Photographierbaren gibt es sozusagen »nichts zu photographieren«. Beispielsweise scheinen die Bauern von Lesquire die Motive in ihrer Alltagsumgebung, von den Kindern einmal abgesehen – und auch das erst seit einigen Jahren –, nicht für wert zu erachten, sie mit der Kamera aufzunehmen: Was man täglich vor Augen hat, photographiert man nicht.

»Also wenn du z.B. eine Reise machst, dann lohnt es sich auch, Photos zu machen. Aber unsereiner, was sollen wir schon photographieren? Die Hauptstraße? Oder spielen: photographierst du mich, photographier ich dich? Ach was, das bringt nichts ein!« »Was meinst du, wer hier Lust hat, zu photographieren? Man hat sich schon zu oft gesehen. Immer dieselben Gesichter, den ganzen Tag! Man kennt sich mittlerweile bis zum Überdruß. 150 Leute, die auf der Stelle treten, ohne eine Möglichkeit der Verbindung nach außen. [...] Es sind hauptsächlich die Fremden, die Ansichtskarten in den Kasten werfen. Die Leute am Ort verschicken bestenfalls Karten mit dem Bild eines Zechers und der Unterschrift ›Grüße aus Lesquire‹ oder auch ›Lesquire, das Dorf der guten Weine‹. Aber Ansichten von unserem Ort? Ausgeschlossen!«

Die extreme Enge und Kompaktheit der Lebenswelt, der Umstand, daß das Erwachsenendasein sich in demselben Rahmen abspielt wie die Kindheit, schließen Fremdheits- und Befremdlichkeitsgefühle aus, jene leichte Verunsicherung, die dazu führt, die Dinge der Umwelt neu wahrzunehmen. Der Tourist und der Fremde rufen Erstaunen hervor, wenn sie die alltäglichen Gegenstände oder Menschen photographieren, die ihrer gewohnten Beschäftigung nachgehen. »Was, Sie photographieren diese Tür! O Gott, am Ende glauben Sie vielleicht, daß wir sie nicht beachten. Im Gegenteil! Sie ist schön!« Die vertraute Umgebung ist das, was man immer gesehen, aber nie wirklich wahrgenommen hat. Allenfalls ist man bereit, sein Haus zu photographieren oder photographieren zu lassen, nachdem man es renoviert oder geschmückt (an einem Feiertag beispielsweise), d. h. festlich hergerichtet hat, genauso wie man seinen Sonntagsstaat anlegt, wenn man sich im Atelier photographieren läßt.

»Wenn das Haus schön wäre, die Zimmer netter gerichtet, die Felder in voller Frucht wären, mit schönen Bäumen und prächtigem Vieh. [...] Aber das ist jetzt nicht die Zeit: Die Felder sind kahl und die Kühe abgemagert.«

