Читать книгу Das Restrisiko beim Transport von Südfrüchten - Pirmin Müller - Страница 11

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Der Weg über die steinernen Stufen zum prächtigen, mit Säulen eingefassten Eingang des Bezirksgerichtes war bereits bedrückend gewesen, doch nichts im Vergleich mit dem Gerichtssaal, Amtszimmer 448, in dem Luc jetzt alleine an einem zu grossen braunen Tisch sass, die Ellenbogen aufgestützt und die Hände vor dem eingezogenen Kopf ineinander verschränkt. Er hatte die Scheidung nicht gewollt, Muriel hatte sie eingereicht. Er hatte sich gewehrt und versprochen, was er meinte, versprechen zu müssen. Aber Muriels Entschluss blieb unverrückbar wie ihr Glaube, dass irgendwo da draussen der passende Mann auf sie warte.

Niemand würde je ihren Ansprüchen genügen, hatte Luc ihr wieder und wieder erklärt, das Problem sei sie selbst. Doch ausser eskalierendem Streit und giftigen Anschuldigungen hatte er nie etwas erreicht. Dazu geisterte sein Töchterchen Lara-Lea – auch so ein Zwang, als ob Lara oder Lea nicht gereicht hätte – verstört durch die Wohnung, den Stoffhund an sich gedrückt, als wäre er ihr einziger Schutz auf dieser Welt. Dieser Anblick brachte Luc erst recht in Rage: Er fluchte, warf Teller zu Boden, zweimal zerstörte er die Kaffeemaschine. Und einmal schlug er zu. Hart und mitten ins Gesicht.

Zu seiner Linken, an einem identischen Tisch, sass Muriel mit ihrem Anwalt, weichlicher Typ mit dünnem Lächeln, der sie dauernd am Arm berührte. Ob sie was mit ihm hat? Er wollte für seine Rechte kämpfen; aber hier gab es nichts, das Widerstand geboten hätte. Der Richter, leicht erhöht, sah mit wässrigen Augen gelangweilt durch ihn hindurch. Hier ordnete sich alles der unsichtbaren Macht der Amtshandlungen unter, selbst die heiteren Landschaftsaquarelle an den Wänden wirkten unterwürfig, so, als ob ihnen die Farbenpracht peinlich wäre. Luc biss auf die Lippen, bittere Tränen rannen über seine Wangen, die von Muriel mit Genugtuung beobachtet wurden. Zweimal atmete er hörbar ein und aus, dann unterschrieb er die vorbereiteten Dokumente. Seine Ex-Frau betrachtete kühl, wie er die Seiten ordnete, bevor er sie in der Tischecke platzierte. Sie schüttelte den Kopf, nicht abfällig, eher bemitleidend. Das herablassende Mitgefühl derjenigen, die sich überlegen fühlen.

Luc wartete, bis der Anwalt Muriel aus dem Saal geführt hatte, ihren Ellenbogen stützend, als stünde sie vor einem Zusammenbruch, dabei hatte sie mehr bekommen, als sie erhofft hatte. Er blieb sitzen. Ob er nun ging oder blieb, es änderte nichts. Der Richter, zu gleichgültig, um die Lügen zu durchschauen, wies ihn darauf hin, dass der nächste Fall vor der Tür stehe. Da Luc keine Anstalten machte, ging er zu ihm, klopfte tadelnd auf die Schulter und liess seine kraftlose Hand dort ruhen.

»Monsieur Rapin? Es wäre Zeit …«

Luc schüttelte den Kopf und senkte den Blick.

»Kommen Sie, Monsieur Rapin.«

Er schob Luc die eine Hand unter die Achsel, die andere seitlich an den Oberarm, mit sanftem Druck half er ihm auf die Füsse. »Die ersten Schritte sind die schwersten, aber glauben Sie mir, danach wird es einfacher«, ermutigte der Richter. »Lassen Sie sich Zeit, es gibt ein Leben danach.« Luc liess sich zur Ausgangstüre begleiten. Vor der Schwelle blieb er stehen und meinte abschätzig: »Gehen Sie in den Gerichtssaal, da gehören Sie hin.«

Der Audi Quattro Turbo, Baujahr 89, stand abseits in einer Seitenstrasse. Er setzte sich hinein, startete den Motor und fuhr aus der Stadt. In einem Vorortskreisel nahm er die Ausfahrt, die bergan führte. Vue des Alpes hiess die Strasse, an deren Ende ein vergilbtes Mietshaus stand, in dem er seit einigen Monaten wohnte. Die Wohnung war mit freier Bergsicht – ›Vue splendide sur la montagne!‹ – angepriesen worden, was für die oberen Geschosse galt, aber nicht für die unteren: Eine Reihe Tannen vor seinem Balkon verdeckte die Sicht auf alles, was mehr als einen Steinwurf entfernt war.

Hamid Boulanouar, ein Mann mit wachen Augen und für sein Alter erstaunlich vollem Haar, erwartete ihn. »Salut Luc«, grüsste er mit rauchigem Timbre. »Ich soll dir ausrichten, dass der Hund von Madame Koch froh wäre, wenn du mit ihm spazieren gingest.«

Hamid tat, als suche er eine Zigarette in seiner Hosentasche. Er rauche nicht, entschuldigte sich Luc, worauf er zu einem Kaffee eingeladen wurde.

»Wenn es keine Umstände macht.«

Hamid bat ihn hinein, Luc zog die Schuhe aus und rutschte auf Socken über das Parkett. Im Wohnzimmer wurde ihm der Platz auf dem Sofa angeboten, er setzte sich. Es tat gut, in Gesellschaft zu sein. Hamid servierte Kaffee.

