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Klassenunterschiede und sich bewußt unterscheidende Klasse

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Mithin ist das Verhältnis der Photoamateure – vor allem der ambitioniertesten – zur Photographie niemals unabhängig von ihrem Verhältnis zu ihrer Gruppe (oder, wenn man so will, vom Grad ihrer Integration in die Gruppe) und von ihrem Verhältnis zur modalen Praxis ihrer Gruppe (in dem ihre Lage innerhalb der Gruppe zum Ausdruck kommt), die ihrerseits eine Funktion der Bedeutung und des Platzes ist, die der Photographie von der Gruppe zugewiesen werden. Diese Zuordnung hängt einerseits von dem gruppenspezifischen System impliziter Werte sowie der Position der Photographie innerhalb des Systems der schönen Künste ab (die sich mit der Lage der Gruppe gegenüber diesem System ändert), andererseits von der Bedeutung und dem Platz, die die anderen Gruppen aufgrund derselben Logik der Photographie zuschreiben.

Und schließlich ist die – technisch wie ökonomisch – extrem leichte Zugänglichkeit des Mediums zu berücksichtigen. In der Tat unterscheidet sich das Photographieren ebenso von solchen Tätigkeiten, die zwar kostspielig sind, aber keinerlei intellektueller Vorbereitung bedürfen (z.B. der Tourismus), wie von den zwar erschwinglichen, aber nur jenem Personenkreis vorbehaltenen Beschäftigungen, der über bestimmte Grundkenntnisse verfügt (z.B. dem Besuch von Museen). Anders gesagt, nichts ist weniger esoterisch als das Photographieren, da es genügend preiswerte Kameras mit geringem Bedienungsaufwand gibt, und da die Neigung (und nicht lediglich die Befähigung) zu deren Gebrauch nicht das Ergebnis einer praktischen oder theoretischen Bildung ist. Daraus folgt, daß die Bedeutung, die dieser leicht zugänglichen Praxis verliehen wird, mitkonstituiert ist durch den – vorwiegend – negativen Vergleich mit der üblichen Praxis. Die verschiedenen Gruppen einer geschichteten Gesellschaft können die photographische Praxis unterschiedlichen Normen unterwerfen, welche zumindest darin übereinstimmen, daß sie (in je besonderer Weise) von jener Norm abweichen, welche die gängige Praxis reguliert. Das ist der Grund, warum die Photographie ein aufschlußreiches Beispiel für die Logik der Bemühung um Andersartigkeit um der Andersartigkeit willen ist oder, wenn man so will, für die Logik eines Snobismus, der kulturelle Tätigkeiten nicht an sich und für sich wahrnimmt, sondern einzig in und aufgrund einer Beziehung mit den Gruppen, die ihnen nachgehen. Dieser Differenzierungsmechanismus veranlaßt einen Teil der Angehörigen der Mittelschichten dazu, Originalität in der engagierten Beschäftigung mit einer Photographie zu suchen, die ihrer familialen Zwecksetzungen entkleidet ist, während er einen Teil der Angehörigen der Oberschicht von diesem Engagement abhält, dem das Odium des Gewöhnlichen anhaftet, weil es weit verbreitet ist.

Die bäuerliche Gesellschaft ist genügend stark integriert und ihrer Werte hinreichend sicher, um bei ihren Mitgliedern das Gebot der Konformität durchzusetzen und jeden Versuch zu vereiteln, sich durch Nachahmung der Leute in der Stadt von den anderen Mitgliedern ihrer Gesellschaft zu unterscheiden. Somit können weder die ökonomischen Hemmnisse, etwa die hohen Kosten der Ausrüstung, noch die technischen Hindernisse erklären, warum das Photographieren im bäuerlichen Milieu eher die Ausnahme ist.47 Die Bauern nutzen die Photographie lediglich als Konsumenten, noch dazu in selektiver Weise, und sie können auch gar nicht anders, weil das System der Werte, an denen sie teilhaben und die um ein bestimmtes Bild vom »typischen« Bauern angeordnet sind, ihnen untersagt, selbst zu photographieren und sich so mit den Städtern zu identifizieren.

Die Photographie erscheint hier als Luxus. Das bäuerliche Ethos macht es zur Pflicht, Geld zunächst in die Vergrößerung des ererbten Besitzes oder zur Erneuerung des landwirtschaftlichen Geräts und erst dann in Verbrauchsgüter zu investieren. Mehr noch: Jede Neuerung ist suspekt in den Augen der Gruppe, und zwar nicht nur als Absage an die Tradition, sondern vor allem deshalb, weil hinter ihr die Absicht, sich zu unterscheiden, sich von den anderen abzuheben, die anderen zu beeindrucken oder auszustechen, vermutet wird. Diese Prinzipientreue beherrscht die gesamte gesellschaftliche Existenz und hat mit Egalitarismus nichts zu tun. Im Grunde haben Ironisierung, Spott und Dorfklatsch den Zweck, den Aufschneider oder den Prahlhans, der mit seinem Versuch, Neuerungen einzuführen, anscheinend der ganzen Gemeinde eine Lektion erteilen oder sie herausfordern möchte, zur Räson zu bringen, d.h. zu Konformität und Gleichförmigkeit anzuhalten. Ob er diesen Vorsatz tatsächlich hegt oder nicht, der Verdacht bleibt auf ihm sitzen. Unter Rekurs auf die Erfahrungen der Vergangenheit und indem man alle anderen Gruppenmitglieder als Zeugen anruft, soll öffentlich bekräftigt werden, daß die Neuerung keinem wirklichen Bedürfnis entspringt.

Die kollektive Mißbilligung weist jedoch je nach Art der Innovation und dem Bereich, in dem sie auftritt, feine Nuancen auf. Betrifft sie den Bestand der landwirtschaftlichen Techniken und Anbauweisen, so wird niemals vollständig und schonungslos verworfen, da man dem Neuerer den Rechtsvorteil des Zweifels einräumt: Sein Verhalten könnte ja, gegen den Anschein, einer höchst lobenswerten Absicht entspringen, nämlich dem Wunsch, den Wert des ererbten Besitzes zu erhöhen – er handelt dann zwar gegen die bäuerliche Tradition, aber er handelt als Bauer. Auch kann sich die moralische Verurteilung in die Sprache der Skepsis des Technikers und des »Mannes von Erfahrung« kleiden: Die Strafe wird aus dem Gang der Dinge selbst folgen. Da der Neuerer das Risiko auf sich nimmt, einen Fehlschlag zu erleiden und sich lächerlich zu machen, verdient er immerhin Respekt.

Allerdings empfindet die Gemeinde jede Neuerung, von der sie argwöhnt, daß sie der rationalen oder plausiblen Rechtfertigung entbehre, als Provokation oder Ketzerei. Tatsächlich zwingt ein großtuerisches oder als solches gedeutetes Verhalten ähnlich wie ein Geschenk, das jedes Gegengeschenk ausschließt, die Gruppe in die Lage der Unterlegenheit und kann nur als Affront erlebt werden, der ihre Selbstachtung verletzt. In diesem Fall erfolgt die Sanktion unverzüglich: »Was der sich einbildet!« »Für wen hält er sich?«

Die Mißbilligung ist indes nicht bloß abhängig von der Art der Neuerung, sondern auch von der Situation und dem Status des Neuerers. Da man sie mit dem Leben in der Stadt in Verbindung bringt, vermutet man in der Photographie die Imitation städtischer Gewohnheiten. Sie wirkt als Ausdruck der Lossagung – als Gestus des Parvenüs. Ihn sieht man so, wie der Landmann die »Urlauber« sieht, d.h. die abgewanderten Dorfbewohner, die im Sommer zurückkehren, um hier ihre Ferien zu verbringen. Noch die beiläufigste ihrer Handlungen wird zum Gegenstand von Kommentaren, und selbst ein geringfügiger Verstoß gegen die Bräuche wird ihnen als Dünkel und Provokation ausgelegt:

»Im allgemeinen hat man die Amateurphotographen scheel angesehen. Dazu muß man sagen, daß der Eindruck entstand, als würden sie sich über die Bauern lustig machen, die mitten bei der Arbeit waren. Und überhaupt, die waren ja bloß zum Urlaub hier ...«

»M.F. hat Photos gemacht und wollte mich dauernd aufnehmen. Das war vielleicht ein Zirkus! [...] Ich habe sie abblitzen lassen, weil ich Angst hatte, daß die anderen sich über mich lustig machen würden. Ich habe mich geniert, weil meine Mutter gesagt hat: ›Sie spielt sich auf, sie kommt nur von Paris, um hier anzugeben.‹ In Paris leben, mit einer jämmerlichen Stelle, nichts zu beißen haben, aber mit einem Photoapparat ankommen! [...] Damit hatte die jedes Maß verloren. Sie wollte immer Familienbilder machen, aber meine Mutter ging gar nicht darauf ein: ›Das ist alles Angeberei. Sie kommt mit ihrem Apparat an, um aufzufallen, damit alle Welt weiß, daß sie in Paris ist‹, usw. Man darf eben nicht aus der Reihe tanzen und auffallen.«

Die Beschäftigung mit der Photographie wird gerade dort vehement mißbilligt, wo sie – in ihrer Funktion als Statusattribut – den Versuch auszudrücken scheint, einer gesellschaftlichen Stellung minderen Ranges zu entrinnen: »Ein Dienstmädchen, und so was will photographieren!« Dem Ehrgeiz, sich zu unterscheiden, setzt man die Mahnung an die gemeinsame Herkunft entgegen: »Wir wissen, woher er kommt.« »Sein Vater ging noch in Holzschuhen!« Die Photographie, ein leichtsinniger Luxus, erscheint den Bauern als ein lächerlicher Barbarismus. Sich dieser kostspieligen Marotte des Städters hinzugeben, wäre etwa so, als wollte man an den Sommerabenden, wie die Pensionäre in der Kleinstadt, Arm in Arm mit seiner Frau einen Spaziergang durchs Dorf machen.

»Ein Bauer, der Photos macht, daß ich nicht lache! Das überlassen wir besser den Leuten in der Stadt! Henri [mein Sohn] macht welche, aber der ist auch kein geborener Bauer. Wenn man nach der Arbeit fix und fertig ist, das gäbe ein schönes Photo!« »Ich habe noch nie einen Bauern gesehen, der regelmäßig Photos macht. Wenn einer von ihnen ausnahmsweise den Mut dazu hätte, z.B. am Hochzeitstag mit einem solchen Apparat herumzuhantieren, würde er sich lächerlich machen. Weiß Gott, sie können eben besser mit dem Pflug umgehen! Es gibt ein paar Frauen aus sehr guten Familien, die vor einer Hochzeit Photos aufnehmen, aber das ist eigentlich selten, und sie fallen auf. Sie spielen sich auf, diese Angeberinnen! Bei denen wird kein Bild was!« »Die Bauern, die ich kenne, haben Besseres zu tun, als mit so einem Gerät umzugehen, vor allem die kleinen wie wir. Das ist wohl ein teurer Spaß. Dazu muß man gut betucht sein, und das ist keiner von denen, die ich kenne.« »Auf dem Land gibt es kaum welche, die einen Photoapparat umhängen haben. [...] Aber es gibt viele, die einen Brotbeutel über der Schulter tragen, und den brauchen sie auch. [...] Das ist alles eine Mode. [...] Wer dafür keinen Sinn hat, der kümmert sich gar nicht erst darum.« »Man geniert sich, Aufnahmen zu machen. Teils schämt man sich, teils liegt es am eigenen Ungeschick. Das ist etwas für die Feriengäste, das gehört nicht aufs Land. Ein Bauer, der sich mit einem Photoapparat über der Schulter sehen ließe, das wäre ein verhinderter Herr. Um mit diesen Apparaten umgehen zu können, braucht man feine Hände. Und die Kröten? So was ist teuer. Das geht ins Geld, bis man den ganzen Krempel beisammenhat.«

Kurz, wer photographieren wollte, würde den Städter nachahmen oder, wie man sagt, »den feinen Herrn markieren«. In der Tat stellt man seit jeher dem Bauern den »Herrn« gegenüber. Der Bauer von früher, der etwas auf sich hielt, grenzte sich ebenso vom »verbauerten« Bauern ab, vom »Hinterwäldler«, wie vom »verbürgerlichten« Bauern. Zwar sah man darüber hinweg, wenn ein Bauer sich so sehr in seine Arbeit verbissen hatte, daß er darüber bestimmte gesellschaftliche Pflichten vergaß; aber das kollektive Urteil war erbarmungslos gegenüber jedem, der auf den Gedanken verfiel, »den Herrn zu spielen«, und seine Aufgaben als Bauer vernachlässigte. »Sich zum Herrn machen«, das bedeutet einen zweifachen Verstoß gegen die fundamentalen Gebote der bäuerlichen Moral, nämlich sowohl als Mitglied der Gruppe wie auch als Bauer aus der Reihe zu tanzen, indem man seine Herkunft verleugnet. Dem Städter, der der Gruppe gänzlich fremd ist, gesteht man die »Abweichung« zu; sie gehört zu dem stereotypen Bild, das man sich von ihm macht. Der Photoapparat ist eins der Attribute des »Urlaubers«. Man macht – nicht ohne Ironie – dessen Launen mit, wirft sich vor seinem Ochsengespann in Positur und denkt sich: »Sie haben zuviel Zeit und zuviel Geld.« Gegenüber den im Ort Geborenen, die jetzt in der Stadt leben, ist man weniger tolerant, und noch weniger gegenüber den Bewohnern des nächsten Marktfleckens, von denen man argwöhnt, daß sie nur photographieren, um für Städter zu gelten. Anders ausgedrückt, nicht die Beschäftigung mit der Photographie generell wird abgelehnt: als Marotte und Liebhaberei des Städters paßt sie sehr gut zu den »Fremden«, freilich nur zu diesen. Was man für absolut verwerflich hält, ist der Gebrauch der Photographie als Mittel, sich von der Gruppe und der Lebenswelt der Bauern zu distanzieren.48 Genau genommen geht es darum, undiskutierte und bedingungslose Zustimmung zu einem System willkürlicher Regeln, die das Verhalten des Bauern von Grund auf prägen, sicherzustellen. Das wird ganz deutlich an dem folgenden Dialog zwischen zwei Bewohnern von Lesquire, für den das unaufhörliche Schwanken zwischen der schlichten Berufung auf die soziale Norm, jeweils willkürlich und unvermittelt, und dem Rückgriff auf Erklärungen aus Zweitursachen oder – gründen, denen das reale Verhalten widerspricht (vgl. das Schema auf den folgenden Seiten),49 charakteristisch ist.

Wie man sieht, kommen die Werte der bäuerlichen Gesellschaft in den Zugeständnissen und Ausnahmen ebensogut zum Vorschein wie in den Geboten und Verboten. Soweit die Photographie dort akzeptiert wird, wo ihre Funktion in der Aufrechterhaltung der sozialen Beziehungen besteht, sofern sie als oberflächliche und daher nur dem Städter angemessene Beschäftigung für die Dauer der Adoleszenz toleriert wird, folgen diese Zugeständnisse gegenüber der Regel jenen Werten, an denen auch die Regel teilhat.






Die Heranwachsenden haben stets ein Anrecht auf erlaubte, d.h. symbolische und träumerische Unbekümmertheit gehabt. Früher profitierten die Jugendlichen insbesondere von der normierten Freiheit traditioneller Feste, etwa des Karnevals; bis heute sind sie für frivole Unternehmungen »zuständig«, ihnen obliegt die Organisierung und Vorbereitung von Festen, oder sie treiben Sport, während die Wahrnehmung von ernsthaften Angelegenheiten, beispielsweise von Gemeindeinteressen, bei den Erwachsenen liegt. Es verhält sich mit der Photographie wie mit dem Tanzen und den Techniken der verliebten Werbung, ja des Amüsements überhaupt. Bei den Jüngeren durchaus gebilligt, werden diese Praktiken mit der Eheschließung aufgegeben, die einen tiefen Einschnitt in die Existenz bezeichnet. Von einem Tag zum anderen ist es vorbei mit den Tanzvergnügen, den Ausflügen und der Photographie, die mit beiden gelegentlich verbunden war.

