Читать книгу Der Schwur der Engel - Pål Gerhard Olsen - Страница 5
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ОглавлениеIm Stadtteil Vinderen brannten alle Lampen, um dem schwarzgrauen Himmel zu trotzen. Im Restaurant Jeppe saßen hübsche Menschen in bester Weihnachtsstimmung beim Mittagessen. Ich selbst bekam von den Tortelloni, die ich in einem Anfall von Normalität bestellt hatte, nichts herunter. Zwischen den Perlenketten und Lacoste-Pullovern war ich Ausschussware. Ich konnte alles ermitteln, aber nicht Turids Tod.
Ich fuhr den Slemdalsvei hinunter bis Majorstua. Nach Hause konnte ich nicht – unsere Wohnung mit all ihren Erinnerungen erstickte mich. Im Bogstadvei fuhr ich einem Auto hintendrauf, ich hatte nicht aufgepasst, als der Wagen vor mir anhielt, um Oslos Stolz, den blauen Straßenbahnen, nicht zu nahe zu kommen. Der Fahrer war etwa fünfzig und schien um den Ehrenpreis als pingeligster Autobesitzer zu kämpfen. Er hatte einen Bürstenschnitt, trug einen Jagdanzug und schnauzte mich mit Zitaten aus Sodom und Gomorrha an. Wir hatten unsere Fahrzeuge aus dem Weg gefahren, und er diktierte mir gerade Buchstabe für Buchstabe die Schadensmeldung, als mein Handy klingelte.
«Können Sie mal vorbeikommen?», fragte Mirjam Paulsen ohne einleitendes Gesumse.
«Was Besonderes?»
«Zumindest so besonders, dass Sie herkommen sollten.»
Nicht sollten, korrigierte ich, nachdem sie aufgelegt hatte: müssen. Der Ton ihrer Stimme bedeutete fraglos das Ende jeglicher Zusammenarbeit.
Das Bürstenschwein hörte nicht auf, er fing immer wieder davon an, was für ein degenerierter, hirntoter Dreckskerl ich sei. Er schaffte es, sogar dann noch einige Beschimpfungen loszuwerden, nachdem ich ihn mit der Schadensmeldung geknebelt hatte. Als ich mich stürmisch in den dichten Freitagsverkehr fädelte, kam ich nochmals gegen sein Heiligtum. Im Rückspiegel sah ich, wie er Passanten in den Kriegsrat einbezog, als plane er die Bildung eines Lynchmobs. Ich war zum Volksfeind geworden.
«Sie sind zu Hause nicht ans Telefon gegangen und im Büro auch nicht. Aber dorthin wären Sie wohl an einem Tag wie heute auch nicht gefahren, oder?», sagte Mirjam Paulsen als Prolog. Sie trug einen marineblauen Blazer mit weißem Rippenpullover und gut sitzenden Hosen. Svenning strotzte hinter ihr, als sei er wieder im Sportstudio gewesen.
«Nein, ich kann im Grunde nirgends hin. Aber ich habe einen Wunsch.»
Ich sagte nicht: einen letzten Wunsch. Obwohl auch das vorstellbar war. So wie Kriminalkommissarin Paulsen ihre Karten ausspielte, war alles vorstellbar. «Ich möchte ihr Büro noch einmal sehen», fuhr ich fort.
Die Räume waren identisch. Aber dieses Büro war von Turid durchtränkt, von ihrem Duft. Ein griechischblauer Blumentopf. Eine Landschaftszeichnung aus dem Hallingdal. Gelbe Zettel rund um den Monitor, weitere auf dem Schreibtisch, dem Telefon, dem Aktenschrank. Ein pfirsichfarbener Seidenschal über der Stuhllehne. Ihre kleine Musikanlage, drum herum einige CDs. Altbewährte wie Marvin Gaye und Aretha Franklin, neue wie Macy Gray. Sie hatte Soul gemocht, Rhythmen der Leidenschaft. Wir hatten uns zu dieser Musik geliebt.
Ich nahm das Tuch mit. Pars pro toto. Das Teil, das am stärksten duftete.
«Die Lage hat sich verändert», sagte Paulsen, als wir wieder in ihrem Büro waren.
«Wir haben eine Zeugenaussage.» Sie zog einen Ausdruck hervor und setzte eine Lesebrille auf.