Man trifft zwar so gut wie niemals einen Photographen, der nicht der Familienphotographie den ihr gebührenden Platz einräumte; doch gibt es viele unter ihnen, die der Photographie noch andere Sinnvarianten zuschreiben, freilich bloße Abwandlungen der archetypischen Gebrauchsweise. Unstreitig ist die Intensivierung der photographischen Praxis eng verknüpft mit Ferienzeit und Tourismus. Doch daraus darf weder gefolgert werden, daß die Urlaubs- oder Reisebilder nicht mit der familialen Funktion der Photographie erklärt werden könnten, noch daß bereits die Vervielfachung der Anlässe des Photographierens eine Praxis begründete, die mit neuen Bedeutungen ausgestattet wäre.30 Daß von denen, die in Urlaub fahren, mehr photographiert wird als von denen, die zu Hause geblieben sind, liegt sicherlich zum Teil daran, daß die Praxis der Photographie ebenso wie die Möglichkeit, zu verreisen, von der Höhe des Einkommens abhängt, aber auch und vor allem daran, daß der Urlaub zu den »hohen Zeiten« des Familienlebens zählt. Wenn allerdings Unterschiede in den objektiven Anlässen für Photoaufnahmen, die beispielsweise mit der Dauer oder dem Ort der Ferien zusammenhängen, keine nennenswerte Änderung in der Intensität der modalen Praxis nach sich ziehen, so darum, weil diese weniger von Anregungen etwa durch die Schönheit einer Landschaft oder die Verschiedenartigkeit der besuchten Orte abhängt als von gesellschaftlich definierten Anlässen.31 In dem Maße, wie die Ferien Gelegenheit zur Intensivierung der Familienbeziehungen (z.B. für alle, die ihren Urlaub mit der Familie verbringen wollen) und zu vermehrter Geselligkeit mit Freunden bieten, beflügeln sie auch die photographische Praxis, wobei freilich die in dieser Zeit aufgenommenen Bilder in der Regel ebenfalls Familienphotos, allerdings in Urlaubskonstellationen sind.32 Zwar erweitern die Ferien das Spektrum des Photographierbaren und fördern die Neigung zum Photographieren; aber diese Neigung ist nicht qualitativ verschieden von der traditionellen, sondern deren bloße Verlängerung: Eine Praxis, die so eng mit außeralltäglichen Anlässen verwoben ist, daß man sie für eine Technik des Festlichen halten könnte, muß sich notwendig in einer Periode verstärken, für die der Bruch mit der vertrauten Umwelt und mit den Routinen des regulären Daseins charakteristisch ist. Wer in eine quasi-touristische Haltung schlüpft, der entzieht sich dem Verhältnis achtloser Vertrautheit zur alltäglichen Welt, jenem unscharfen Hintergrund, vor dem sich die Formen abzeichnen, die für eine kurze Zeitspanne die Alltagssorgen ausblenden. Nun wird alles zu einer Quelle des Staunens, und der Reiseführer, der ständig zum Bewundern anhält, dient als Leitfaden einer gewappneten und geleiteten Wahrnehmung.33 Photographieren ist etwas, was man während der Ferien tut, und es ist zugleich das, was die Ferien ausmacht: »Ja, das ist meine Frau, die da die Straße entlanggeht; aber sicher, das war im Urlaub, da haben wir dieses Photo gemacht.« (Angestellter aus Paris, 28 Jahre, der sein Familienalbum zeigt.) Indem man noch die nebensächlichsten Orte und Augenblicke im Bild festschreibt, verwandelt man sie in Monumente der Muße: Das Photo soll und wird auf ewig bezeugen, daß man Muße gehabt hat und überdies die Muße, sie ins Bild zu bannen. Die Photographie, die die vergängliche Ungewißheit subjektiver Eindrücke durch die endgültige Gewißheit eines objektiven Bildes ersetzt, ist wie dazu geschaffen, als Trophäe zu fungieren. Während die bekannte alltägliche Umgebung niemals mit der Kamera aufgezeichnet wird, erscheinen Landschaften und Baudenkmäler auf den Ferienphotos als Schmuck oder als Zeichen. Das Photo in seiner allgemeinen Gestalt fixiert die ganz besondere Interaktion (obgleich diese unter identischen Umständen von tausend anderen ebenfalls erlebt werden kann) zwischen einer Person und einem sanktionierten Ort, zwischen einem außergewöhnlichen Augenblick des Lebens und einem durch seinen hohen symbolischen Wert außergewöhnlichen Ort. Der Anlaß der Reise (die Flitterwochen) erhebt die besuchten Orte in den Rang von feierlichen Stätten, und die eklatantesten von ihnen lassen wiederum den Anlaß der Reise noch feierlicher erscheinen. Von einer »wirklichen Hochzeitsreise« spricht man erst dann, wenn sich das Paar vor dem Eiffelturm hat photographieren lassen, denn Paris, das ist der Eiffelturm, und eine »wirkliche Hochzeitsreise« führt eben nach Paris. Eins der Bilder aus der Sammlung von J.B. wird in der Mitte durch den Eiffelturm geteilt, zu dessen Füßen die Frau von J. B. steht. Was uns wie Barbarismus oder Barbarei vorkommt, ist in Wahrheit die vollständige Verwirklichung einer Intention34: Die beiden Objekte, dazu bestimmt, sich gegenseitig zu erhöhen, sind genau in der Mitte des Bildes plaziert, und Zentrierung und Frontalität sind in der Tat die wirkungsvollsten Mittel, dem festgehaltenen Objekt Bedeutung zu verleihen.

