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Im Untersuchungsgefängnis auf der Rückseite des Polizeipräsidiums wurden mir Fingerabdrücke und Blut für eine Blutprobe abgenommen. Die Zelle hatte eine grelle Beleuchtung und ein Bett, das ohne die geringsten Veränderungen auch zum Hackklotz getaugt hätte. Ich streckte mich mit einem derart starken Gefühl von Unwirklichkeit darauf aus, dass die Zelle sofort wie ein Fiebertraum wirkte.

Der Verteidiger kam am Samstagvormittag. Über die Glatze gekämmte Haare und Dreiteiler. Klein gewachsen, kugelrund. Das Brillengestell aus einer Zeit, als die Haute-Couture-Mode sich noch nicht mit Brillen befasste. Ørnulf Lindtoft. Ich hatte mich für einen unscheinbaren Diener Justitias entschieden. Als Erstes legte er eine gelbe Tüte mit Kampferbonbons auf den Tisch.

«Holen Sie mich hier raus», sagte ich nachdrücklich.

«Ich fürchte, das wird frühestens am Montag möglich sein», sagte er und bot mir ein Bonbon an. «Ich möchte nur erwähnen, dass ich von Ihnen nicht wissen möchte, ob Sie die Tat begangen haben, deren Sie beschuldigt werden. Das ist irrelevant.»

«Nicht für mich.»

Er lächelte, als hätte ich etwas Merkwürdiges, Spaßiges gesagt, ganz unvereinbar mit der juristischen Weltordnung, in der Schuld und Unschuld abstrakte Größen waren. Als das Lächeln verebbte, begann er, mit den Händen unruhig über die Tischplatte zu streichen. Ich bekam den Eindruck, dass er trank. Mehr, als er sollte. Über seiner Bonbontüte entwarfen wir meine Verteidigung. Seine Notizen machte er mit einem sehr wertvollen Füller, dabei schniefte er bei jedem Satz erkältet.

«Gut», sagte er und schraubte den Füller zu. «Nach meiner Meinung hat die Polizei im Grunde nichts in der Hand. Für sich betrachtet war Ihr Benehmen im Präsidium belastend, aber genau das werden wir nicht tun, es für sich betrachten. Und was den Abend des Mordes angeht, da haben sie nur eine indirekte Zeugenaussage. Soweit ich bisher herausfinden konnte, haben sie sonst nichts, was den Verdacht untermauern könnte.»

Er blieb sitzen. Etwas entspannter erzählte er mir von einem Rennpferd, dessen Miteigentümer er war, und von seiner Timesharing-Wohnung in Florida, als wolle er mich auf andere, angenehmere Gedanken bringen. Es war befreiend, mit jemandem zusammen zu sein, der meine Partei ergriff, auch wenn es nur ein Fließbandverteidiger war, der dazu verpflichtet war.

Er ging in sein verspätetes Wochenende, und für mich wurde die Zelle unerträglich. Sollte ich den Wachbeamten bitten, jemanden anrufen zu dürfen? Freunde oder Bekannte? Aber es gab niemanden, den ich ohne Einschränkung meinen Freund genannt hätte. Ich hatte mich nie irgendwelchen Kreisen angeschlossen. Meine Kommunikation im Alltag waren zufällige Kunden gewesen. Ich hätte nur jemanden aus Turids Freundeskreis anrufen können. Aber dazu konnte ich mich nicht durchringen. Von ihnen war niemand per se verpflichtet, sich auf meine Seite zu schlagen. Da konnte ich schnell mit dem Rücken zur Wand stehen, und für einen solchen Stellungskrieg fehlten mir die Kräfte.

