Читать книгу Das Restrisiko beim Transport von Südfrüchten - Pirmin Müller - Страница 10

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Damit die Ruhezeiten den gesetzlichen Vorgaben entsprachen, schrieb Luc den Fahrtenschreiber mit Hilfe einer illegalen Software um. Die Autobahnpolizei liess sich problemlos überlisten, bei einer Analyse durch die IT-Experten am Zoll würde jedoch sofort ersichtlich, dass die Angaben gefälscht waren. Doch da seine Arbeitgeberin, die Transportfirma Caloche SA, etliche Mitarbeiter aus der Grenzregion beschäftigte, wurde er an den Kontrollstationen für gewöhnlich anstandslos durchgewinkt. Zumal bei einem Unfall von Früchten keine besondere Gefahr ausging, ganz im Gegensatz zu den Chemikalien, Sprengstoffen und anderen explosiven Ladungen, die täglich auf jämmerlichen Trucks kreuz und quer durch Europa gekarrt wurden.

Luc überprüfte die Eingaben und verschloss das Gerät. Anschliessend kippte er den Schaltknüppel zu Seite, stieg zwischen den Sitzen nach hinten, zog sich die Schuhe aus und legte sich auf das Ruhebett.

Ein Klopfen an der Beifahrertür schreckte ihn aus dem Schlaf. Luc rappelte sich hoch und sah auf die Uhr: Eine Viertelstunde zu früh. Es klopfte erneut. Er zwängte sich nach vorne und öffnete die Tür. Ein junger Mann schwang sich blitzschnell in die Kabine und hielt ihm die Mündung einer Pistole an die Schläfe.

»Auf den Fahrersitz, sofort!«

Luc tat, was der Fremde befahl.

»Hände weg von den Armaturen. Schön brav bleiben, dann geschieht nichts. Schön brav und keinerlei Dummheiten.«

»Ganz ruhig«, sagte Luc, während der lange, sehr dünne Mann über den Beifahrersitz auf das Ruhebett stieg, von wo aus er wieder die Pistole auf Lucs Kopf richtete. Mit heiserer Stimme verlangte er nach Spanngurten.

»Die sind im Werkzeugkasten. Der lässt sich nur von aussen öffnen.«

»Überleg dir gut, was du sagst!«

»Im Abteil über deinem Kopf … Vielleicht hat es da Ersatzgurten.«

Luc beobachtete aus den Augenwinkeln den jungen Mann, der sich mit spinnenartigen Bewegungen an den Stauraumabteilen zu schaffen machte. Er trug ein marineblaues Polo-Shirt mit der Aufschrift ›Camp David‹. Um seine Beine schlotterte eine schwarze Trainingshose, deren linkes Bein verschmutzt und auf Kniehöhe eingerissen war. Ein nervöser, bewaffneter Nordafrikaner, der nach Angst roch. Endlich fand er die Gurte. Er warf sie auf den Beifahrersitz und drohte: »Ich mache hier keine Spielchen, verstehst du? Mir ist egal, ob ich draufgehe, ich habe nichts zu verlieren. Ich drück ab. Einfach so, wie nichts.«

Vorsichtig legte Luc die Hände flach auf die Oberschenkel. »Gut so?«, fragte er und erhielt als Antwort einen Schlag ins Gesicht.

»Ich habe gesagt: ›Keine Spielchen!‹, verstanden?«

Luc nickte und folgte dem Befehl, die Spanngurte um sich zu legen. »So ist gut«, kommentierte der Entführer und fädelte das Ende in den dafür vorgesehenen Schlitz. Anschliessend zog er das Band mit der Metallratsche fest, bis es Luc tief in den Magen schnitt.

»Es schmerzt«, presste Luc zwischen zwei Atemzügen hervor und verzog das Gesicht. »So kann ich nicht fahren, unmöglich.«

Der Mann überlegte, schliesslich lockerte er die Fesselung, bis sich seine Geisel mit einem kehligen Seufzer entspannte. Dann zog er mehrmals ruckartig an der Ratsche, bis Luc vor Schmerzen aufschrie.

»Ich habe dich in der Hand … Verstehst du das?«

Lucs Halsschlagader trat dick und pumpend hervor; ihm war, als explodiere vom Druck des Blutes sein Schädel. Als der Mann die Gurte wieder lockerte, bedankte sich Luc, was der Entführer irritiert zur Kenntnis nahm.