»Du hast einen praktischen Namen«, begann Hamid die Konversation. »Kurz und klar, ein Abenteurername, passend für einen Mann um die dreissig.«

»Ich wurde nach dem Vater meiner Mutter benannt.«

»Er muss ein besonderer Mann gewesen sein«, meinte Hamid freundlich. »Oder die Mutter war sehr durchsetzungsfähig.«

Luc liess sich tiefer in das weiche Sofa fallen und nahm einen Schluck Kaffee. Da er nun das Tischchen mit der Hand nicht mehr erreichte, hielt er die leere Tasse in der Hand, er kam sich vor wie eine Tante beim Kränzchen. Aus einem ihm unerklärlichen Grund schaffte er es nicht, mit diesem Tässchen in der Hand zu antworten. Als hätte er Angst, es zu zerbrechen oder, schlimmer noch, mit der Stimme einer Frau zu antworten.

Was ein Tässchen alles auslöst, dachte er beiläufig, und dass Sprichwörter mit Tassen durchaus geeignet waren, um Verrücktheiten auszudrücken. Er begann, das Porzellan rundherum zu begutachten, drehte und wendete es. Schien es ihm erforderlich, hielt er den Kopf schief, um eine Lichtspiegelung mit besonders distanziert kritischem Auge zu betrachten. Ein Räuspern weckte ihn aus seiner Meditation.

»Hunger?«

»Danke, nein.«

»Musik?«

»Warum nicht.«

Hamid holte im Nebenzimmer eine Gitarre und einen Fussschemel, den er vor einem Stuhl platzierte. Als er sich eingerichtet hatte, entschuldigte er sich, er sei leider ausser Übung, es dauere, bis die Finger wieder Bescheid wüssten. Er zupfte einige Akkorde und lauschte den Klängen nach. Nach einem Moment der Stille fragte er: »Noch einen Kaffee?«

Luc, der immer noch mit seinem Porzellangefäss haderte, hielt ihm dankbar die Tasse hin.

»Dachte ich mir.« Hamid huschte in die Küche, von wo er mit einer vollen Tasse zurückkehrte.

»Bereits gesüsst«, erklärte er und mit einem trockenen »Et voilà« überreichte er sie.

Behutsam begann Hamid wieder die Saiten zu zupfen. Luc beobachtete seinen umtriebigen Nachbarn; er wusste nicht, wie er ihn einschätzen sollte, sinnierte darüber, liess es jedoch bald bleiben, die Melodien trugen seine Gedanken fort.

Er döste ein.

Selbstvergessen zupfte Hamid die Saiten und murmelte die Liedertexte, die er aus seiner Kindheit kannte.

Plötzlich schrak Luc hoch. Ihm war, als hätte er etwas zu erledigen. »Der Hund«, erinnerte er sich und tippte sich mit dem Finger an die Stirn. Das Spiel wurde unterbrochen.

»Der Hund?«

»Ich sollte raus mit ihm.«

Hamid stellte die Gitarre zur Seite und begleitete seinen Gast in den Flur, wo Luc seine Schuhe anzog und sich zwischen der Wohnungstür und Hamids wachen Augen etwas verloren vorkam.

»Du spielst gut, Hamid. Mit Gefühl, ein richtiger Musiker. Ich spielte Klarinette, meine Mutter wollte es so – fürs Hausorchester.«

Hamid zog eine Augenbraue hoch: »Eine musikalische Familie?«

»Ja, liegt in der Familie. Ein Onkel ist Pianist, meine Mutter singt sehr gut.« Lucs Gesicht erhellte sich, er lächelte, als er weitersprach. »Mama hatte sich rührend gekümmert, geduldig, liebevoll. Dabei war klar, dass bei mir nicht viel zu holen war; ich war sportlich interessiert. Obwohl ich ganz passabel spielte.«

»Wie meine Familie, damals. Wir spielten zu siebt auf Hochzeiten und Dorffeiern. Die ganze Nacht, alle gemeinsam.«

»Wir gaben Konzerte bei befreundeten Winzerfamilien.« Luc trat ins Treppenhaus. »Es ist Zeit«, sagte er und bedankte sich.

Ein Getriebener, dachte Hamid, trat einen Schritt zurück und sagte: »Geh mit Gott.«

Luc lachte trocken.

Hamid schloss die Tür.

Draussen kroch der kalte Novembernebel einer formlosen Anschuldigung gleich durch die Kleider bis in seine gekränkte Seele. Nach einer Runde um den Block hatte er genug und teilte dem Boxerhund mit, dass er morgen mit Frauchen wieder seinen gewohnten Rundgang habe. Der Hund winselte, er hätte gerne noch den Waldrand inspiziert. Zum Trost nahm er ihn in seine Wohnung, wo er sich freudig auf dem Teppich vor dem Fernseher wälzte. Luc füllte sich ein Glas mit Wein, setzte sich aufs Sofa und klemmte die kalten Füsse unter den Hund, der es sich widerstandslos gefallen liess. Nach dem dritten Glas kam er ins Grübeln. Er dachte an seine Zukunft; dass sein Leben dringend einer Änderung bedurfte; dass er sich vorstellen konnte, diese Wohnung nicht nur vorübergehend zu bewohnen; dass er sich keinesfalls dem Alkohol ergeben durfte. Vor allem das nicht.

Das Restrisiko beim Transport von Südfrüchten

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