»Sie machen Photos, wenn sie sich verlieben, wenn Tänze veranstaltet werden. Natürlich, wenn man jung ist, tauscht man Photos aus; nach 25 Jahren sieht alles ganz anders aus, da hat man andere Sorgen im Kopf.« »Sobald ein Paar auf dem Land geheiratet hat, muß es sich um andere Dinge kümmern. B., der größte Bauer in der Umgebung, hat während seiner Verlobung und in der ersten Zeit nach der Hochzeit noch Photos gemacht. Heute müssen sie den Gürtel noch enger schnallen als wir Kleinbauern. Solche Flausen vergehen einem schnell, wenn die familiären Sorgen kommen, genau wie die Lust, auswärts tanzen zu gehen. Meiner Meinung nach ist das ganz normal. Und schließlich die Photographie: dafür sind die Berufsphotographen da, jedenfalls für die feierlichen Anlässe.«

So wird die Photographie als Objekt wie als Praxis immer nach der Logik jenes Systems impliziter Werte reinterpretiert, das die ländliche Gesellschaft beherrscht. Das photographische Bildnis, eine Innovation, deren man sich bedient, ohne sie ganz und gar gutzuheißen, wird von dieser Gesellschaft so weit übernommen, als es für sie eine Funktion zu erfüllen vermag. Bei den Heranwachsenden als Spielerei ohne Konsequenzen und Beständigkeit geduldet, den Frauen oder Familienmüttern gern zugestanden, weil sie in deren Händen gesellschaftlich vereinbarten Zwecken dient, widerspricht die photographische Praxis jedoch den männlichen Werten, die das Bild des typischen Bauern bestimmen; sie greift das Gebot der Konformität an, jenes ungeschriebene Gesetz, von dem das gesamte soziale Leben auf dem Land geprägt ist. Wenn das Bedürfnis, sich durch Nachahmung des Städters von anderen zu unterscheiden, gnadenlos mißbilligt und unterdrückt wird, weil man in ihm eine Herausforderung und einen erklärten Bruch mit der Gruppe erblickt, dann nicht zuletzt deshalb, weil diese Gesellschaft sich im Belagerungszustand erlebt und ihre Existenz verteidigt, indem sie sich versagt, der Lockung städtischer Werte nachzugeben.

Der Differenzierungsprozeß, den die Dorfgemeinschaft stets zu verhindern oder zu kontrollieren sucht, kann sich innerhalb der städtischen Gesellschaft frei entfalten. In der Logik der Bestätigung durch das Gegenteil fungieren die Unterschichten der großen Städte als fester Vergleichsmaßstab oder, genauer, als Kontrastmittel, was sich damit erklären läßt, daß die Photographie, anders als die sublimen kulturellen Tätigkeiten, anscheinend allen zugänglich ist. Die Praxis der Unterschichten, die unmittelbar und ausnahmslos den traditionellen Kodes unterworfen bleibt, verdankt die Mehrzahl ihrer Merkmale, insbesondere ihre relative Homogenität, dem Einfluß ökonomischer Hemmnisse, die sich bei Angestellten und Arbeitern etwa gleich stark bemerkbar machen.50 Die relativ wenigen Photoamateure sind meist Saisonkonformisten, die geringe Anzahl der Engagierten erscheint als abweichende Randgruppe. In ihrer Intensität beschränkt, versagt sich diese Praxis überdies außergewöhnlichen Ansprüchen: Sie ist dazu verurteilt, den traditionellsten Funktionen zu dienen. Sie meidet die besonders anspruchsvollen Mittel oder geht jedenfalls sparsam mit ihnen um. Das gilt vor allem für den Gebrauch des Farbfilms, freilich nicht allein wegen dessen Kosten, sondern auch, weil die Farbphotographie im allgemeinen mit einer Erweiterung des Bereichs des Photographierbaren einhergeht, einer Erweiterung, die an Reisen gekoppelt ist. Solange man vom Photo nichts anderes verlangt als die Fixierung einer wiedererkennbaren Erinnerung (und die Gewohnheit erwartet von einem Familienphoto nichts anderes), genügt eine Schwarzweiß-Aufnahme.51 In diesem Fall verdammt die mindere technische Ausstattung zu einer unzulänglichen Praxis, gleichzeitig bringt sie die Ergebung in eine solche Praxis zum Ausdruck.52

Der Wert, der der Photographie beigemessen wird, gründet darin, daß sie den Forderungen nach Realismus und Lesbarkeit genügt und besser als die Malerei (jedenfalls die moderne) den ästhetischen Erwartungen entspricht. So wird sie häufig zum Objekt einer ungebrochenen und gegenüber den Verhaltensregeln, die den ästhetischen Konsum der gebildeten Klasse bestimmen, gleichgültigen Zustimmung – zweifellos deshalb, weil man sich die Frage nach ihrer Zugehörigkeit zum Universum der Kunst nicht stellt, weil man sie nicht als Kunstwerk befragt und weil man nicht im Traum daran denkt, sie zu den erhabenen Künsten in Relation zu setzten, deren Legitimität man anerkennt, ohne daß sich dadurch das Urteil über die Photographie ändern würde. Das wird ganz deutlich an den Unsicherheiten und Widersprüchen in den Meinungen von Arbeitern zu unterschiedlichen Einschätzungen der Photographie, die ihnen vorgelegt wurden: Während es viele von ihnen ablehnen, sie für eine Kunst zu halten53, und in ihr ein Verfahren ohne Schwierigkeiten und Geheimnisse sehen, das anzuwenden keinerlei Begabung voraussetzt54, stimmen sie ebenso zahlreich Bewertungen zu, die die Photographie über die Malerei stellen.55

Diese Widersprüche sind eher scheinbar und im Grunde genommen auf den Umstand zurückzuführen, daß erst die Problembeschreibung des Meinungsforschers und die Untersuchungssituation eine für die Unterschichten fiktive und artifizielle Fragestellung hervorbringen, nämlich die nach dem ästhetischen Wert der Photographie.56 So läßt z.B. die Tatsache, daß die Mehrzahl der Arbeiter bei der Ausschmückung der eigenen vier Wände der Photographie denselben Rang wie der Malerei einzuräumen geneigt ist, gleicherweise die Schlüsse zu, daß die Photographie für sie eine Kunst ist, daß sich für sie das Problem der Kunst bei der Photographie überhaupt nicht stellt, und daß eine bestimmte Art der Photographie den Normen einer »Ästhetik« unterliegt, deren man als solcher gar nicht habhaft werden kann.

»Ich kann mit dem Kubismus und mit abstrakten Photos oder Bildern nichts anfangen,« sagt ein Arbeiter. »Das werde ich doch nie verstehen. [...] Landschaftsphotos mag ich am liebsten in Farbe, da sieht man die Jahreszeit und die Gegend, wo die Aufnahme gemacht wurde. Das Farbphoto lebt viel stärker als eine Schwarzweiß-Aufnahme. Das ist fast Cinemascope in Farbe. Das geht einem glatt runter.«

Wie die Metapher des Essens belegt, ist die ästhetische Wahrnehmung als Genuß definiert. Ihn gewährt vor allem ein Werk, das eine Realität wiedergibt, die zum Genuß auffordert und sich unmittelbar, ohne angestrengtes Suchen oder Bemühen verstehen läßt. Deshalb erfüllen die Farbphotographie und das Farblitho die ästhetischen Erwartungen besonders erfolgreich – die Gewohnheit, die »guten« Zimmer der Wohnung mit bunten Ansichtskarten oder mit Reproduktionen realistischer Gemälde zu verzieren, ist dafür das Indiz. Ein Arbeiter stellt sich die Ausschmückung seiner Wohnung folgendermaßen vor:

»Hochzeitsphoto, 20 x 30, auf einer Hartfaserplatte aufgezogen, ziemlich hoch an der Wand, darunter meine Kinder. Auf dem Kamin Photos von unserem Haus auf dem Land im kleineren Format 6 x 9 oder Postkartengröße. Auf der Kommode kleine Wechselrahmen mit Photos zum Angucken. Links und rechts von den Photos jeweils ein Blumenstrauß. Eine Wandtafel mit schönen Postkarten (Landschaften, Schiffe, Place de France in Casablanca, algerische, spanische oder griechische Landschaften). [...] Ich habe auch Reproduktionen von Gemälden, die sind eingerahmt. Ich habe das ›Angelus‹.*«

Die im strengen Sinne ästhetische Perzeption fehlt nicht nur dem Blick, den man auf das Photo wirft; sie ist der photographischen Praxis selber fremd. Man braucht die Ablehnung kühner Neuerungen gar nicht in erster Linie ökonomisch zu begründen; die bloße Vorstellung vom »Besonderen« ist so wenig vertraut, daß man es sich nicht anders als in Gestalt phantastischer oder ungewöhnlicher Einfälle der technischen Virtuosität denken kann: »Ich habe Leute gesehen, die schöne Bilder machen, nicht die üblichen Photos, z.B. eine Aufnahme, auf der der Eiffelturm durch die Beine eines Kindes photographiert worden ist. Man kommt selten auf die Idee, solche Photos zu machen.« (Arbeiter, 40 Jahre, der selbst photographiert.) Im Gegensatz zu dem, was diese Äußerungen nahelegen (in denen sich erneut die Situation der Befragung spiegelt), sind es nicht die außerordentlichen oder originellen »Ideen«, an denen es fehlt, sondern es ist der Gedanke, überhaupt Ideen zu haben, denn dies setzte voraus, daß es der photographische Akt an und für sich ist, der das Interesse des Photographen auf sich zieht. Tatsächlich jedoch bleibt die photographische Praxis stets jenen Funktionen untergeordnet, denen sie ihr Dasein und ihre Dauer verdankt, wobei Kostbarkeit und Kostspieligkeit der Ausrüstung diese Unterordnung noch verschärfen.

Obwohl die Photographie auch für die Angestellten den »ästhetischen« Erwartungen und insbesondere der Forderung nach realistischer Darstellung genügt, haben diese nicht mehr dasselbe einfache, unmittelbare und, wenn man so sagen kann, glückliche Verhältnis zur Photographie. Der Schatten der großen Künste, von der Situation der Befragung beschworen oder ins Gedächtnis zurückgerufen, fällt immer wieder auf die Urteile über die Photographie und bringt sie häufig ins Wanken. Den aus der Indifferenz entsprungenen Widersprüchen machen hier jene Zwiespältigkeiten und Unsicherheiten Platz, die in der Angst um die Normen der legitimen kulturellen Praxis wurzeln. Man verklärt die Photographie, indem man sie zur Rarität stilisiert57; zugleich läßt man sie lediglich als eine Kunst minderen Werts gelten.58 Man lehnt es ab, der Photographie denselben dekorativen Rang einzuräumen wie der Malerei; doch obschon man sich weigert, die traditionellen Photos einzurahmen und auszustellen, ist man sehr wohl bereit, gedruckte Photographien aus Bildbänden oder Zeitschriften auszuschneiden und sie zu rahmen. Dieselben Zwiespältigkeiten kommen in der Praxis selbst zum Ausdruck. Die nämliche Neigung, die einen die Photographie als Kunst hat akzeptieren lassen, begründet auch ihre Bewertung als eine minderwertige Kunst. Sie steht für einen verschämten oder, was auf dasselbe hinausläuft, aggressiven ästhetischen Entwurf.

»Ein Photo ist letztlich wie ein Gemälde. [...] Es gibt etwas vom Charakter desjenigen wieder, der es aufgenommen hat, und das ist eben ein bestimmter Stil.« Man gesteht seine Indifferenz ein, seine fehlende Kompetenz oder Geschicklichkeit, was man im Hinblick auf die legitimen Künste niemals tun würde: »Also, was mich angeht, ich habe überhaupt keinen persönlichen Stil, wenn ich Bilder mache, überhaupt keinen. [...] Die Photographie hat mich nie besonders angezogen.« (Angestellte, 25 Jahre, die selbst photographiert.)

Wenn sich unter den Angestellten weniger Amateurphotographen finden, die dafür ambitionierter und besser ausgerüstet sind als die Arbeiter59, wenn die Desinteressierten unter ihnen häufig auf die hohen Kosten dieser Liebhaberei hinweisen, und wenn die Häufigkeit der Praxis mit steigendem Einkommen bei ihnen langsamer zunimmt als bei den Arbeitern, so rührt das daher, daß sie sich implizit auf eine anspruchsvollere Definition dieser Praxis berufen und eher dazu neigen, ganz auf sie zu verzichten, als sie bloß gelegentlich auszuüben oder sie in den Mitteln zu beschränken.60 Die Sorge um die Legitimität der Photographie erklärt, warum in dieser Gruppe seltener als in anderen das Desinteresse an der Photographie für endgültig ausgegeben61 und überwiegend argumentativ gerechtfertigt wird – spontane oder unüberlegte Ablehnungen sind hier relativ selten. Auch werden die ästhetischen Präferenzen weniger unbefangen einbekannt. So kommt es z.B. vor, daß man seine Vorliebe für Gegenlicht-Aufnahmen mit dem Hinweis auf einen Maler oder ein Gemälde begründet.62

Es aktualisiert sich also das mehrdeutige Verhältnis dieser Gruppe zur hohen Kultur in ihrer Einstellung zur Photographie, die bei einzelnen Befragten, ja sogar bei ein- und demselben Individuum zum Gegenstand sowohl der Ablehnung werden kann, die einem Gefühl der geringeren Würde dieser aufwendigen Praxis entspringt, als auch einer unsicheren Zustimmung zu ihrer Legitimität.63 Das kommt offen in der Bedeutung zum Ausdruck, die die Photoamateure ihrer Tätigkeit zuschreiben: Der Anteil derer, die sich zumindest verbal mit den dieser Praxis zugeordneten Funktionen zufriedengeben, ist relativ niedrig.64 Die hinter scheinbar festgefügten Auffassungen verborgene Unsicherheit zeigt sich darin, daß die Angestellten in ihrem Bemühen, sich nicht auf die rituellen Anlässe der Praxis zu beschränken, und in ihrer Unfähigkeit, sich ohne Regeln und Modelle positiv zu definieren, häufig einer Art inhaltsloser ästhetischer Intention folgen, die strikt negativ durch die Ablehnung der Gebote jener »Ästhetik« definiert ist, die in den Photographien der Unterschicht zum Ausdruck kommt.65 Den ambitionierten Photographen bleibt demnach kein anderer Ausweg als der in eine vom Zweifel an der Legitimität gezeichnete und in ihren Normen vage Passion. Für diese reklamieren sie einen ästhetischen Wert, während sie sie zugleich mit kontingenten persönlichen Vorlieben umgeben, die ihnen den Vergleich mit den legitimen Künsten ersparen.66

»Man nimmt irgendwas auf, was einem gefällt, ganz egal, ob es regnet oder ob die Sonne scheint. [...] Ich nehme also z. B. einen Stuhl auf, der mir etwas sagt, weil ihm ein Bein fehlt. Aber trotzdem, was ist das schon! Das gibt absolut nichts her! Es gibt das wieder, was ich aufnehmen wollte, und für mich ist es deshalb etwas Schönes. Aber wenn ich meine Photos anderen Leuten zeige, dann heißt es: ›Na und?‹« (Lediger Angestellter, 23 Jahre)