Nun sassen beide schweigend in der Kabine. Luc vorne, die Hände am Lenkrad, der andere hinter ihm auf der Liege, die Pistole seitlich an der Nackenstütze angelegt. Er plante den nächsten Schritt, begann vor Überforderung zu husten und spuckte auf die Gummimatte.

»In meinem Lkw wird nicht gespuckt«, befahl Luc und war froh, die Stille durchbrochen zu haben.

Der Mann öffnete den Mund, um sich zu rechtfertigen, besann sich aber im letzten Moment. »Hier befehle ich!«, stellte er klar.

Luc begriff, dass er mit dem unberechenbaren Feind sprechen und sein Vertrauen gewinnen musste: »Ich heisse Luc Rapin, dreiunddreissig, und habe eine Tochter, achtjährig. Lara-Lea.«

»Was für ein idiotischer Name.«

»Sie spielt«, fuhr er unbeirrt fort, »immer noch gerne mit ihrem Plüschhund. Er heisst Rappi. Das Ding ist schon ganz zerfetzt, ein Ohr fehlt, aber geflickt haben will sie ihn auf gar keinen Fall.«

»Rappi«, lachte der Mann.

»Lara erwartet mich, sie braucht mich.«

»Mach, was ich sage, dann passiert nichts. Nimm mit niemandem Kontakt auf, Hände weg von den Armaturen … Erklär mir, was du tust; ich will wissen, was du tust!«

Luc drehte den Kopf und fasste den Mann ins Auge. Dieser wurde sogleich nervös, seine Augen weiteten sich schreckhaft, die Kaumuskeln zuckten unter der Haut der hageren Wangen, gesunde kräftige Zähne blitzten auf. Er ist eher verstört als bösartig, urteilte Luc. Einer, der zwar im falschesten Moment den Verstand verliert, ansonsten jedoch halbwegs normal zu sein scheint.

Ob er etwas fragen dürfe?

»Kommt drauf an«, sagte der Mann und drückte ihm wieder die Pistole an den Hals.

»Mich würde interessieren, was du vorhast.«

»Ich muss weg.«

»Dabei soll ich helfen?«

»Ich habe nichts zu verlieren.«

»Beruhige dich«, sagte Luc. »Du hast die Waffe, du hast die Macht. Ich will leben. Ich bin kein Held.«

»Ich habe nichts getan.«

»Das interessiert mich nicht.«

»Lügner! Du denkst, ich sei ein Terrorist.«

Luc zog die Schultern hoch und antwortete: »Ich wüsste gerne deinen Namen.«

Der Mann blickte ihn mit leicht geneigtem Kopf undurchschaubar an. Unterstrichen von einer ablehnenden Handbewegung sagte er schliesslich: »Kein Name.«

»Pas-de-Nom

»Halt den Mund, Jules.«

»Mein Name ist Luc, Monsieur Pas-de-Nom

»Jules, Luc, Martin … Was ist schon ein Name? Was bedeutet mir dein Name? Ich sag es dir: Nichts!«

Aziz verstummte und biss sich, während er nachzudenken versuchte, in die Unterlippe. In seinem Kopf hallten die Schüsse nach, er sah Menschen davonrennen, Schreie, ein weisses Hemd, das sich rot färbte. Die Holperstrecke entlang der Autobahn. Ein passender Name fiel ihm beim besten Willen nicht ein.

»Nenn mich einfach Aziz!«, befahl er mit seiner eigenartig heiseren Stimme.

Luc zeigte keine Reaktion. Nach einer Weile liess er gleichgültig verlauten, dass er froh sei, diesen Sachverhalt geklärt zu haben. Leiser Spott schwang mit. Aziz fragte sich, ob Luc gemerkt hatte, dass er ihm seinen richtigen Namen genannt hatte. Zur Ablenkung schaute er aus den Fenstern, nichts Auffälliges, auch in den Rückspiegeln war kein Mensch zu sehen.

Er fragte Luc nach der Route.

»Lausanne«, antwortete dieser, erleichtert, endlich etwas Vernünftiges zu reden.

