Читать книгу Das Restrisiko beim Transport von Südfrüchten - Pirmin Müller - Страница 8

1

Оглавление

Vor Remoulins glitt die Autoroute A9 in einem eleganten Bogen in das weite Flusstal des Le Gard. Luc Rapin lenkte seinen Scania R500 seit dem frühen Vormittag Richtung Osten. Er war zu spät. Die üblichen Probleme mit spanischen Zulieferfirmen hatten die Abfahrt verzögert; diesmal war es irgendein Orangenproduzent, der seine Frühernte nicht rechtzeitig von den Bäumen gepflückt hatte.

Luc griff nach dem Trinkbecher, der in einer Halterung rechts der Armaturen steckte. Mit kurzen Schlucken und langen Pausen trank er den dünnen Kaffee. Gelangweilt lehnte er sich in seinen Fahrersitz, der die gelegentlichen Unebenheiten der Strasse perfekt austarierte, und steuerte den tonnenschweren Sattelschlepper mit minimalen Bewegungen des Lenkrads. Nach einigen Fahrkilometern erklang aus dem Bordcomputer eine abfallende Tonfolge. Meyer, sein Disponent, meldete sich aus der Zentrale in Lausanne.

»Salut Luc. Es hat leider eine unerwartete Änderung gegeben. Die Lieferung kommt nicht nach Lausanne, sondern ins Verteilzentrum nach Aarau.«

»Meyer, bitte, spar dir die Witze, ich bin jetzt schon zu spät.«

»Glaub mir, ich wüsste selber gerne, was da wieder vor sich geht. Die erteilen seit neustem Befehle ohne Begründung, was will ich machen? Grosskunde, kann sich alles erlauben, wir kuschen, oder er lässt sich die Ware von den Spaniern liefern und wir sind raus aus dem Geschäft. Dann ist fertig mit gemütlich Radieschen rumkutschieren. Dann heisst es Adios Spanien und Adieu schönes Frankreich.«

»Meyer«, unterbrach Luc, »ich habe den Sinn der Rede bereits verstanden: Ab nach Aarau und bloss um Himmels Willen keine Fragen stellen.«

»So in etwa«, lachte der Disponent und verabschiedete sich, nur um sich gleich darauf mit einem kräftigen Räuspern wieder anzukündigen: »Was ich dir noch nicht gesagt habe: Die Ladung muss morgen früh um sieben Uhr im Verteilzentrum sein.«

»Um sieben?«

»Das geht schon irgendwie«, meinte Meyer, worauf ihm Luc vorrechnete, dass er mit korrekter Einhaltung der Ruhezeit unmöglich vor zehn Uhr ankomme.

»Meyer, überleg zuerst. Das hilft auch bei dir.«

»Was soll ich denn tun?«, fragte dieser in unvorteilhaft erhöhter Tonlage.

Luc trommelte mit den Fingern einen ungeduldigen Wirbel auf das Lenkrad. Der Verkehr floss nachmittäglich ruhig vor sich hin, die Strasse stieg leicht an, das Getriebe schaltete in den vierten Gang, der Tempomat hielt den Lkw bei konstant 93 Stundenkilometern. Draussen zog die spätsommerliche Landschaft Südfrankreichs vorbei, einzelne Plattenbauten verunstalteten das ansonsten romantische Bild. Luc strich sich über den kahlgeschorenen, von der Sonne gebräunten Kopf, zog mit Daumen und Zeigefinger die Augenbrauen auseinander und streckte, so gut es eben ging, die Beine in der engen Führerkabine. Murmelnd sang er den Refrain ›Hoy día luna … día pena‹.

»Es gibt keine Lösung«, meldete sich Meyer mehr fragend als feststellend zurück. »Wir sind ein Team, wir müssen zusammenarbeiten.«

»Das fällt dir immer genau dann ein, wenn es zu deinem Vorteil ist.«

»Wir hätten einen Platz für dich in der Zentrale, das weisst du; Leute wie du sind gefragt.«

»Aber ich fahre lieber durch den Süden und lasse mich von dir schikanieren. Und wenn es bei euch Probleme gibt …«

»Musst du uns helfen. Dafür lieben wir dich … vor allem die Frauen.«

Beide lachten; Luc laut, Meyer nasal.

