Читать книгу Vera - Sklavin der Lust | Roman - P.L. Winter - Страница 3

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Vera lebt

Maria Wegner saß auf dem bequemen Lehnstuhl in ihrer Stube und sah zum Blumenfenster hinaus. Doch sie nahm die Umgebung nicht wahr, ihre Gedanken kreisten in der Vergangenheit, um ihren Sohn Manfred. Erinnerungen krochen in ihr hoch – Erinnerungen an seine Kindheit, das Abitur, seinen Studienabschluss, die Feier zur Beförderung zum Filialleiter einer Bank bis hin zu einer Ehrung bei der Polizei vor zwei Jahren. Sie blickte zur Kommode neben sich, auf der Fotos zu eben jenen Erinnerungen standen, mitten unter ihnen ein mit bunten Steinen verziertes goldfarbenes Kreuz, vor dem eine Kerze brannte.

Plötzlich wurde die Tür aufgerissen und Susanne stürzte herein. »Vera ist wieder da – Vera lebt!«, rief sie aufgeregt. Maria sah ihre Tochter verwundert an. Sie verstand nicht, was sie damit meinte, konnte, nein, wollte es nicht begreifen.

»Ja doch – es stimmt! Ich habe es gerade von Kurt erfahren und der weiß es von der Flughafenpolizei. Sie ist vor vier Stunden in Frankfurt mit dem Flieger aus Brasilien gelandet und auf dem Weg hierher.« Susanne, ganz außer Atem, schnappte nach Luft. Sie war die ganze Strecke von der Tischlerei bis nach Hause gelaufen – etwa anderthalb Kilometer –, um die Neuigkeit direkt zu überbringen. Am Telefon hatte sie es ihrer Mutter nicht sagen wollen, schließlich wusste sie nicht, wie Maria darauf reagieren würde. Nicht, dass sie etwas Unüberlegtes tat.

Maria sah noch immer überrascht aus. Vera, ihre Schwiegertochter, war vor mehr als zehn Monaten ohne Vorankündigung von einem Tag auf den anderen spurlos verschwunden, zusammen mit Manfred. Vier Monate später hatte die Familie die Information erreicht, dass er tot in Brasilien aufgefunden worden war. Von Vera fehlte seitdem jede Spur. Die Ungewissheit war für Maria die Hölle gewesen. Und dann die Information vom Tod ihres Sohnes, der lange Kampf um seine Beisetzung, die schließlich überstürzt in Brasilien erfolgt war – ohne ihre Zustimmung, und ohne dass sie die Chance gehabt hätte, daran teilzunehmen. Inzwischen war Maria eine gebrochene Frau, die nur noch von ihrem Hass und der Wut auf Veras Freundin Gerda aufrechterhalten wurde. Diese hatte nach Veras Verschwinden dreiste Behauptungen aufgestellt: Vera sei von Manfred entführt worden, nachdem er sie immer wieder vergewaltigt habe. Vergewaltigt! Wie sollte das möglich sein? Die beiden waren doch schon drei Jahre verheiratet gewesen – das ging einfach nicht in Marias Kopf, es konnte einfach nicht sein, es durfte nicht sein.

Der Hass gegen ihre Schwiegertochter war in der langen Zeit etwas abgekühlt. Sie ging davon aus, dass Vera entweder tot war oder sich irgendwohin abgesetzt hatte und sie alle nie wieder etwas von ihr hören, geschweige denn sehen würden. Sie war ihr inzwischen schlichtweg egal geworden – Vera existierte einfach nicht mehr in dieser Welt. Auf einmal sollte sie wieder da sein? Auf dem Weg hierher, ihr gegenübertreten?

»W... w... was?«, fragte sie mit zitternder Stimme und schob sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

»Vera kommt – sie lebt und ist wohlauf! Diese Schlampe kommt hierher!«, fauchte Susanne. Auch sie war voller Hass gegen ihre Schwägerin.

»Dann ... lass sie nur kommen. Der werden wir einen Empfang bereiten, der sich gewaschen hat. Die wird sich noch wünschen, dass sie in Brasilien geblieben wäre!«

In der nächsten halben Stunde redeten sich die beiden Frauen gegenseitig in Rage. Noch einmal kamen die Erinnerungen an das Erlebte der letzten Monate hoch und ließen all die Ängste, den Frust und die aufgestaute Wut wieder lebendig werden. Sie bestätigten sich gegenseitig in ihren Vorwürfen gegen Vera und das, was sie ihrem geliebten Manfred angetan hatte, bis es an der Tür klingelte.