Die zwiespältige gesellschaftliche Lage dieser Gruppe, die nichts oder nur sehr wenig, selbst in ökonomischer und erst recht in kultureller Hinsicht, von den Handarbeitern trennt, es sei denn das Bestreben, sich zu unterscheiden, tritt in den Zwiespältigkeiten ihrer Haltung gegenüber der Photographie zutage: Die insgeheime Zustimmung zur ›Volksästhetik‹ und zu den Werten, die diese zum Ausdruck bringt, läßt sich mit dem »guten Willen zur Kultur«, der sich vorwiegend negativ, über die Ablehnung der »Naivität« des Volkes, definiert, einzig im Rahmen eines subjektivistischen Relativismus vereinbaren, wie er sich in der Redensart niederschlägt: »Über Geschmack läßt sich nicht streiten.«

Dieselbe Attitüde verrät sich in den alltäglichen ästhetischen Wahlen. Durch seine Opposition gegenüber dem Alten oder dem Traditionellen sanktioniert, liefert der Geschmack am »Modernen« das Auswahlkriterium, das die Unsicherheit zu überwinden erlaubt. In der Photographie bekundet sich diese Haltung im Gebrauch anspruchsvoller Mittel: Farbfilm und Filmkamera, die von Angestellten häufiger benutzt werden als von Arbeitern. Und sie findet sich auch in anderen Bereichen. Ein Beispiel: Unter Bruch mit den Normen der Wohlanständigkeit, die Unaufdringlichkeit und Übereinstimmung mit den Regeln des Konformismus vorschreiben, führen die Angestellten in den Dörfern oder den Randzonen der kleinen Städte die schreiend bunten Häuserfassaden ein, als wollten sie jeder Ironie zuvorkommen, indem sie diese trotzig herausfordern und dem Betrachter signalisieren: »Das gefällt mir.«

Die gleichen Ambivalenzen und Widersprüche, allerdings härter und unverhüllter, bestimmen das Verhalten der mittleren Angestellten. Durchaus bereit, der Photographie die Dignität einer Kunst zuzuerkennen, und – zumindest verbal – darauf bedacht, sie ihrer herkömmlichen Funktion (Dokumentation von Familienerinnerungen) zu entkleiden, verwerfen sie meist die volkstümliche Definition der Photographie, die von einem verstümmelten Begriff des technischen Gegenstandes als einem Automaten ausgeht, versagen sich der realistischen Ästhetik, die gemeinhin mit diesem Begriff verknüpft wird, und sind sich einig in der Vorstellung, daß die Photographie dieselbe Arbeit erfordere wie die Malerei.67 Heißt das, daß die Ambitionen, die sie in ihrer Praxis verfolgen, mit ihren Absichtserklärungen übereinstimmen? Zweifellos verbinden die mittleren Angestellten das Photographieren stärker mit ihrer Freizeit und insbesondere mit dem Tourismus, zweifellos ist das Interesse, Familienphotos zu machen, bei ihnen geringer. Aber der Versuch, mit der Ästhetik der unteren Volksschichten zu brechen, läßt sich weniger an ihrer Praxis als an ihren ästhetischen Urteilen oder ihren Absichtserklärungen ablesen.68

Die Rede taugt vorzüglich zur Behauptung von Unterschieden. Denn die Absicht, sich zu unterscheiden, ist leichter durch die Formulierung von Prinzipien zu verwirklichen als durch reale Praxis – es liegt in der Logik des kulturellen Borgens, daß die äußeren Formen und der Außenaspekt eines Verhaltens umstandsloser tradiert werden als die tiefverwurzelten Haltungen, die ihnen zugrunde liegen. Anders ausgedrückt, solange nicht die Fähigkeit erworben ist, gegenüber jedem Gegenstand die ästhetische Haltung einzunehmen, die den Intentionen angemessen wäre, kommt es zu Widersprüchen zwischen den proklamierten Ansprüchen und dem konkreten Handeln. In unserem Fall heißt das: Selbst die passionierten Amateure bekunden die Originalität ihrer künstlerischen Absichten dadurch, daß sie andere Gegenstände photographieren, statt Gegenstände auf andere Weise abzubilden, d.h., sie distanzieren sich von den rituellen Funktionen, statt ihnen neue Bedeutungen zu verleihen.69 Aus dem Vorsatz, sich zu unterscheiden, resultiert ansatzweise ein Katalog negativer Gebote, die sich im Verhalten aktualisieren können. So verbindet sich die Ablehnung der traditionellen Funktionen der Photographie bei den passionierten Amateuren häufig mit der Ablehnung jener Techniken, die besonders kostspielig sind und die relativ direkt ein demonstratives Konsumverhalten ausdrücken, nämlich die Farbphotographie und das Filmen.70 Da jedoch ein Kodex von Geboten und Prinzipien fehlt, der es der Virtuosität erlaubte, sich in ihrem Handeln zu bestätigen, bleibt die Schmähung des Banausen der einzige Weg, den eigenen guten Willen zur Ästhetik zu beweisen.

»Ich sondere alle familiären Erinnerungsbilder aus, die die Atmosphäre nicht wiedergeben und keinerlei ästhetische Merkmale aufweisen oder zur Pose erstarrt sind. Ich will keine traditionellen Photos, auf denen Einzelne oder Gruppen zu Füßen des Parthenon posieren. Ich hasse das Gedränge der Touristenscharen in Shorts zwischen den Ruinen des Parthenon. Im letzten Sommer habe ich 20 Minuten gewartet, bis ich eine Säulengruppe photographieren konnte, ohne daß mir irgendwelche Touristen vor die Kamera gelaufen sind.« (Lehrerin, 30 Jahre)

Weil ihnen die erlesenen Praktiken untersagt sind, erscheinen den niederen und mittleren Angestellten die engagierte Photographie, der Ästhetizismus des Armen, ja alle sekundären Kulturpraktiken, sei es die Lektüre populärwissenschaftlicher Zeitschriften wie Historia oder Science et Vie, sei es die Aneignung besonderer cineastischer Kenntnisse, als ein ihnen erreichbares Mittel, sich von anderen zu unterscheiden.71 Und in dem Maße, wie sie sich nur negativ bestimmt, bleibt die verneinende Ästhetik der passionierten Amateure in der Wahl ihrer Gegenstände oder in der Art, diese abzubilden, der Ästhetik der »einfachen Leute« verhaftet, die sie gleichwohl verleugnet.

Ob und inwieweit die Haltung der mittleren Angestellten und Beamten tatsächlich originell ist, ermißt man, wenn man sich klarmacht, daß die höheren Angestellten und Beamten weniger häufig photographieren, obwohl sie über ein höheres Einkommen verfügen und ihr Lebensstil ihnen zahlreiche und verschiedenartige Anlässe zum Photographieren bietet. Zwar ist der Besitz einer Kamera bei ihnen weiter verbreitet; aber das ist keineswegs ein Indiz für eine häufigere, geschweige denn ambitioniertere Praxis72: Selbst bei ansehnlicher Ausrüstung erscheint dieser Besitz eher als Reflex des Einkommens denn als Zeichen von Engagement. Der leichte Zugang zu den teuersten Kameras und dem aufwendigen Zubehör ist nicht zwangsläufig mit einer enthusiastischen Praxis verknüpft.73 Der Prozentsatz der passionierten Photographen liegt bei den höheren Angestellten und Beamten niedriger, wobei der Mehrbetrag an Einkommen und Freizeit in Verbindung mit einer Erweiterung und einer größeren Vielfalt der Reiseziele lediglich die Zahl der Saisonphotographen erhöht.