Er fuhr durch den Forêt du Rochefort, einen Wald aus kurzen knorrigen Bäumen, die auf dem kalkigen Untergrund denkbar schlechte Wachstumsbedingungen vorfanden. Für ihn war das ein Dickicht, kein Wald. Wie auch die Hügel, die hier als Berge durchgingen. Es kommt eben auf den Standpunkt an, dachte er, während am Horizont das blaue Schild mit der Aufschrift Aire de Tavel Sud auftauchte. Luc nahm den Dialog mit dem Disponenten wieder auf: »Ich fahre auf der A49 über Annecy nach Genf, so sollte ich vor zweiundzwanzig Uhr in Lausanne ankommen.«

»Nur, wenn du die Fahrzeit überschreitest.«

»Ich manipuliere den Fahrtenschreiber.«

»Das ist riskant.«

»Du bist der Disponent, du entscheidest, was zu tun ist.«

Er setzte den Blinker und steuerte den Sattelschlepper in die Ausfahrt zur Aire de Tavel. Der Lastzug rollte rechts an der Tankstelle vorbei zum Parkplatz der Fernfahrer. Neben einem Autotransporter fand Luc einen freien Platz, den letzten in der Reihe, nur eine Ausfahrtspur trennte ihn vom Pinienwäldchen, wo abends kecke Studentinnen aus Avignon mit wenig Aufwand zu Geld kamen.

Mit einem knurrenden Geräusch starb der Motor. Luc rieb sich die Handflächen und hielt sie auf die Augen. Eine schläfrige Mattigkeit befiel ihn. Er hob die Fersen, bis nur noch die Zehenspitzen den mit einer Gummimatte bedeckten Boden berührten, hielt die Position einige Sekunden und senkte die Füsse langsam wieder ab. Anschliessend massierte er sich die Kopfhaut, das erfrischte und entspannte.

Die Tonfolge erklang. Meyer erklärte, dass er beim Kunden nachgebohrt habe, er könne nichts machen. Stur wie Steinböcke.

»Das heisst?«

»Den Fahrtenschreiber bearbeiten.«

»Du hast Nerven! Ehrliche Bürger in die Kriminalität treiben! Du machst dir dein Leben auch nicht komplizierter als nötig.«

»Das hast du selber vorgeschlagen.«

»Es ist ein Risiko. Und Stress. Das hat seinen Preis, wie alles in der Welt … Aber du kennst mich ja, ich bin bescheiden und begnüge mich mit einem freien Tag«, erklärte Luc und ergänzte seine Forderung mit einer Ermahnung: »Geben und Nehmen, Meyer, nicht nur nehmen! Wir sind hier nicht bei den Plünderern.«

»Elender Erpresser«, murrte der Disponent, willigte aber dennoch ein, denn seine Existenz hing von der Zufriedenheit dieses einen Grosskunden ab. »Lass dich nicht erwischen. Übrigens nennt sich das Ausbeuter, nicht Plünderer.«

»Danke der Belehrung, mein ›Ausbeuter‹. Grüss die Familie.«

»Werde es ausrichten«, meinte Meyer und schloss die Verbindung zu Lkw Nr. 89. An seinem Desk begann das grüne Lämpchen zu blinken; der nächste Kunde mit dringendem Problem. Meyer hob die Füsse auf den Schredder und lehnte sich in den Bürostuhl, bis er beinahe waagrecht lag. »So ein Drecksjob«, fluchte er und bewunderte Luc, der sich gewisse Freiheiten bewahrte. Ist eben klüger als ich, dachte er. Dafür geschieden, frisst die Emotionen in sich hinein und sieht seine Tochter jedes dritte Wochenende. Alles kann keiner haben.

Luc stieg die drei Tritte von der Fahrerkabine hinunter, schloss die Tür und ging quer über den Parkplatz auf die Autobahnraststätte zu. Seine Bewegungen waren zielgerichtet und kompakt, eine Folge der knallharten Trainingseinheiten, die er bei der Wasserballmannschaft des CN Lausanne absolviert hatte. Vor dem Restaurant rollte er die Enden seiner blauen Arbeitshose hinunter, strich das T-Shirt glatt und prüfte sein Handy. Keine Nachrichten. Durch eine Drehtür gelangte er in den Eingangsbereich, von dort marschierte er durch das geräumige Restaurant in die Bar.

»Ah, Luc, lange nicht mehr gesehen«, begrüsste ihn Daciana und fragte mit einem Wimpernaufschlag nach seinen Wünschen.

»Wie immer, Schätzchen.«

»Mit oder ohne Heiratsantrag?«

»Das nächste Mal überleg ich es mir – diesmal lieber ohne«, antwortete er und setzte sich breitbeinig auf den Hocker. »Daciana, Täubchen, du bist doch bereits verheiratet, mit diesem Zwerg … wie hiess er noch?«

»Den Namen? Habe ich eben vergessen, wie immer, wenn ich die Glut in deinen Augen sehe«, erwiderte Daciana lachend und wendete sich einem Sandwich zu, das sie mit Salatblättern und gelbem Käse belegte. Als sie fertig war, klappte sie die obere Baguettehälfte ein und umwickelte es mit Plastikfolie.

»Wie lange bist du eigentlich geschieden, Luc?«

»Wie lange? Bald drei Jahre … wie die Zeit vergeht. Schon drei ganze Jahre.«

»Ein Mann wie du sollte wieder heiraten. Glaub mir, es wäre gut für dich. Denk an deine Tochter.«

Das Restrisiko beim Transport von Südfrüchten

Подняться наверх