«Von der Kundin, über deren Identität Sie schlafen wollten. Und was sie zu sagen hat, wirft ein ausgesprochen schlechtes Licht auf Sie. Sie haben behauptet, ihre Identität nicht preisgeben zu wollen, um sie zu schützen. Aber es sieht ganz so aus, als ob Wenche Johnsen Ihren Schutz gar nicht will. Sie will vor allem ihrer Bürgerpflicht nachkommen und versucht gar nicht zu vertuschen, dass sie davon lebt, in ihrer Wohnung sexuelle Dienste anzubieten. Sie sagt jedenfalls aus, dass Sie gestern Abend zu ihr gekommen seien, gegen neun Uhr. Sie hatten nicht angerufen und ... einen Termin ausgemacht, Sie kamen einfach.»
«Und drohten ihr», übernahm Svenning. Er saß auf der äußersten Schreibtischecke und krempelte die groß karierten Hemdsärmel auf, sodass ich die Bizepse schwellen sah. «Drohten so nachhaltig, dass sie sich gezwungen sah, Sie hereinzulassen, damit nicht das ganze Haus zusammenlief», fiel Paulsen ihm ins Wort. «Sie führten sich auf wie das Jüngste Gericht. Wenche Johnsen glaubte, ihr letztes Stündlein habe geschlagen. Aber Ihnen ging es gar nicht um sie. Sie war nur das Vorspiel. Bei ihr reagierten Sie sich nur verbal ab, das genügte allerdings, dass sie Todesangst bekam. Aber Sie sagten ganz klar, dass Ihre Wut eigentlich Ihrer Frau galt. Sie waren sicher, dass sie Sie betrügt. Von Wenche Johnsen wollten Sie zu Turid.»
«Und was ist mit dem Wagen?», sagte ich, legte den Schal um den Hals und zog die beiden Enden gleich lang. «Kam dieser Hinweis auch von Wenche Johnsen? Und wenn es so war: Warum haben Sie mir das alles nicht schon heute Nacht gesagt? Warum haben Sie gewartet?»
«Wir wollten Ihnen die Chance geben, selbst die Karten auf den Tisch zu legen. Aber das haben Sie leider, leider nicht getan», sagte die Kommissarin und breitete bedauernd die Arme aus, als sei alles, was nun komme, allein meine Schuld.
«Wenche Johnsen kann gar nicht gewusst haben, welches mein Auto war. Es sei denn, sie stand am Fenster, als ich kam. Und warum sollte sie das, wenn sie doch angeblich nicht ahnte, dass ich kommen würde?»
«Angst», sagte Svenning und baumelte so heftig mit den Beinen, dass ein Bikerstiefel meine Wade streifte. «Sie haben sie gezwungen, Ihnen im Auto einen zu blasen. One for the road, haben Sie gesagt.»
Ich zog das Tuch langsam um den Hals zusammen. Die Augen begannen wegen des Drucks auf den Kehlkopf zu schielen. «Es stimmt, dass wir hinuntergegangen sind. Dabei hat sie mein Auto gesehen. Sie fragte mich danach, als sei sie ein Autonarr. Ich zeigte es ihr. Wir gingen zur Aker hinunter. Sie hatte Angst, sagte aber, mit mir habe sie weniger Angst – darum gingen wir an den Fluss. Ich bin nur der Strohmann für den Mann, den Sie finden sollten. Seinetwegen hat sie mich angerufen, sie wollte ihn loswerden. Und er hat sie dazu veranlasst, mich zum Fluss hinunterzulotsen und zu ... zu dem, was da lag. Aber das darf sie nicht sagen, weil er sie unter Druck setzt. Sie darf nur sagen, was sie jetzt hier ausspuckt. Es ist eine Notlüge. Und bei Ihnen wird jetzt eine ganz normale Lüge daraus.»
Ich war laut geworden, schrill.