Mit dem Schlafen war es vorbei. Hier wie zu Hause. Hinter den Augenlidern waren grobkörniges Rieseln, ständige Unruhe, sich jagende Traumbilder im Wachzustand. Ein Traum wiederholte sich immer wieder. Ich war wieder an der Aker. Es war Sommer, Turid und ich schwammen. Es war nicht am Vøyenfall, sondern weiter oben, etwas außerhalb der Stadt, wo der Fluss eine wunderbare Biegung macht und die Wiesen rundum spinatgrün waren. Dort gingen wir immer schwimmen. Sie schwamm am liebsten in Süßwasser, sie konnte Tang und Quallen nicht ausstehen. Sie schwamm mir flussaufwärts davon, um die Biegung, wie ein Fisch auf dem Weg zum nächsten See, dem Maridalsvann. Plötzlich drehte sie sich zu mir um und lächelte, wie nur sie lächeln konnte. Das «Komm und fang mich, wenn du kannst»-Lächeln. Und ich kam, griff nach ihr, ging mit ihr an Land, zwischen die Bäume. Da fing ich sie mit allem, was ich hatte und war.

Der Mörder hat ihr Leben genommen. Um dieses Ex empel des Terrors zu statuieren. Was ließ sich sonst noch über das Geschehen an der Aker sagen? Warum war sie dorthin gegangen? Mit wem war sie verabredet gewesen? Warum nicht mit mir? Es schien mir nahezu ausgeschlossen, dass sie mit ihrem Mörder verabredet war. Aber dann war es jemand anders gewesen.

Geheimnisse, dachte ich. Keine Berufsgeheimnisse, sondern Geheimnisse des Herzens. Im Traum schienen sich meine eigenen Worte über mein Verhältnis zu Turid gegen mich zu wenden, wurden zu einem Zerrbild. Im Traum lächelte sie ausweichend. Ein doppelt schmerzlicher Traum: von ihr zu träumen und zu wissen, dass sie tot war, und in diesem Traum Misstrauen zu spüren. Es war, als bekäme mein Bild von ihr feine Risse.

Am Sonntagnachmittag erhielt ich Besuch. Mirjam Paulsen in taubengrauem Kostüm und Schaftstiefeln nach Gutsherrenart. Ich schlug einladend auf das harte Bett.

«Setzen Sie sich doch.»

«Danke, ich bleibe lieber stehen», sagte sie und tat das, indem sie sich wie ein Feldwebel beim Appell aufbaute, mit leicht geöffneten Beinen, die Arme auf dem Rücken. «Ich wollte Ihnen nur mitteilen, dass wir die angekündigte Hausdurchsuchung bei Ihnen durchgeführt haben.»

«Teilen Sie mir erst mit, wie gut Sie Turid kannten.»

«Was hat das damit zu tun?»

«Vielleicht will ich es nur wissen, weil ich jetzt hier bin. Im Polizeipräsidium. Ein Arbeitsplatz, der ihr viel bedeutet hat. Manchmal redete sie fast so, als sei dieses Gebäude ihr zweites Zuhause. Es würde mich nicht wundern, wenn das bei Ihnen auch so wäre. Arbeit als wich tiger Teil des Selbstbilds. Frauen von heute, Frauen, die vielleicht zusammenhielten. Auch wenn ich mich nicht erinnern kann, dass sie Sie erwähnt hat. Aber vielleicht sind Sie ja noch nicht lange hier.»

«Ich kannte sie nicht besonders gut, das vermuten Sie richtig. Wir sind ... waren zu verschieden. Sie war etwas zu impulsiv, zu intuitiv für meinen Geschmack. Ließ sich in ihren Ermittlungen vielleicht zu viel von ihren Gefühlen leiten.»

«Schon sind wir wieder da. Bei der Psychologie.»

«Die muss ja auch sein. Es geht nicht um entweder– oder. Wir waren vielleicht nur über die Gewichtung unterschiedlicher Meinung. Wir haben darüber diskutiert, wir hatten ein ganz angenehmes, kollegiales Verhältnis. Es war immer anregend, sich mit ihr zu unterhalten. Sie war so lebhaft. Sehr gescheit.»

«Ja, nicht wahr? Sie verbreitete gute Laune, sie war ein richtiges Sonntagskind», sagte ich und begann auch ohne Schal zu schielen, sah das ungeborene Kind, das unser Sonntagskind hätte werden sollen.

«Die Verabredung. Für die Sie nur Vegard Bakkes Aussage haben. Turid hatte keinen Grund, an den Fluss zu gehen. Vielleicht hatte die Verabredung mit ihrer Arbeit zu tun. Aber dann hätte sie nicht so ein Geheimnis daraus gemacht. Mir hat sie gesagt, sie hätte im Büro noch Schreibkram zu erledigen.»

