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Gerda

Auf dem Weg zu Richards Haus versuchte Vera, ihre Gedanken etwas zu ordnen. Gerda war eine Studienkollegin, sie hatten sich schon mit zwanzig kennengelernt – also vor gut vierzehn Jahren. Während des Studiums waren sie dicke Freundinnen gewesen und hatten viel gemeinsam unternommen. Gerda war stets ihre Beichtmutti gewesen, bei der sie sich immer hatte ausweinen können, wenn sie wieder einmal der Liebeskummer gequält hatte, was bei Vera recht oft vorgekommen war. Die ersten beiden Jahre nach dem Studium hatten sie noch regelmäßig in Kontakt gestanden, sich aber im Laufe der Zeit aus den Augen verloren. Als Vera im Mai vor zwei Jahren beruflich in München gewesen war, hatten sie sich zufällig beim Mittagessen getroffen und daraufhin abends ein großes Wiedersehen gefeiert. Dabei hatten sie festgestellt, dass sie gar nicht so weit voneinander entfernt arbeiteten und wohnten.

Gerda war Juristin und arbeitete bei einem angesehenen Notar etwa zwanzig Kilometer von Schweitenkirchen entfernt. In der Folge hatten sie sich ab und zu getroffen, wenngleich sich Vera nicht ganz sicher war, wie oft. In ihren Erinnerungen klaffte ein großes Loch und sie hatte keinerlei Erklärung, warum und wann genau es begonnen hatte.

»Da wären wir, herein in die gute Stube!«, unterbrach Richard ihre Gedanken und deutete mit einer ausholenden Geste in den Hausflur. »Simone ist noch mit den Kindern unterwegs, sie sollten in etwa zwei Stunden wiederkommen. Ich mache dir erst einmal einen Tee – magst du noch immer Hagebutte?«

»Äh – ich glaube schon. Ehrlich gesagt, habe ich schon seit Langem keinen mehr getrunken.«

»Du hast ... keinen Tee mehr getrunken?«, fragte Richard und sah sie verwundert an. Vera war eine leidenschaftliche Teetrinkerin und mochte am liebsten Hagebutte, genau wie seine Frau Simone. Immer, wenn Vera bei ihnen zu Besuch gewesen war, hatte sie mehrere Tassen getrunken.

»Tee schon, aber soweit ich weiß, keine Hagebutte, die gibt es in Brasilien anscheinend nicht – oder sie heißt anders und ich weiß es nicht. Ist jedoch völlig egal, kann auch gerne ein Kaffee sein ...«

»Kaffee? Du trinkst Kaffee? Das glaube ich jetzt nicht – den hast du doch immer konsequent verweigert, sei dir viel zu herb und bitter. ›Ein grauenhaftes Getränk, nur etwas für Koffein-Junkies, die sich damit wach halten müssen‹, hast du immer gemeint.«

Vera machte ein verdutztes Gesicht. »Offensichtlich habe ich mir das in Brasilien angewöhnt. Die dortigen cafezinhos sind einfach köstlich!«

»Cafe-was?«

»Cafezinho – heißt wörtlich übersetzt so viel wie kleiner Kaffee, also Kaffeechen. Hat etwa die Größe eines Mokkas, ist sehr stark und wird meist mit viel Zucker getrunken.«

»Aha. Ich sehe schon, du wirst eine Menge zu erzählen haben – sprichst du jetzt etwa auch Brasilianisch?«

»Ja. Äh, nein – die sprechen Portugiesisch, oder genauer gesagt eine Art portugiesischen Dialekt. Soll angeblich anders sein als das Portugiesisch in Europa, haben sie mir erklärt. Ja, ich habe es drüben gelernt – lernen müssen – und kann mich inzwischen auch recht flüssig unterhalten.«

»Also was jetzt – Tee oder Kaffee?«

»Bleiben wir lieber bei Tee. Nach dem, was ich so am Flughafen und unterwegs in der Raststätte bekommen habe, sollte ich meine Meinung über Kaffee noch einmal überdenken. Zumindest, was den hier bei uns angeht.«