»In die Schweiz?«

»Ja.«

»Gut, sehr gut sogar … Fahr los.«

»Ich kann so nicht fahren, das geht nicht. Stell dir vor, wir kommen in eine Kontrolle und ich bin am Sitz festgebunden. Dreimal darfst du raten, was passiert.«

»Das ist ein Problem«, erkannte Aziz.

»Du willst über die Grenze?«

Aziz nickte.

»Das ist gefährlich. Besser, du suchst dir einen Weg durch die Wälder. Ich lass dich vor der Grenze raus, das ist das kleinere Risiko für beide. Glaub mir, ich möchte morgen gerne zu Hause in meinem Bett erwachen … Verstehst du mich?«

Die nächsten Worte modulierte er betont wohlwollend ruhig, beinahe väterlich: »Du hast dein Leben vor dir, Aziz, und ich bin ein freiheitsliebender Mensch. Aziz, ich weiss nicht, wie du es hast, aber mir ist die Freiheit viel wert, sie bedeutet mir alles. Das sollte sie dir auch. Machen wir das Beste aus der Sache.«

»Fahr los, Luc – und hör auf mit dem Gelaber.«

»Die Gurte.«

Aziz klappte die beiden Metallteile auseinander, Luc atmete – nicht nur wegen des nachlassenden Drucks – erleichtert aus. Er richtete sich in seinem ergonomischen Sitz zurecht und legte sich die Sicherheitsgurte um, hinter ihm grinste Aziz: »Jetzt fesselst du dich aber selber!«

»Das kann man so sehen«, antwortete Luc und wertete den Lacher als ein gutes Signal für die bevorstehende Fahrt.

Der Motor startete, das Grollen der fünfhundert PS durchdrang brummend die schallgedämpfte Hülle der Fahrkabine.

»Warte!«

Luc hielt sich mit den Händen am Lenkrad und blickte nach hinten: »Du weisst auch nicht, was du willst. Mein Gott!«

»Wie weiss ich, ob du nicht die Polizei alarmierst?«

Luc hob die Schultern.

»Ich will, dass du mir alles erklärst, bevor du etwas tust! Damit ich Bescheid weiss. Verstanden?«

»Das macht durchaus Sinn«, antwortete Luc, sorgfältig darauf bedacht, ein Gefühl des Vertrauens zu vermitteln. Er überlegte kurz, wandte Aziz das Gesicht zu und schlug vor, dass er, sobald sie auf die Autobahn gelangten, nach vorne komme und es sich wie ein ganz gewöhnlicher Mitfahrer auf dem Beifahrersitz bequem mache.

»Ich erklär dir alles und so oft du willst.«

»Einverstanden«, erwiderte Aziz nach einigem Bedenken. »Du scheinst ein vernünftiger Mann zu sein.«

»Davon kannst du ausgehen.«

Thierry Rodenbach tippte eine Nachricht in sein Handy, als er aus den Augenwinkeln sah, wie der Auspuff des weissen Scania eine Wolke ausstiess und die Tagfahrlichter angingen. »Das Arschloch haut ab!«, stellte er ungläubig fest. »Das gibt es doch gar nicht.«

Mit der Tasche unter dem Arm stürmte er auf den Lkw zu, riss die Beifahrertür auf, sprang in einem Satz auf das oberste Trittbrett und schwang sich in die Kabine.

»Einfach abhauen, ohne mich, das würde dir so passen! So eine Scheisse, wir haben eine Abmachung!«, brüllte Thierry, den Motor übertönend. Er setzte sich wütend auf den Beifahrersitz, sah sich um und bemerkte die weit aufgerissenen Augen eines Mannes, der eine Waffe auf seinen Kopf richtete. Augenblicklich erstarrte er, sein Mund klappte auf, selbst sein Herz fiel vor Schreck aus dem Rhythmus.

»Halt die Fresse! Ein Fehler und du bist kaputt!«, warnte Aziz, während sein Zeigefinger am Abzug der Pistole zuckelte.