«Jetzt sage ich Ihnen einmal, was meiner Meinung nach passiert ist», sagte Mirjam Paulsen, als habe sie die Geduld mit mir verloren. Sie legte die Handflächen auf die Schreibtischplatte und beugte sich zu mir hin. «Damit es Ihnen leichter fällt, es selbst zu sagen. Aber zuerst möchte ich erwähnen, dass wir heute Morgen einen Durchsuchungsbefehl für Ihre Wohnung und Ihr Büro bekommen haben. Zurück zu letzter Nacht: Turid war tatsächlich mit Ihnen verabredet – dafür haben wir Wenche Johnsens Aussage. Sie hatten ihr gesagt, dass Sie sich an der Beyerbrücke mit Ihrer Frau treffen würden, verbal enthemmt, wie Sie waren. Vielleicht blieben Turid und Sie dort stehen, vielleicht gingen Sie die Aker entlang. Trotz der Flutlichter gibt es viele stockdunkle Abschnitte. So spät waren nicht mehr viele Leute unterwegs, außerdem war das Wetter nicht danach. Vielleicht hat sie alles zugegeben, als Sie Ihren Verdacht äußerten. Vielleicht hatte sie wirklich ein Verhältnis mit einem anderen. Aber das genügte Ihnen nicht. Sie hatten sich bei einer Prostituierten in Fahrt gebracht. Vielleicht hatte ja nicht nur diese Prostituierte einen Blick hinter Ihre Fassade geworfen. Vielleicht hatte Turid deswegen ein außereheliches Verhältnis angefangen. Ihre Tyrannei hat sie in die Arme eines anderen getrieben. Vielleicht wollte sie Sie seinetwegen verlassen. Vielleicht hat sie es Ihnen direkt ins Gesicht gesagt: Es ist aus. Da verloren Sie den letzten Rest an Selbstbeherrschung. Sie wurden handgreiflich.»
Jetzt war das Gesicht der Kommissarin sehr dicht vor dem meinen. «Sie sahen rot. Jetzt sollte sie etwas erleben, was sie noch nie erlebt hatte. Vorausschauend hatten Sie eine Schnur eingesteckt. Ihnen konnte sie nichts vormachen, im Grunde sind doch alle Frauen Huren. Ein Messer hatten Sie auch dabei. Ein richtiger Mann hat immer ein Messer dabei. So konnten Sie ihr die Haare abschneiden. Dann warfen Sie sie in den Fluss. Das sind nur Vermutungen unsererseits. Der Obduktionsbericht wird erst in einigen Tagen vorliegen. Aber wir glauben, dass die Gesichtsverletzungen nicht von Ihnen stammen, sondern ihr durch Äste und Steine zugefügt wurden. Danach sind Sie wahrscheinlich etwas umhergestreift, haben das belastende Messer weggeworfen. Aber Sie gingen zurück. Vielleicht bereuten Sie Ihre Tat. Sie wollten sein, wo Ihre Frau war, wollten der Erste sein, der sie fand. Das ist Ihnen gelungen. Wir fanden Sie durch Wenche Johnsen. Wir werden oft kritisiert, dass wir nicht präventiv genug arbeiten, wenn es um labile Männer geht. Leider sind wir auch dieses Mal zu spät gekommen. Doch was dann kam, kennen wir von anderen Fällen: einen Ehemann, der sich völlig zurückzieht, sich völlig von der Untat distanziert, die er selbst begangen hat. Wir haben sehr belastende Indizien, dass es sich so abgespielt hat. Wir haben diese Indizien zu einem Antrag auf Untersuchungshaft zusammengestellt. Wir behalten Sie über das Wochenende hier, Montagmorgen werden Sie dem Untersuchungsrichter vorgeführt.»
Ich zog das Tuch noch etwas fester zu, schielte noch stärker. «Nein», sagte ich. «Sie glauben doch selbst nicht, was Sie da sagen.»
«Wir glauben gar nichts», belehrte mich Paulsen. «Wir halten uns ausschließlich an Tatsachen.»
Ich stand mit einem Ruck auf, stieß an den Schreibtisch, sodass Svenning das Gleichgewicht verlor. Ich rastete schon wieder aus. Das war das Einzige, was ich noch konnte.