»Gut so, bleiben wir beim altbewährten Tee«, erwiderte Richard lachend und ging in die Küche. »Mach’s dir inzwischen im Wohnzimmer gemütlich, du kennst dich doch noch aus – oder?«

»Ich glaube schon.«

Nachdem Richard mit dem Tee zurückgekommen war, saßen sie zusammen und Vera gestand ihm ihre Erinnerungslücken. Auf der einen Seite wusste sie gar nicht, wie sie nach Brasilien gekommen und was dort genau geschehen war, andererseits kamen andere Erinnerungen plötzlich und unerwartet zurück. Langsam wurde das Loch kleiner, ohne dass sie es kontrollieren konnte. Erinnerungen an ihre Vergangenheit, als sie gemeinsam mit Manfred hier zu Besuch gewesen war, überrollten sie. An die regelmäßigen Streitereien, die sich dabei mit Manfred immer wieder ergeben hatten und bei denen sich Richard meist auf ihre Seite schlug, während Simone sich immer herauszuhalten versuchte. Vera wusste, dass sie sich auf Richard verlassen konnte.

Es klingelte an der Tür. Richard hatte sie gerade mal einen Spaltbreit geöffnet, als sich Gerda an ihm vorbeidrängte und ins Wohnzimmer stürmte, wo sie Vera um den Hals fiel.

»Vera, du bist es wirklich! Ich konnte es einfach nicht glauben! Du siehst gut aus, so richtig gut siehst du aus!« In Gerdas Augen zeigten sich Tränen – Tränen der Freude, Tränen der Erleichterung und Tränen der Befreiung. Sie hatte schon fast alle Hoffnung aufgegeben, ihre Freundin je wiederzusehen, und jetzt stand sie gesund und munter vor ihr.

»Komm, setz dich zu uns und trink auch einen Tee. Dann können wir in Ruhe über alles reden«, schlug Richard vor.

Die drei setzten sich an den kleinen Tisch, der im Wohnzimmer zwischen der Couch und den beiden Sesseln stand. Richard goss den blutroten, dampfenden Tee in eine weitere Tasse und füllte auch die kleine Schale mit den Keksen nach, die mitten auf dem Tisch stand und von Vera zuvor unbewusst geradezu geplündert worden war.

Zuerst erzählte Richard von den Vorkommnissen vor Marias Haus, anschließend Vera von ihrer Ankunft in Frankfurt. Der junge Mann bei der Passkontrolle war etwas überfordert gewesen, weil sein Display irgendetwas Unerwartetes angezeigt hatte, und hatte sie in einen Nebenraum gebeten. Dort war ihr schließlich mitgeteilt worden, dass sie laut Computer als vermisst galt und man ihre Identität überprüfen müsse. Nachdem dies erledigt, die Fingerabdrücke mit denen in ihrem Reisepass abgeglichen und auch ihre persönlichen Angaben bestätigt waren, wurden ihr die beiden Flughafenpolizisten vorgestellt, die sie nach Hause bringen sollten.

»Und jetzt rück du endlich damit raus, was mit Manfred ist – irgendwie gehen alle in Deckung, sobald ich seinen Namen nenne«, forderte Vera schließlich.

»Details gibt es später – jetzt erst mal so viel: Offensichtlich ist er tot!« Gerda musterte Vera gespannt. Es war sicher nicht die feine englische Art, einer Frau auf diese plumpe Weise mitzuteilen, dass ihr Ehemann tot war, doch Gerda war für ihre provokante und direkte Art bekannt und sie wollte Veras Reaktion testen.