So gesehen wird die Photographie zu einer Art Ideogramm oder Allegorie, wobei die individuellen oder zufälligen Züge in den Hintergrund treten. Die photographierte Person wird in eine Umgebung gestellt, die man ihres starken Symbolwertes wegen ausgewählt hat (obwohl sie daneben auch einen ästhetischen Wert haben kann) und die als Zeichen aufgefaßt und gebraucht wird. Typisch dafür ist ein Photo, auf dem man P. vermutet (eine winzige Figur vor der Kirche Sacré Cœur, die den Arm bewegt) und das, wie meist, aus sehr großer Entfernung »geschossen« worden ist, weil man das gesamte Monument zusammen mit der Person auf dem Bild unterbringen wollte: Um die Person zu entdecken, muß man sozusagen »wissen, daß sie sich dort befindet«. Zahlreiche andere Abzüge zeigen eine Person, die nicht mit einem bedeutungsschweren Monument gekoppelt ist, sondern mit einem Schauplatz, der ebenso bedeutungslos ist wie ein Zeichen, zu dem der Schlüssel fehlt. Das gilt beispielsweise für solche Photos, die auf der ersten Plattform des Eiffelturms oder in den Fußgängertunnels der Pariser Metro aufgenommen wurden. Zur reinen Allegorie stilisiert, bedarf die Photographie der Erläuterung: »P. auf der Terrasse der ersten Plattform des Eiffelturms.« Es kommt auch vor, daß der Hintergrund ganz und gar belanglos und anonym ist – eine Tür, ein Haus oder ein Garten –, allerdings niemals in einem Grade, daß der informative Gehalt völlig verlorenginge, da der Hintergrund immerhin die Begegnung einer Person und eines Ortes in einem außergewöhnlichen Augenblick zum Ausdruck bringt: Dies ist die Tür zum Haus der Familie Untel, bei der man während der Hochzeitsreise in Paris gewohnt hat. Anders gewendet, die Logik der wechselseitigen Erhöhung von Person und Umgebung geht darauf aus, aus der Photographie ein Ideogramm zu machen, das aus der Konstellation alle zufälligen und zeitlichen Elemente, also alles, was Leben anzeigt, ausschließt. In der Sammlung von J. B. finden sich von Paris nur zeitlose Zeichen: In diesem Paris kommen Geschichte oder Passanten allenfalls beiläufig vor, es ist eine Stadt ohne Ereignisse.35 Obgleich sich das Spektrum des Photographierbaren ständig erweitert, ist die photographische Praxis deswegen nicht freier, da man nur das photographieren darf, was man photographieren muß, und weil es Bilder gibt, die man »unbedingt aufnehmen« muß, so wie es Naturschönheiten und Monumente gibt, die man »mitnehmen« muß. Traditionellen Funktionen unterworfen, bleibt die Praxis deshalb auch in der Wahl der Objekte, der Augenblicke und sogar in ihrer Intention traditionell: Sie verhält sich zur Ansichtskarte, von der sie häufig ihre Ästhetik und ihre Themen borgt, wie die häusliche Photographie zu der im Atelier. Selbst dort, wo sie den vertrauten Personen keinen Platz mehr gewährt und von einem genuinen Interesse am dargestellten Gegenstand geleitet scheint, seien es Landschaften oder Mahnmale, besteht ihre eigentliche Gebrauchsbestimmung noch darin, eine Beziehung zwischen Photograph und photographiertem Gegenstand zu signalisieren. Wenn die zeremoniellen Vorführungen von Diapositiven Langeweile hervorrufen (wofür die ritualisierten scherzhaften Kommentare sprechen), dann eben deshalb, weil die Bilder in Intention und Ästhetik von äußeren Vorgaben beherrscht sind und sich in ihnen oft nichts anderes ausdrückt als die schlichte und private Konstellation zwischen dem Photographen und seinem Objekt, so daß sie jede Bedeutung und allen Wert verlieren, sobald sie von einem Betrachter als Bilder an und für sich wahrgenommen werden, einem Betrachter, der gegenüber dem besonderen Erlebnis ihres Urhebers gleichgültig bleibt.36 Es kann sich also die traditionellen Funktionen verhaftete Praxis quantitativ erweitern, ohne daß jemals eine im strengen Sinne ästhetische Komponente zum Zuge kommt. Der Schritt in eine engagierte Praxis setzt nämlich mehr und etwas anderes voraus als die schlichte Intensivierung des Gelegenheitshandelns. Es besteht zwischen einer Photographie im Dienste des familialen Gebrauchs und einer engagierten Praxis ein gravierender Unterschied. Indem erstere den Akzent auf das erzeugte Bild setzt, kann sie sich per definitionem nicht endlos intensivieren – stets an außergewöhnliche Anlässe gebunden, bleibt sie oftmals zeitlich befristet. Demgegenüber ist eine passioniert betriebene Praxis, die den Akt der Produktion in den Vordergrund rückt, einer unbegrenzten Erweiterung fähig, da sie von Grund auf und ständig, als Anstrengung zu technischer und ästhetischer Vollkommenheit, die Überwindung des eigenen Produkts produziert. Zweifellos ist das Bemühen um eine hohe technische Qualität des Bildes ein Anreiz, sich mit einer hochwertigen Ausrüstung zu versehen. Doch es entfaltet sich auf einer anderen Ebene als der Wunsch nach einer ästhetischen Qualität des Bildes. Das ist auch der Grund dafür, daß das private Filmen noch nachdrücklicher als das Photographieren von familialen Verwendungszusammenhängen geprägt ist: Daß der Ehrgeiz, das Filmen wie eine Kunst zu betreiben, sogar unter passionierten Amateurfilmern äußerst selten ist, liegt nicht lediglich daran, daß damit neben technischer Versiertheit Zeit und Mühe verbunden sind, die für Operationen aufgewendet werden müssen, die weniger interessant sind als die Filmaufnahme selbst, sondern auch daran, daß man die Szenarios erst erfinden und konstruieren müßte, die das Familienleben in Gestalt organisierter Abfolgen von Ereignissen bereits fix und fertig liefert – mit unmittelbarer Bedeutung zumindest für denjenigen, der sie filmt, und für die, die sich das Gefilmte ansehen werden.37