Susanne trat in den Flur hinaus und konnte durch die farbige Glaseinlage der Haustür erkennen, dass mehrere Personen davorstanden. Allerdings sah sie durch das strukturierte Glas nicht, wer es war. Das bunte Glas und die helle Sonne im Hintergrund erzeugten eine eigenartige, fast mystische Stimmung in dem schmalen Flur. Als sie öffnete, standen zwei Polizisten vor ihr und grüßten sie freundlich.

»Guten Tag, mein Name ist Schulze, Dietmar Schulze, und das ist mein Kollege Markus Heinrich. Wir sind von der Flughafenpolizei Frankfurt und sollen diese Frau nach Hause begleiten.« Er trat einen Schritt zur Seite und deutete hinter sich. Dort stand Vera und lächelte sie freundlich an. »Sind wir hier bei Ihnen richtig?«

»Hallo, Susanne, wie geht es dir?«

Susanne war sprachlos – sie hatte sich mit ihrer Mutter so aufgestachelt, dass sie vorgehabt hatte, Vera gleich an die Gurgel zu gehen. Aber jetzt, als dieses Biest vor ihr stand, freundlich lächelnd, als ob nichts geschehen wäre, mit den beiden Polizisten an ihrer Seite, war sie vollkommen perplex. Sie hörte Schritte hinter sich, dann wurde die Haustür weiter aufgerissen.

»Du Schlampe, du dreckige Schlampe!«, fluchte Maria laut und drängelte sich mit erhobenem Gehstock an ihrer Tochter vorbei.

Susanne taumelte zur Seite, suchte Halt und sah aus den Augenwinkeln, wie Maria den erhobenen Stock wütend auf und ab wippen ließ.

»Du Schlampe, ich schlage dich tot, du hast meinen Manfred auf dem Gewissen!«, zeterte Maria erneut und ging auf Vera los, die erschrocken einen Schritt zurückgewichen war.

Im letzten Moment konnte einer der Polizisten den Hieb abfangen und Maria den Stock aus der Hand winden, während der zweite Beamte versuchte, sie zurückzuhalten. Mit vereinten Kräften schafften sie es schließlich, die Frau zu bändigen und davon abzuhalten, auf Vera einzuprügeln.

Es dauerte ganze fünf Minuten, bis sich die Situation zu beruhigen begann. Auf der Straße sammelten sich bereits neugierige Nachbarn, die – vom Geschrei angelockt – das Geschehen interessiert beobachteten.

»Entschuldigen Sie«, fragte einer der Polizisten mit ruhiger Stimme, »wäre es möglich, dass wir das drinnen klären? Hier auf offener Straße vor all den Passanten und Nachbarn ist doch nicht der richtige Platz dafür.«

Trotz der sanften Stimme, mit der er seinen gut gemeinten Vorschlag vortrug, explodierte Maria erneut und schnaubte, Vera käme nur über ihre Leiche ins Haus. Auch Susanne stimmte dem wütend zu und erklärte, dass sich im Haus ohnehin nichts mehr aus Veras Besitz befände – sie hätten bereits vor Monaten alle ihre Sachen rausgeschmissen.

Als Maria erneut versuchte, auf Vera einzuschlagen, zogen sich die Polizisten vorsichtig mit ihr zurück. Sie waren mit der unerwarteten Entwicklung überfordert – es sei eine einfache Überstellung nach Hause, hatte man ihnen gesagt. Dass Vera von der Flughafenpolizei die 350 Kilometer von Frankfurt nach Schweitenkirchen gebracht werden sollte, hatte sie zwar gewundert, aber Befehl war nun mal Befehl und den hatten sie nicht weiter hinterfragt.

Als sie irritiert und verloren mit Vera an ihrem Wagen standen – Maria und Susanne lauthals schimpfend noch immer an der Haustür –, trat einer der Umstehenden an sie heran.

»Hallo, Vera – bist du’s wirklich? Ich kann es kaum fassen, dass du wieder da bist. Schön, dich zu sehen. Wie geht es dir?«

Vera schien noch immer viel zu verstört und reagierte nicht, sodass der Polizist, der sich mit Schulze vorgestellt hatte, antwortete: »Sie kennen Frau Wegner?«

»Ja, sicher, ich wohne drei Häuser weiter und kenne sie seit knapp fünf Jahren, seit sie regelmäßig hier bei Manfred aufgetaucht ist. Nach ihrer Heirat haben wir uns immer wieder mal gegenseitig zum Essen eingeladen. Wir sind gute Freunde, kann man sagen.«

»Sehr gut. Können Sie uns vielleicht erklären, was hier gerade los war?«, fragte der andere Polizist – Heinrich – nach und deutete zum Haus, in das Maria und Susanne sich gerade schimpfend zurückgezogen und die Türe hinter sich zugeknallt hatten.