»Tot?«, flüsterte Vera und sah betreten zu Boden. Es dauerte fast eine Minute, bevor sie wieder aufsah und mit leiser Stimme fortfuhr: »Es stimmt also wirklich – tot ... in Brasilien? Wie? Wann?«

Gerda konnte den Ausdruck in Veras Gesicht nicht wirklich deuten. Da war etwas von Trauer, aber auch Genugtuung, Dankbarkeit – und auch Überraschung. »Ja, in Brasilien. Wir wurden Mitte Januar informiert, dass dort eine Leiche mit Manfreds Papieren gefunden worden war. Vor ein paar Wochen bekamen wir allerdings einen Hinweis, dass die Papiere nicht bei ihm, sondern im Handschuhfach eines Wagens gelegen hatten und auch mit den Zahnunterlagen eventuell etwas nicht ganz stimmte. Das waren jedoch nur unbestätigte Meldungen – offiziell ist er jedenfalls tot und auch schon begraben – in Brasilien. Damit ist auch der Haftbefehl gegen ihn zurückgezogen worden.«

»Haftbefehl? Was für ein Haftbefehl?«, fragte Vera erstaunt, die Augen weit aufgerissen.

»Das gehört zu den Details, die ich dir später erklären werde – da sollte auch Thomas dabei sein ...«

»Thomas? Welcher Thomas? Du meinst doch nicht etwa meinen Ex-Thomas? Was hat er damit zu tun?« Jetzt war Vera wirklich verblüfft. Thomas war ein Ex-Freund aus der Studienzeit und an ihre Verflossenen wollte sie sich nicht erinnern. Das war ein sehr unangenehmes Thema. Irgendetwas sagte ihr jedoch, dass sich in Bezug auf Thomas etwas geändert hatte – nur was genau das war, wusste sie nicht.

»Ja, Thomas Schennach, dein Ex und jetziger Anwalt!«, versuchte Gerda zu erklären, wurde aber von Vera verdutzt unterbrochen: »Mein Anwalt, wieso Anwalt und wieso meiner?«

»Anfangs war er nur dein Scheidungsanwalt, allerdings nachdem sich –«

»Scheidungsanwalt?«, unterbrach Vera erneut die Fülle an neuen unerwarteten Informationen, die über sie hereinbrachen. Sie war kurz davor, die Fassung zu verlieren. »Wieso Scheidungsanwalt? Seit wann das? Und warum? Was um Himmels willen ist hier eigentlich los?« Vera klang verunsichert, ihre Stimme war belegt und in ihren Augen schimmerten erste Tränen.

»Erinnerst du dich nicht mehr? Etwa zwei Wochen, bevor du verschwunden bist, hattest du dich dazu durchgerungen, die Scheidung einzureichen. Thomas sollte dich dabei vertreten. Du hattest die Vollmacht schon unterschrieben. Nach deinem Verschwinden konnten wir dadurch in deinem Namen deine Interessen wahren und haben dabei ganz schön Staub aufgewirbelt, sonst hätten die von der Polizei ihre Hintern nie in Bewegung gesetzt. Allerdings sind das – wie gesagt – Details, die besprechen wir später.«

Vera umklammerte Halt suchend mit beiden Händen die Tasse und nippte an ihrem Tee. Sie versuchte, ihre Gedanken zu ordnen und das Gefühl der Hilflosigkeit zu unterdrücken. Zumindest konnte sie das Loch in ihrem Kopf etwas eingrenzen – es musste irgendwo in den letzten Wochen vor ihrem Brasilienurlaub beginnen, und zwar mit den angeblichen Scheidungsbemühungen.

»Also gut«, hörte sie wieder Gerdas Stimme, »du wohnst erst einmal bei mir, zumindest bis sich die ganze Angelegenheit geklärt hat. Ich habe auch ein paar von deinen Klamotten und den Dingen, welche die beiden Furien herausgeworfen haben – zum Teil selbst aufgesammelt, zum Teil haben mir einige deiner Nachbarn etwas vorbeigebracht, als ich mich nach deinen Sachen erkundigt habe. Richard hat auch ein bisschen was. Wo der Rest abgeblieben ist, wissen wir größtenteils auch, falls du alles zurückhaben willst.«

»Vorläufig nicht – lass mal gut sein. Irgendwie bekomme ich langsam, aber sicher den Eindruck, dass ich in ein vollkommen neues Leben zurückkehren muss. Trotzdem bin ich euch sehr dankbar, dass ihr euch die große Mühe gemacht habt. Danke!«

»Ist doch selbstverständlich«, gab Richard zurück. »Ich habe übrigens deinen Dokumentenordner gerettet.« Er stand auf, ging zu einem der Schränke und nahm eine große braune Mappe heraus, die er Vera überreichte.