Weil sie stets den Blick auf die Erfüllung gesellschaftlicher und gesellschaftlich definierter Funktionen gerichtet hält, ist die übliche Praxis zwangsläufig rituell und zeremoniell, folglich ebenso stereotyp in der Wahl ihrer Objekte wie in ihren Ausdruckstechniken. Als institutionalisierte Pietät vollzieht sie sich einzig im Rahmen sanktionierter Umstände und Örtlichkeiten. Und in ihrem Vorsatz, das Feierliche zu feiern und das Heilige zu heiligen, bleibt sie immun gegen den Einfall, irgend jemandem oder irgend etwas zur Würde des »Photographierten« zu verhelfen, das sich nicht objektiv (d. h. gesellschaftlich) als »photographierbar« definiert und als »würdig, photographiert zu werden« – in beiden Fällen ist dasselbe Prinzip am Werk. Solange die Praxis nichts anderes ist als das Photographieren des Photographierbaren, so lange ist sie an diese Stätten und Augenblicke gekettet, von denen sie im doppelten Sinne des Wortes determiniert wird. Als permanente und verallgemeinerte Bereitschaft, jedes beliebige Objekt in den Rang eines Kunstwerks zu erheben, ist die künstlerische Einstellung, die das Prinzip ihrer Auswahl selbst bestimmt, die sich selbst determiniert, indem sie ihre Gegenstände determiniert, durch eine wesentliche Differenz von einer Praxis geschieden, die das Prinzip ihrer Existenz und ihrer Begrenzung außerhalb ihrer selbst sucht.

Eine illegitime Kunst

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