»Das hängt mit dem Verschwinden von Vera und Manfred zusammen – Details sollten Sie auf der Wache nachfragen. Ihre Kollegen können Ihnen das sicher besser erklären. Vera – wo wohnst du jetzt eigentlich?«

Vera hatte sich zwischenzeitlich wieder etwas gefangen und antwortete direkt: »Hallo, Richard. Danke, mir geht es so weit gut, ich bin nur etwas erschrocken über den Empfang. Eigentlich wohne ich ja dort« – sie deutete auf das Haus von Maria und Susanne – »zumindest hatte ich das angenommen.«

»Verstehe«, meinte Richard nachdenklich, »das könnte allerdings etwas schwierig werden. Wie Maria schon gesagt hat, haben sie Anfang März plötzlich alles Mögliche rausgeworfen. Da lag ein großer Haufen direkt an der Straße und alle Leute haben sich gewundert, weil die Sperrmüllsammlung schon zwei Wochen vorher war und alles noch recht neu und brauchbar aussah. Reden konnte man zu dem Zeitpunkt mit den beiden auch nicht wirklich. So haben sich viele einfach das eine oder andere Teil von dem Haufen genommen, bis er weg war – wir eingeschlossen. Wenn du willst, kannst du das, was wir uns genommen haben, natürlich gerne wiederhaben.«

»Danke – ich wüsste derzeit aber gar nicht, wohin damit. Vielleicht später, in ein paar Wochen. Wenn ich mich wieder eingelebt habe und ich das eine oder andere vermisse, komme ich gerne auf dich zurück. Vielleicht weißt du dann, wo es geblieben ist.«

»Hast du schon mit Gerda gesprochen? Hat sie dich nicht ... vorbereitet?«, wollte Richard vorsichtig wissen.

»Gerda? Meinst du Gerda Schuster?« hakte Vera unsicher nach. »Nein, daran habe ich noch gar nicht gedacht. Ich wollte eigentlich nur erst mal nach Hause. Mich wieder in gewohnter Umgebung einleben und herausfinden, was aus Manfred geworden ist.«

»Das solltest du doch am besten wissen – oder etwa nicht?« Jetzt war es an Richard, verdutzt zu sein. Auch die beiden Polizisten spitzten nun interessiert die Ohren und hofften auf mögliche Hintergründe zu diesem verzwickten Auftrag.

»Nein, ich weiß gar nichts. Am Flughafen in Brasilien haben sie mir anfangs Schwierigkeiten gemacht, weil ich so lange im Land war. Mit dem Touristenvisum hätte ich eigentlich binnen drei Monaten ausreisen müssen. Über die Einreisepapiere sind sie auf seinen Namen gestoßen und wollten wissen, wo er ist, da auch er laut ihren Informationen bisher nicht ausgereist ist. Bei der Einreise in Frankfurt wurde ich zur Seite genommen und schon wieder nach ihm gefragt! Die Polizisten waren aber wirklich freundlich. Nach der Befragung haben sie mich mit den beiden Kollegen nach Hause geschickt und gemeint, ich solle mich in den nächsten Tagen zur Verfügung halten, die Kollegen vor Ort würden mich kontaktieren. Es gäbe da anscheinend etwas zu klären und sie bräuchten dazu weitere Informationen von mir.«

»Du hast also keine Ahnung davon, was hier in den letzten Monaten los war?«

»Nein! Ich weiß nicht einmal so richtig, warum ich in Brasilien war«, antwortete Vera und ihre Augen begannen wässrig zu werden.

»Dann glaube ich wirklich, es wäre das Beste, wenn du erst mal Gerda anrufst – sie kann dir das Ganze sicher am besten erklären.«

»Woher kennst du Gerda eigentlich? Wieso glaubst du, dass sie mir alles erklären kann?«

»Du machst wohl Scherze? Sie ist doch eine deiner besten Freundinnen – oder besser gesagt, wahrscheinlich derzeit deine letzte echte Freundin«, erwiderte Richard leicht verwundert und fuhr fort: »Sie war die Einzige, die sich in den letzten Monaten noch für dich ins Zeug gelegt und alle möglichen und unmöglichen Hebel in Bewegung gesetzt hat! Sie hat alles gesammelt, was sie in die Finger kriegen konnte, und hat damit als Einzige einen Überblick, so weit man den überhaupt haben kann. Du hast doch ihre Nummer?«