Wir haben es also bei den höheren Angestellten und Beamten mit ambivalenten Haltungen zu tun. Einerseits sind sie geneigt, dem Photographieren einen künstlerischen Wert beizumessen, und sie lehnen in ihren Äußerungen ziemlich durchgängig eine Beschränkung auf deren traditionelle Funktionen ab: das Horten von Familienerinnerungen und die Illustrierung bedeutsamer Ereignisse. Andererseits bezeugt ihr praktisches Verhalten, daß sie der Photographie nicht wirklich den Wert zugestehen, den sie ihr in ihren Beteuerungen anheften – in ihrer im allgemeinen wenig intensiven Praxis haben die traditionellen Funktionen ein beträchtliches Gewicht. Je weiter man sich von den abstrakten Urteilen entfernt, die auf die Photographie generell gemünzt und auf universelle ästhetische Prinzipien reduzierbar sind, und je mehr man sich an konkrete Äußerungen hält, die, indem sie den Rückgriff auf theoretische Kenntnisse ausschließen, indirekt zu einer Rückbesinnung auf die Erfahrung einladen, d.h. auf die tatsächliche Praxis, um so deutlicher wird, daß die höheren Angestellten und Beamten die ästhetischen Ambitionen, die sie abstrakt beteuern, preisgeben, während die mittleren Angestellten relativ häufig an virtuoser Praxis festhalten.74 Muß man daraus schließen, daß die Urteile, mit denen sie der Photographie den Status einer Kunst zuerkennen, lediglich eine verbale Reverenz sind, die im praktischen Verhalten keine Entsprechung hat?75 In Wirklichkeit sind die Ambivalenzen und Widersprüche zwischen den Aussagen der Befragten und ihrem Verhalten letztlich wohl auf die Stellung der Photographie innerhalb des Systems der schönen Künste zurückzuführen. Einerseits ist sie wie jede Praxis, die sich künstlerischen Werten verpflichtet, eine Möglichkeit zur Umsetzung der ästhetischen Haltung, eine fortwährende und generelle Disposition; weil jedoch andererseits die photographische Praxis, selbst in ihrer vollendeten Version (und erst recht in der Form, die ihr jeder Amateur gibt) innerhalb der Hierarchie künstlerischer Tätigkeiten einen sehr niedrigen Rang einnimmt, fühlen sich die Amateurphotographen nicht bindend gehalten, ihre ästhetische Erfahrung in der Photographie zum Ausdruck zu bringen.76 Das erklärt, warum die sachliche Zustimmung zu den traditionellen Gebrauchsweisen der Photographie, die sich gelegentlich in Trotz oder Provokation äußert77, mindestens ebenso häufig ist wie der künstlerische Ehrgeiz, und zwar sowohl bei verschiedenen Personen wie bei ein und demselben Befragten.

Kurz, die Photographie kann als Kunst gelten, und sie ist niemals mehr als eine Kunst zweiter Ordnung. Daher bleibt auf diesem Gebiet die Barbarei oder die Inkompetenz ebenso folgenlos wie die Virtuosität: Zurückhaltende Zustimmung und nüchterne Ablehnung sind zwei ähnliche Verfahren, den relativen Wert auszudrücken, den man der Photographie beimißt, »eine Ausdrucksmöglichkeit, die wenig kostet und den Unbegabten vorbehalten ist« (höherer Angestellter, 42 Jahre). Die Befragten mit dem höchsten Bildungsgrad, die in ihren Kommentaren zur Ästhetik der Photographien überaus beredsam sind, hüten sich vor begeisterter Zustimmung und unbefangener Schwärmerei. Sic nehmen die Photographie für eine Möglichkeit, ästhetische Geschmäcker und Kenntnisse, die durch die Ausübung anderer Kunstfertigkeiten erworben wurden, anzuwenden:

»Ich bringe in die Photographie ästhetische Vorstellungen ein. Mein Urteil schaltet sich ständig ein, damit ich keine simplen Urlaubsphotos mache.« (Anwalt, 30 Jahre)

Jede Äußerung über die Photographie nimmt den Charakter eines Kunstgriffs an, einer rhetorischen Übung; man spielt hier mit Gefühlen oder Geschmäckern, die ihrem eigentlichen Gegenstand nicht entsprechen. Da sie keine wirkliche gesellschaftliche Sanktionierung genießt, vermag die Photographie ihren Wert einzig aus dem Willensdekret des Betrachters zu ziehen, der sich je nach Lust und Laune und nicht aufgrund kultureller Erfordernisse dafür entscheidet, ihr wie zum Scherz und für einen Augenblick die Würde eines Kunstgegenstandes zu verleihen. Anders ausgedrückt: Die ambitionierte Photographie kann sich nur so lange halten, solange die sanktionierten kulturellen Aktivitäten, etwa der Besuch von Konzerten oder Theaterinszenierungen, Museen oder Kinovorführungen, ihr keine Konkurrenz machen und sie entwerten. Ein Indiz dafür ist, daß die höheren Angestellten und Beamten in Paris, von denen man weiß, daß sie weit mehr als die übrige Bevölkerung an kulturellen Veranstaltungen teilnehmen, viel seltener photographieren als die Bewohner einer Kleinstadt wie Lille. Auch photographieren die Söhne von höheren Angestellten und Beamten zwar in ihrer Jugend häufiger als die von mittleren und kleinen Angestellten, als Erwachsene jedoch sehr viel seltener als diese.78 In der Gruppe der Sprach- und Literaturstudenten ist bei den Söhnen der mittleren Angestellten der Anteil der Photographen konstant höher als bei den Söhnen der leitenden Angestellten – das genaue Gegenteil gilt im Hinblick auf die besonders bevorzugten kulturellen Praktiken (mit Ausnahme des Besuchs von Filmklubs).79 Ähnliche Konkurrenzerscheinungen lassen sich in anderen Bereichen feststellen: Wenn trotz unterschiedlicher Einkommen die leitenden Angestellten und Beamten kaum mehr Fernsehgeräte besitzen (35,8%) als die mittleren Angestellten und Beamten (31,5%), wenn der Besitz eines Plattenspielers fast regelmäßig den Besitz eines Fernsehgeräts ausschließt und umgekehrt, wenn die leitenden Angestellten ausdrücklich betonen, daß sie von ihrem Fernsehapparat einen selektiven Gebrauch machen80, so zweifellos darum, weil die sozial hochgeschätzten Praktiken die weniger geachteten relativieren, vielleicht aber auch, weil die Angehörigen der Oberschicht ihre Distanz zu Zerstreuungen kenntlich machen wollen, die allein schon durch ihre weite Verbreitung mit dem Verdacht des Vulgären behaftet sind.81

Kann man sich letztlich damit begnügen, auf den kulturellen und künstlerischen Status der Photographie zurückzugreifen, um die Zwiespältigkeit der von ihr hervorgerufenen Haltungen zu begründen? Ein umfassendes Verständnis der Verhaltensweisen setzt das Studium der Ideologien voraus, die gegenüber falschen Systematisierungen und systematischen Deformierungen die gelebte Logik des Verhaltens formulieren und daher eine der entscheidenden Vermittlungen zwischen dem Objektiven und dem Subjektiven bilden. Ein Vergleich der Praxis mit den Erklärungen über die Zwecke, die ihr explizit zugeschrieben werden, ermöglicht es, zugleich mit der Erfahrung der legitimen Regel auch der Logik habhaft zu werden, nach der diese sich in Handlungsbegründungen oder -rechtfertigungen übersetzt, d.h. in allgemeine Urteile über die photographische Praxis und den Wert der Photographie ebenso wie in empirische Fragestellungen zur eigenen Praxis oder der der anderen. Aufgefordert, ihre Meinung über zwei in ihrer Modalität höchst unterschiedliche Typen von Urteilen abzugeben, nämlich einerseits abstrakte und allgemeine Behauptungen über den ästhetischen Wert der Photographie, die, wie die Thematiken der Dissertationen, nicht der realen Praxis und den sie inspirierenden Absichten nachspüren, sondern die dazu verführen, eine ästhetische Disposition oder eine Disposition zur Ästhetik aufzudecken82, und andererseits Behauptungen über die allgemeine Praxis, die, als der Alltagssprache entlehnte Klischees, die gemeinsame Erfahrung formulieren, indem sie sie karikieren83, erweisen sich die Angehörigen der Oberschicht eher geneigt als die übrigen, die Photographie mit einem ästhetischen Wert auszustatten, und gleichzeitig weniger bereit, ihr als praktischer Tätigkeit Bedeutung zuzuerkennen.