«Aber Turid hat etwas geglaubt», brüllte ich aus vollem Hals. «Sie glaubte an ihre Arbeit als Polizistin. Das war für sie nicht wie Kreuzworträtsel lösen. Das hatte etwas mit Fleisch und Blut zu tun. Da gibt es keine Abkürzungen. Schau hinter die Oberfläche, das hat Turid mir beigebracht. Habe ich es nicht gesagt – dass wir eine unglückselige Allianz waren? Haben wir nicht unsere Berufsgeheimnisse geteilt? Aber Geheimnisse haben immer etwas mit der Psyche zu tun, Frau Paulsen. Der kleine Psychologietest, den Sie mit mir gemacht haben, würde vermutlich einer Prüfung standhalten. Vielleicht auch nicht. Vielleicht hätten Sie darauf eine glatte Eins bekommen. Denn das ist Küchenpsychologie und darum glaubwürdig. Aber die Welt ist der unglaubwürdigste Ort, den es gibt. Ich habe sie nicht ermordet. Das ist eine Behauptung. Ich kann es mit Blut schreiben. Aber es bleibt eine Behauptung. Gehen wir weiter. Gehen wir zu Wenche Johnsen. Setzen Sie sie unter Druck. Sie schaffen das. Sie haben diesen Kerl, der ihr den Maulkorb verpasst hat, gerade glänzend beschrieben. Finden Sie ihn. Zerren Sie ihn ans Licht. Ich weiß nicht, ob er Turid ermordet hat. Aber er ist eine Spur. Es gibt mehrere Spuren, auch hierher ins Polizeipräsidium. Einen der Fälle, die sie im Herbst bearbeitet hat, den Fall Bucher. Sie haben sicher davon gehört, es gab ja wohl einen Informationsaustausch zwischen diesen Besenschänken. Turid erhielt übelste Drohungen, als sie an dem Fall arbeitete. Ich habe einen der Anrufe entgegengenommen. Ich habe ein gutes Ohr für Stimmen. Diesen Anrufer habe ich heute wieder erkannt. Nehmen Sie diesen Amund Bucher genauer unter die Lupe. Überprüfen Sie sein Alibi. Überprüfen Sie, ob er etwas mit Johnsen zu tun hat. Vielleicht sind das zwei Fliegen mit einer Klappe. Hängen Sie sich an ihn. Tun Sie etwas. Tun Sie etwas Vernünftiges, verflucht. Überlassen Sie die schwersten Brocken nicht mir. Hören Sie, was ich Ihnen sage, Frau Paulsen, oder brauchen Sie das schriftlich mit vier Durchschlägen auf Bütten?»
Ich war ihr sehr nah gekommen. Sie bewegte die Lippen. Nicht, um etwas zu sagen. Lautlos. Komm und nimm mich, sagte sie. Du kannst das doch besser. Leg mir den Schal um den Hals. Stell die Situation richtig nach, mit dem richtigen Geschlecht. Werde dem Ruf gerecht, den Wenche Johnsen dir angehängt hat. Nicht nur als Volksfeind, sondern als dein eigener schlimmster Feind.
Svenning hatte mir eine Hand auf die Schulter gelegt. Ein Sicherheitsnetz, dessen ich mir erst jetzt bewusst wurde.
«Nehmen Sie die Hand weg.»
«Wenn Sie sich beruhigen.»
«Sollte ich das? Sollte ich nicht Amok laufen?»
Ich fiel in den Stuhl zurück. Mirjam Paulsen fuhr sich mit einem Zeigefinger in den Halsausschnitt. Sie wirkte gut gelaunt, als habe ihr mein Ausbruch einen Adrenalinschub beschert.
«Ja», sagte sie. «Ich höre, was Sie sagen. Klar und deutlich, Sie sind nicht misszuverstehen. Sie kennen vermutlich den Spruch: Wie man sich bettet, so liegt man? Nun, Sie haben ja gerade anschaulich vorgeführt, wie Sie werden, wenn das Tier in Ihnen erwacht. Und genau das hat Wenche Johnsen heute gesagt: Bei ihr sind Sie heute einen Schritt weiter gegangen. Nicht so weit wie mit Turid, aber weit genug. Den Schritt vom Reden zum Handeln. Mit neuerlichen Zwangsmethoden, mit den bloßen Händen. Damit sie dichthält, damit sie nichts von gestern Abend sagt. Aber sie ließ sich nicht einschüchtern. Sie kam zu uns. Alle kommen zu uns. Unmittelbar bevor Sie kamen, ging hier eine Anzeige gegen Sie ein. Seinen Namen haben Sie gerade selbst erwähnt: Amund Bucher. Sachbeschädigung. Versuchte Körperverletzung. Und wir haben mehr als genügend Grund zu der Vermutung, dass Ihre Gewaltbereitschaft zu Turids Tod führte.»
Ich saß mit dem Kopf zwischen den Knien und hyper-ventilierte. Jetzt hatte ich einen Mordverdacht am Hals. Er zerrte mich hinab wie ein Mühlstein. Der Sturz ins Unfassbare nahm kein Ende.