»Ja, das ist super, den werde ich sicher brauchen. Danke dir!« Sie nahm die Mappe entgegen und überflog den Inhalt. Auf den ersten Blick schien alles komplett – angefangen von ihren Schul- und Unizeugnissen sowie Weiterbildungszertifikaten über die Geburts- und Staatsbürgerurkunde bis hin zur Eheurkunde, welche ganz hinten eingereiht war.

»Am Montag sollten wir auch gleich in der Früh gemeinsam mit Thomas zu deiner Bank gehen«, meinte Gerda. »Sie haben dein Konto gesperrt und mussten dir formell kündigen. Das sollten wir gleich in Ordnung bringen, damit du wieder an dein Geld herankommst. Die aktuellen Kontodaten hat Thomas, er hat auch alles für dich verwaltet und darauf geachtet, dass nichts schiefläuft. Die zwei Furien wollten natürlich Zugriff auf dein Konto – für die Kreditrückzahlungen der Haussanierung, für die du und Manfred die Raten gezahlt habt. Da das Haus allerdings formell auf Maria und der Kredit auf Manfred lief, hat schließlich auch die Bank eingesehen, dass du als Ehefrau nicht für ein Haus zahlen musst, welches du de facto wohl nie bekommen wirst. So haben sie den Dauerauftrag von deinem auf das gemeinsame Konto, von dem der Kredit bedient wurde, gestoppt – sehr zum Ärger der beiden.« Gerda konnte sich ein hämisches Grinsen nicht verkneifen.

»Dann haben wir offensichtlich ein volles Programm. So hatte ich mir meine Rückkehr nicht vorgestellt, aber was soll’s. Was erledigt werden muss, muss man erledigen.« Vera hatte sich zwischenzeitlich wieder etwas gefasst, ihre Stimme klang nun wieder fest und bestimmt.

Sie blieben noch eine knappe Stunde bei Richard, bevor Gerda vom Hunger getrieben zum Aufbruch drängte. Auch Vera spürte, dass die ganze Aufregung an ihren Reserven genagt hatte und sie etwas zum Essen vertragen konnte – die Kekse, welche sie komplett vernichtet hatte, hatten den knurrenden Magen nicht besänftigt. Richards Angebot, auf Simone und die Kinder zu warten und bei ihnen gemeinsam zu Abend zu essen, schlugen die beiden Frauen dankend aus. Vera hatte keine Lust, alles noch einmal mit Simone durchzugehen. So bedankten sie sich bei Richard für alles, versprachen, ihn auf dem Laufenden zu halten und ihn bald wieder zu besuchen.

Gerda wohnte in Freising, etwa zwanzig Kilometer entfernt. Dort lebte sie in einer großzügigen Eigentumswohnung samt großer Dachterrasse ganz in der Nähe ihres Arbeitsplatzes – einem angesehenen Notariat, in dem sie als Assistentin arbeitete und darauf wartete, endlich zur Junior-Partnerin befördert zu werden. Thomas’ Wohn- und Arbeitsort – seine eigene Rechtsanwaltskanzlei – war ebenfalls dort.

Vera war sichtlich erschöpft und Gerda musste sich in der Dämmerung auf den Verkehr und möglichen Wildwechsel konzentrieren, den es auf der Strecke immer wieder gab, auch wenn jetzt im Sommer die Gefahr noch nicht ganz so groß war. So verlief die Fahrt ruhig. Vera döste auf dem Beifahrersitz und ließ ihre Gedanken schweifen.

Vera - Sklavin der Lust | Roman

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