Thierry verstand sofort: Dieser Mann meint es ernst, der schiesst. Der spasst nicht. Ganz langsam zog er die Tür zu, die Tasche stellte er vorsichtig zwischen die Sitze. Er wartete. Ihn beschlich das eigentümliche Gefühl, dass er von Luc abfällig gemustert wurde. Aziz nahm die Tasche, durchsuchte sie, fand in der Seitentasche ein Handy und die Kopie eines Führerscheins, der auf Thierry Rodenbach ausgestellt war. Das Dokument legte er neben sich auf die Liege, das Handy steckte er vorerst in seine Trainingshose, mit der unbestimmten Absicht, irgendwann später darauf zurückzukommen. Anschliessend stellte er die Tasche zurück neben den Beifahrersitz, zögerte kurz, änderte seine Meinung und platzierte sie unterhalb der Liege, genau hinter Thierry.

Warum hatte Luc nichts von diesem Typen gesagt, fragte sich Aziz. Sie hatten doch eben eine Lösung gefunden.

Er durfte keinesfalls Furcht zeigen. Also drohte er in überheblich-aggressivem Ton: »Was immer hier gespielt wird: es ist mir egal. Ich habe keine Angst. Wenn ihr nicht macht, was ich sage, veranstalte ich ein Blutbad. Mit euch, wie nichts!«

Thierrys Blick hastete vom Parkplatz zu seinen Mitfahrern und wieder zurück.

Misstrauen erfüllte die Kabine mit einem Geruch von Angst, Aggression und einer Atmosphäre aus Verdächtigungen, abschätzenden Blicken und einer mühevoll unter Kontrolle gehaltenen Panik. Luc umklammerte die Handbremse, als wäre sie ein Rettungsanker. Einzelne Schweissperlen bahnten sich einen Weg von den Schläfen über die Wangenknochen, wo sie sich in verschiedene Richtungen teilten. Thierry versuchte, einen Ton von sich zu geben, brachte aber nur ein Krächzen zustande.

»Nun fahr endlich los!«, befahl Aziz. »Worauf wartest du?«

»Von rechts kommt jemand«, sagte Luc, zwei tiefe Falten bildeten sich in seinen Mundwinkeln.

Ein staubiger, in die Jahre gekommener Laster mit schaukelndem Anhänger ruckelte vorbei. Der Fahrer grüsste achtlos und steuerte seinen Lastzug in die grosse Kurve, die das Wäldchen auf der anderen Seite halbkreisförmig begrenzte.

Luc löste die Handbremse, die er nach wie vor eisern festhielt. Behutsam drückte er das Gaspedal, der Lkw setzte sich sanft in Bewegung. Er fuhr um die Pinien und beschleunigte in der folgenden Rechtskurve, die auf eine langgezogene Ausfahrt führte. Dort setzte er den Blinker und lenkte den mit Südfrüchten beladenen Lastzug auf die Autobahn.

Madame de Rhime, eine ältere, in letzter Zeit etwas verwirrte Dame mit üppigem Silberschmuck und Foulard, hielt mit ihrem Peugeot an der gezackten Linie, um einem Lkw den Vortritt zu gewähren. Unwillkürlich duckte sie sich hinters Lenkrad, als dieser mit überhöhter Geschwindigkeit an ihr vorbeidonnerte. Sie verfluchte den Idioten von Fahrer, während aus ihrem Lautsprecher ein hörbar mitgenommener Radiosprecher von einem Attentat in Orange berichtete. Mit einem grosszügig bemessenen Sicherheitsabstand folgte sie dem Lkw auf die Ausfahrt. Sie war auf dem Weg zu ihrer Tochter, dem ersten Besuch seit dem Zerwürfnis an Ostern. In einem Korb auf dem Beifahrersitz dufteten selbstgebackene Olivenbrötchen, ein Versöhnungsgeschenk für das gemeinsame Abendessen.

Die von der Sommerhitze ausgebleichte Landschaft zog an ihrem Wagen vorbei, die abgeernteten Rebstöcke in den Weingütern waren in weiches mediterranes Licht getaucht, der wolkenlos blaue Himmel einzig durch eine schwarze Rauchsäule getrübt, die aus einem Feld nahe der Autobahn aufstieg. Jemand verbrannte Holz, Unkraut und was ihm sonst gerade überflüssig erschien. Vor der Rhonebrücke setzte Madame de Rhime den Blinker und überholte zügig den weissen Lkw. Auf eine unbestimmbare Art fühlte sie sich erleichtert, als in ihrem Rückspiegel der Sattelschlepper kleiner und kleiner wurde.

Das Restrisiko beim Transport von Südfrüchten

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