Die Widersprüche in den Aussagen der Befragten sind mehr als bloß ein ideologisches Epiphänomen. Obgleich sie sowohl über die materiellen Voraussetzungen einer Praxis, die an ausgesprochen ästhetischen Zielen orientiert ist, d.h. über die entsprechenden ökonomischen Mittel, als auch über die künstlerische Bildung und die Anlässe für eine Praxis verfügen, die (hauptsächlich aufgrund des Tourismus) ein breites Spektrum von Gegenständen einschließt, messen die höheren Angestellten den traditionellen Gebrauchsweisen der Photographie eine ähnliche Bedeutung bei wie die Angehörigen der Unterschicht. Als Gegenstand zahlreicher Stereotypen impliziert die Beschäftigung mit der Photographie zweifellos mehr als jede andere Aktivität (vielleicht mit Ausnahme des Tourismus) ein Bewußtsein des objektiven Bildes dieser Praxis. Und jeder Amateur bezieht sich objektiv, in seiner eigenen Praxis, auf das Bild, das er von der Praxis der anderen hat, sowie auf das Bild, das die anderen von seiner Praxis haben. Liegt es nicht daran, daß sie die Photographie als vulgär wahrnehmen, wenn die Angehörigen der Oberschicht es ablehnen, in ihr etwas zu sehen, was Anstrengung und leidenschaftliche Hingabe verlohnte? »Mein Mann macht keine Photos. Er weiß, was er sich schuldig ist«, meinte die Frau eines höheren Angestellten, der seine Einstellung so begründete:

»Ich möchte keine Photos machen, weil alle Welt mehr als genug davon macht. Die Leute sehen nicht mehr, sondern denken nur noch ans Photographieren. Das ist absurd ...«

Wer in solchen Auskünften lediglich Rationalisierungen erblicken wollte, die die Wirklichkeit eher verdecken als öffnen, der fiele einem methodologischen Irrtum zum Opfer. Tatsächlich gibt es eine regelrechte spontane Soziologie, die aus satirischen Anekdoten und kritischen Halbreflexionen über die Lächerlichkeit bestimmter Photoenthusiasten besteht.84 Die Gemeinplätze der Konversation werden durch die Karikaturen in den Illustrierten, die komischen Geschichten in Chansons und bestimmten gutverkäuflichen Büchern transportiert und verstärkt, die die Sitten und Gebräuche der Zeitgenossen zu schildern und zu analysieren vorgeben. Wie anders ließe sich der Erfolg der Bücher eines Pierre Daninos erklären? Sie bestätigen diejenigen, die sie lesen, in der Gewißheit, daß sie die richtige Lebensart haben, im Gegensatz zu den ausgefeilten Ambitionen der aristokratischen Schichten und der Vulgarität der Mittelklassen, die sich im passionierten Photographieren oder Fernsehen ausdrücken.85 Die Ironie von Daninos, der den naiven Eifer der fanatischen Photoamateure verurteilt und über deren lächerliche Photoausrüstung beißenden Spott ausgießt, entlehnt ihre Motive der allgemeinen Konversation, die beruhigend wirkt, indem sie die Gewißheit der anderen bestätigt:

»Ich hege eine aufrichtige Bewunderung für alle diese Leute, die Spanien oder Italien mit Siebenmeilenstiefeln durchqueren, behängt mit Täschchen, Etuis, Entfernungsmessern, Wechselobjektiven, Belichtungsmessern und Farbthermometern (›um die Farbtemperatur zu messen‹), und die, ohne jemals auch nur einen Knopf an einer ihrer Umhängetaschen oder die kleinste Filmspule zu verlieren, mit Riesenschritten ins Leica-Zeitalter eintreten.«86

Hinter der Komik des Verhaltens wird die Einstellung zur Kultur sichtbar, wie sie sich vor allem im Tourismus bekundet:

»Was ich an diesen Kleinbildkameras am meisten furchte, das ist das Erlebnis dieses schrecklichen Sklavendaseins, zu dem sie eine Unzahl von Menschen verdammen, die wahrhaftig ein besseres Los verdient hätten. Sobald sie im Urlaub an einem vom Reiseführer empfohlenen Aussichtspunkt oder Turm ankommen, denken diese Reisenden zuallererst an ihren Apparat. [...] Statt die Landschaft mit den Augen zu betrachten, die sie im Kopf haben, beeilen sich diese Leute, sie von diesem dritten Auge bewundern zu lassen, das sie vor ihrem Bauch tragen.«87

In Unkenntnis der hohen Praxis der Kontemplation ohne Worte und Gesten, die vor bestimmten Landschaften oder Monumenten geboten wäre, verzehrt sich der unverbesserliche Photograph in seiner mühseligen Suche nach Bildern. Da er verlernt hat, das anzuschauen, was er photographiert88, reist er, ohne zu sehen, und kennt stets nur das, was der Apparat wiedergibt.89 In der Satire auf die passionierten Photographen und die photographische Besessenheit bringt die doxá von Daninos indirekt die Regeln der touristischen und der photographischen Praxis zum Ausdruck, die von der Oberschicht anerkannt werden. Sich zu den Normen der eigenen Gruppe konform zu verhalten, bedeutet demnach die Ablehnung einer vulgären Praxis und die Leugnung der Normen jener Gruppen, von denen man sich zu unterscheiden wünscht. Diese Normen erscheinen dem Bewußtsein lediglich in Gestalt negativer Gebote, die die Angst schüren, sich lächerlich zu machen. Sie können negativ sein, ohne sich auf die simple Negation der Normen anderer Gruppen zu beschränken. In der Ablehnung einer vulgären Praxis bezeugt sich ein Zwang zur Unterscheidung, welcher der Logik des Klassenethos folgt. Die Kleinbild-Fanatiker setzen die mühsame Askese der Aneignung (die sich im Französischen in dem Wort »faire« ausdrückt, z.B. in der Redewendung »faire l’Italie«) an die Stelle der Kontemplation, die angstvolle Akkumulation von Erinnerungen als Spuren und Belege ihrer »Produktivität« an die Stelle des interesselosen Ästhetizismus, der in der unmittelbaren Emotion zu sich selbst findet. Eine solche Einstellung verhält sich zu den sanktionierten Attitüden wie der Fleiß zur Begabung, wie die erworbenen Kenntnisse zur »natürlichen Qualifikation«. Die Vorstellung, die sich die Oberklassen von der touristischen und photographischen Praxis machen, unterliegt offenbar demselben charismatischen Prinzip wie ihre Vorstellung von »kultivierter Haltung«, ja, ihre Haltung zur Kultur überhaupt.

Das Streben nach Statusunterschieden (das sich auf allen Stufen der sozialen Hierarchie beobachten läßt) verstärkt also lediglich die Klassenunterschiede. Da es keine Instanzen gibt, die eine Hierarchie von Praxistypen und eine allgemein akzeptierte Rangordnung der konformen Verhaltensweisen zu definieren vermöchten, können Verfeinerung und Differenzierung im Bereich der Photographie einzig in der Gegnerschaft zur Vulgarität sichtbar werden – die Angehörigen der Oberklassen können sich nur negativ definieren, gleichgültig, ob sie eine gute Photographie kennzeichnen als »ein Werk, das mit dem der anderen nicht vergleichbar ist«, oder ob sie in ihrer ästhetischen Wahl darauf zielen, »nicht einfach die üblichen Urlaubsbilder zu machen«. Kurz, selbst im günstigsten Fall ist die photographische Praxis kaum jemals auf spezifisch und streng ästhetische Zwecke gerichtet. Abgesehen davon, daß das Unterfangen, weil es sich nicht auf Sprache und begründete Normen stützen kann, besonders schwierig ist, verwirklicht sich die ästhetische Absicht, die immer schon eine von vielen Formen des Strebens nach Unterscheidung oder, wie man sagt, »Distinguiertheit« war, letztlich in der Tat nur mittels der Negation, also ebensowohl in einer Praxis, die mit der allgemeinen Laxheit bricht, wie in dem Verzicht auf jederlei Praxis.