»Nein – leider nicht. Ich habe derzeit auch gar kein Handy. Meines hab ich wohl irgendwo in Brasilien verloren und da waren alle Nummern drin.«

»Kein Problem.« Richard zog sein Mobiltelefon aus der Tasche, wählte eine Nummer aus seinen Kontakten und hielt es Vera hin. »Nimm – ich habe schon gewählt. Sie hat uns ihre Nummer gegeben, damit wir sie erreichen können, falls es irgendwelche Neuigkeiten gibt – dass du wieder da bist, wird sie sicher von den Socken hauen!«

Vera nahm das Telefon ans Ohr und hörte es klingeln, bevor eine bekannte Stimme sagte: »Hey, Richard, wie geht’s – hast du etwas Neues?«

»Hallo Gerda. Ich bin’s, Vera.« Vom anderen Ende kam keine Reaktion, ein langer Moment betretener Stille trat ein. »Hallo – bist du noch dran? Ich bin’s! Vera!«

Nun ertönte eine weinerliche Stimme am anderen Ende: »Vera? Bist du es wirklich? Wo bist du?«

»Hier vor unserem Haus auf der Straße, bei Richard –«

»Bleib, wo du bist, geh auf gar keinen Fall weg! Ich bin in zwanzig Minuten bei dir, ich komme sofort!«, kam die erregte Antwort von Gerda. »Nein, besser du gehst mit zu Richard. Halte dich auf jeden Fall von Maria und Susanne fern! Hast du verstanden? Geh ja nicht zu den beiden – ich bin gleich bei dir, gib mir noch mal Richard – schnell!«

Aus dem Mobiltelefon ertönte plötzlich ein Scheppern, als ob etwas zu Boden gefallen wäre, ein Klirren von Metall auf Metall, das Knallen einer zugeschlagenen Tür und das laute Klappern von Absätzen auf Steinplatten.

Irritiert gab Vera das Telefon an Richard weiter. »Sie will mit dir reden.«

Schon ertönte wieder Gerdas Stimme: »Richard, Richard, du musst Vera unbedingt zu dir ins Haus nehmen. Ich bin schon unterwegs, ich komme gleich bei euch vorbei. Bring sie vor Maria und Susanne in Sicherheit – sie darf ja nicht zu den beiden ins Haus, die tun ihr noch etwas an! Hörst du: Lass sie ja nicht zu denen!« Gerda schien in heller Aufregung zu sein und hastete offenbar in Windeseile eine Treppe hinunter.

»Schon gut, Gerda, ja, wir gehen zu mir. Brauchst keine Angst haben, sie war schon bei Maria und –«

»Was? Seid ihr wahnsinnig, die beiden flippen doch total aus, wenn Vera bei denen aufkreuzt! Die Alte ist imstande und bringt Vera eigenhändig um ...«

»Gerda, beruhige dich – so beruhige dich doch. Sie war mit zwei Polizisten am Haus und die haben das Ärgste verhindert. Jetzt komm erst mal in Ruhe her, dann wird sich alles klären. In Ordnung? In Ruhe habe ich gesagt. Vera ist bei uns in Sicherheit, du brauchst dir keine Sorgen zu machen, komm einfach her –«

»Polizisten? Wieso Polizisten ...?«

Schließlich brach die Verbindung ab.

Richard wandte sich an die wartenden Polizisten: »Ich glaube, wir sollten wirklich lieber zu mir ins Haus gehen – wollen Sie mitkommen?«

»Eigentlich sind wir hier mit unserer Aufgabe fertig, alles Weitere fällt nicht mehr in unsere Zuständigkeit«, gab Schulze zurück. »Wenn Sie es wünschen, können wir zur Sicherheit die Kollegen von der Wache bitten, vorbeizukommen und nach dem Rechten zu sehen. Wir werden sie jedenfalls darüber informieren müssen, was hier vorgefallen ist – nur damit sie Bescheid wissen.«

»Ich glaube nicht, dass es notwendig sein wird, dass jemand herkommt. Dass Sie die Kollegen informieren, finde ich gut. Diese können uns ja auch erreichen, wenn sie etwas wissen wollen«, antwortete Richard und verabschiedete sich von den beiden Uniformierten. Er griff nach Veras kleinem Trolley und bedeutete ihr, vorzugehen. Sie verabschiedete und bedankte sich ebenfalls bei den Polizisten und schritt hinter ihm durch die sich vor ihr teilende Menge.

Vera - Sklavin der Lust | Roman

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