«Wie Sie sicher begriffen haben, meinen wir, eine Erklärung für die Verabredung zu haben.»

«Basierend auf Bakkes Aussage. Wer ist er?»

«Wir haben keine Veranlassung, an seinen Angaben zu zweifeln.»

«Nein, wann hat zuletzt ein Polizist einem anderen nicht geglaubt?»

«Das bringt uns nicht weiter. Ich wollte über die Schnur reden, die wir gefunden haben. Eine Angelschnur. Gleiche Marke. Gleiche Stärke. Guide Power Shoot, 0,85 mm. In einer kleinen Plastikschachtel. Lag hinter einem Schrägbalken in Ihrer Garage. Wirkt ganz so, als habe jemand versucht, sie zu verstecken. Ich rate Ihnen zu einem Geständnis. Nur mit einem lückenlosen Geständnis können Sie jetzt Ihre Situation verbessern.»

Vom Bett hoch. Sie macht einen schnellen Schritt Richtung Wand. Konfrontation gehörte zwischen der zugeknöpften und dennoch nicht unzugänglichen Polizistin und mir zum festen Repertoire.

«Wissen Sie, was ich glaube? Ich weiß nicht, was an der Aker passiert ist. Aber ich weiß etwas über Sie. Ich glaube, Sie konnten Turid nicht leiden. Glaube, dass Sie beide miteinander konkurriert haben. Oder genauer: Sie haben mit ihr konkurriert. Sie war umstritten. Das hat sie auch erzählt. Dass es im Team Widerstand gegen ihre unkonventionellen Methoden gab. Ein Stachel im Fleisch all der peinlich Korrekten. Solchen wie Ihnen. Ihre Arbeit bei der Polizei ist ein endloser Kampf gegen das Chaos.»

«Ich sollte jetzt wohl gehen», sagte sie und streckte die Arme nach vorne aus. Die Hände waren zur Faust geballt, aber sie fragte mich nicht, welche Hand ich wählen wolle.

«Ja, das Sonntagessen wartet. Was gibt es denn heute für Sie und den lieben Gatten? Lammbraten und dazu ein guter, runder Rioja?»

«Ich bin nicht verheiratet.»

«Ich war verheiratet. Jetzt bin ich ein lebender Toter.»

Kein Kommentar. Sie wandte sich zum Gehen.

«Wissen Sie, was ich noch glaube?», sagte ich zu ihr, als sie mir schon den Rücken zuwandte. «Sie wissen, dass ich es nicht war. Ihr analytischer Verstand sagt Ihnen, dass jemand diese Schnur dorthin gelegt hat, damit Sie sie finden. Aber Sie wollen das sich selbst gegenüber nicht zugeben. Sie verleugnen das. Als wollten Sie, dass Turid allen so in Erinnerung bleibt: umgebracht von ihrem Ehemann, einer tickenden Zeitbombe. Als sei das die verdiente Strafe dafür, dass sie so hypersensibel und undiszipliniert war.»

«Sie irren sich», sagte sie und drehte sich noch einmal um. «Mein analytischer Verstand arbeitet völlig unabhängig. Wenn er sagt, dass Sie tatverdächtig sind, dann bedeutet es das und nichts anderes. Daran muss ich mich jetzt halten. Ich bin verpflichtet, mich daran zu halten. Ich möchte Sie daran erinnern, dass ich mit dieser Meinung nicht allein stehe. Wir haben Juristen für unsere Fälle. Nicht ich muss zur Verhandlung.»

«Man wird Sie vermissen.»

Sie atmete schwerer. Ihre dunklen Augen leuchteten. Wir machen irgendetwas miteinander, dachte ich. Wir verfolgen insgeheim einen gemeinsamen Plan. Etwas in ihr fühlte sich von mir angezogen, so streitsüchtig, so unzurechnungsfähig vor Kummer, wie ich war. Als böte ich ihr qualifizierten Widerstand, und eher als Mann denn als Tatverdächtiger.

Der Schwur der Engel

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