Ihrer sozialen Funktion verdankt die Photographie ihre immense Verbreitung, aber auch ihre Eigentümlichkeiten und, nicht zuletzt, sogar die Grenzen dieser Verbreitung. Daß die photographische Praxis stärker als jede andere kulturelle Tätigkeit einem natürlichen Bedürfnis zu folgen scheint, hängt fraglos mit ihrer Verbreitung zusammen, aber auch damit, daß sie, anders als das Interesse für Museen oder Konzerte, über keine Institution verfügt, die sie explizit vergesellschaftete oder sie förderte, und daß die mit ihr verbundenen Prestigegewinne nicht gravierender sind als die Mißbilligung, der der Verzicht auf sie anheimfällt.90 Weder natürlich noch bewußt erzeugt, ist das Bedürfnis nach Photographien und photographischer Praxis nichts anderes als der Reflex ihrer sozialen Funktion im Bewußtsein der Subjekte. Da sie keine methodische Bildung zur Voraussetzung hat, verwundert es nicht, wenn sie einerseits, trotz wirtschaftlicher Barrieren, weit verbreitet ist, und wenn andererseits die Bildungs-, d.h. Klassenunterschiede in ihr nicht so nachhaltig und deutlich hervortreten wie bei anderen kulturellen Tätigkeiten, die eklatant Bildungsunterschiede aktualisieren. Die Entscheidung für bestimmte Radioprogramme zum Beispiel ist – vermittelt über das Bildungsniveau – ähnlich eng an die Schichtzugehörigkeit gebunden wie das Interesse für Museen, und die Haltung der Hörer ist um so selektiver und aufnahmewilliger, je gebildeter sie sind.91 Woran liegt es, daß die Beschäftigung mit Photographie sich für die Aktualisierung solcher Einstellungsunterschiede nicht sonderlich eignet? Sicherlich kommt Bildungsbeflissenheit leichter im Fall schlichten Konsumierens zum Ausdruck, etwa beim Anhören von Radiosendungen, als in einer praktischen Tätigkeit. Und zweifellos kann sich (zumal bei den Angehörigen der Mittelschicht) der »Wille zur Bildung« in verbalen Bekenntnissen erschöpfen. Aber man sollte sich davor hüten, den Gegensatz zu übertreiben: Tatsächlich kann das Anhören von Radiosendungen nicht weniger Aktivität signalisieren als das Photographieren, sofern ihm eine Wahl zugrunde liegt und sofern es Aufnahmebereitschaft voraussetzt. Im übrigen genügt die bloße Absicht, sich von anderen zu unterscheiden, niemals zur positiven Bestimmung von Praxis. An der kulturellen Lage der Mittelklassen läßt sich ablesen, daß die Verneinung einer Konvention noch nicht das Tor zur Wahrheit ist. Die undifferenzierte Ablehnung der Ästhetik und Praxis der unteren Volksschichten kann sehr wohl zum Ergebnis haben, alles gutzuheißen, was, jedenfalls auf den ersten Blick, anders als das Abgelehnte ist.

Die Verwirklichung der künstlerischen Absicht ist in der Photographie deshalb so schwierig, weil sie sich nur schwer der Funktionen zu entledigen vermag, denen sie ihre Existenz verdankt.92 Es wäre naiv zu glauben, daß mit der Photographie zugleich die ästhetische Erfahrung allen zugänglich sei: Tatsächlich wirkt hier dasselbe Prinzip, aufgrund dessen die Photographie eine weitverbreitete Praxis und lediglich in seltenen Fällen der Hebel einer ästhetischen Erfahrung ist. Da sie fast immer bewußte oder unbewußte soziale Funktionen übernimmt und eng an das Familienleben, seine Werte und Rhythmen gebunden ist, sind ihre Begründungen ebenso wie ihre Existenzberechtigung geborgt. Die traditionellen Normen der Praxis setzen sich um so gründlicher durch, je mehr die Praxis selbst sich durchsetzt. So kommt es, daß ceteris paribus die Personen, die nicht photographieren, weit häufiger als die Photographen selbst gegenüber der Photographie eine ästhetische Position einnehmen, übrigens vorzugsweise gegenüber den Produkten der anderen. Der Photograph, der seine Photos anderen zeigt, verfährt im Gegensatz zum Maler mißbräuchlich, da das photographierte Subjekt, das kein universelles Subjekt ist, sich nicht an die Gesamtheit der Betrachter wendet. Wenn ich selbst dem Kind, das ich photographiere, oder der Photographie eines Kindes anders gegenübertrete als dem gemalten Kinderbildnis (weil es das eigene Kind oder die eigene Photographie ist), dann kann ich nicht von anderen erwarten, diese Photographie wie ein Kinderbildnis zu betrachten, und falls sie dies dennoch tun, steht es ihnen frei, darin nichts Interessantes zu entdecken.

Wenn es nun aber »natürlich« ist, daß die Amateure sich nur selten von den traditionellen Funktionen der Photographie lösen, wie ist dann zu erklären, daß die ästhetischen Ansprüche häufiger in Praxisverweigerung als in anspruchsvoller Praxis zum Ausdruck kommen? In Wirklichkeit genießt die Photographie nur als eine Institution Achtung, die durch ihre soziale Funktion aufrechterhalten wird; der Wille zu einer ambitionierten Praxis, die sich an ausschließlich und spezifisch künstlerischen Zwecken orientiert, verliert sich in aller Regel in einer negativen Ästhetik oder mündet in den Verzicht auf jede Praxis (indem er sich selbst verleugnet). Der Grund dafür ist, daß die gesellschaftlichen Klassen sich auf diesem Gebiet nur voneinander unterscheiden können, indem sie auf je besondere Weise von der gängigen Praxis abweichen. Die Aktualisierung der ästhetischen Intention gelingt hier sehr schwer, nicht nur, weil die Aufhebung jener Funktionen, denen die Praxis gemeinhin dient, schwieriger ist als in anderen Fällen, sondern auch, weil in der Vorstellung, die man sich von der Photographie und deren künstlerischem Wert macht, allzu oft der Vorsatz dominiert, sich eher durch Abstinenz oder nüchterne Zustimmung als durch ästhetische Arbeit von anderen abzuheben: Angesichts ihres minderen Ranges in der Hierarchie der Künste scheint die Photographie weder Anstrengung noch Opfer zu lohnen. Der Versuch, eine künstlerische Absicht über die Photographie zu verwirklichen, erscheint übertrieben, weil es an Modellen und Normen gebricht, und weil die Möglichkeiten des individuellen Ausdrucks oder des Schöpferischen hier weit mehr in der Wahl des Gegenstandes begründet liegen als in der Art und Weise, ihn photographisch zu erfassen, die, wie man glaubt, nur begrenzt der Variation fähig ist. Freilich hängen diese drei Gründe eng miteinander zusammen. Fraglos würde die ästhetische Gebrauchsweise sich stärker durchsetzen, wenn die Photographie eine sanktionierte Kunst wäre. In diesem Fall wäre die Verwirklichung der ästhetischen Intention sehr viel einfacher, weil ihr ein Kodex von Prinzipien und Geboten zur Verfügung stünde, der eine autonome Ästhetik der Photographie definierte, und weil sie in sanktionierten Modellen jene ästhetischen Gewißheiten fände, die eine Praxis anzuleiten vermöchten, die von ihrem künstlerischen Wert überzeugt wäre.93

Wenn das richtig ist, dann wird verständlich, daß die Individuen, die die Photographie als künstlerische Tätigkeit auffassen, eine Minderheit von »Abweichlern« sind, gesellschaftlich bestimmt durch größere Unabhängigkeit im Hinblick auf die Bedingungen, die die Praxis der Mehrheit nicht nur in ihrer Existenz determinieren, sondern auch in ihren Gegenständen, ihren Anlässen und ihrer »Ästhetik« sowie durch ein besonderes Verhältnis zur »hohen Kultur«, das an ihre Situation in der Gesellschaft gebunden ist. Dieselben Gründe, die die gebildeten Klassen von der Photographie abhalten, veranlassen bisweilen Angehörige der Mittelklassen, sie als einen zugänglichen Ersatz für sanktionierte Tätigkeiten zu interpretieren, die ihnen verwehrt bleiben.

* Gemälde von Jean-François Millet, 1814–1875 (A.d. Ü.)

Eine illegitime Kunst

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