Читать книгу Nicht Anfang und nicht Ende - Plinio Martini - Страница 8

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Was es bei uns daheim Gutes gab, konnte ich an meinem ersten Weihnachtsabend in Kalifornien ermessen. Ich war seit zehn Monaten dort, und man kann ruhig sagen, dass ich außer meinem Boss und dem Onkel Felice, der mich einmal mit Antonio besuchte, nie einen Menschen zu Gesicht bekommen hatte. Fast hätte ich eine Wut gekriegt, als ich Antonio so friedlich mit dem Onkel anmarschieren sah, als wäre er in Amerika zur Welt gekommen. Ich hingegen hockte voller Schwermut auf einer Ranch von zwanzig Kühen, ganz allein mit einem struppigen Köter und einem Pferd, das ich von Zeit zu Zeit bestieg, um reiten zu lernen. Die Ranch gehörte einem Landsmann aus dem Val Maggia, der mir den Unterhalt und dazu dreißig Dollar monatlich zahlte. Aber über den Lohn beklagte ich mich nicht. Ein Dollar im Tag war für mich schon ein Vermögen, und ich darf sagen, dass ich das ganze Geld unangetastet nach Hause schickte, um die Schuld für die Fahrkarte ab­zuzahlen.

Als es an jenem Heiligen Abend zu dunkeln be­gann und ich den Stall schließen und in meine Baracke gehen konnte, um meine lehmverkrusteten Stiefel auszuziehen – denn im Winter verwandelte sich die Ranch in einen Morast –, dachte ich, was für ein schönes Feuer ich daheim vorgefunden hätte, um meine starren Füße zu erwärmen, und ich malte mir die Weihnachtsfeier meiner kleinen Geschwister aus: Das Christkind würde jedem eine Orange und eine Hand voll Kastanien bringen, und sie würden hochbeglückt sein. Ich begann zu begreifen, dass das Glück aus einem Nichts besteht und dass ich just dieses Nichts, das den Menschen glücklich macht, verloren hatte.

Ich versuchte, alles wie sonst zu machen. Ich stellte Wasser zum Waschen auf die eine Gasflamme und auf die andere die Pfanne für das Beefsteak; doch plötzlich konnte ich nicht mehr. Ich brach in Tränen aus, warf mich auf mein Feldbett und hämmerte mit den Fäusten auf meinen Kopf los. Ich sagte mir: «Du Trottel! Jetzt hast du, was du wolltest, den Bauch voll Beefsteak!» Ich rief es laut und hätte noch lauter brüllen können, es hörte mich ja niemand. Ich verfluchte Amerika und mich selber und Christoph Kolumbus, der es erfunden hatte. Es war Weihnachten, und ich begann den Herrgott anzuschreien, was ich ihm eigentlich Böses getan hätte? Doch ich musste aufspringen, weil die Baracke schwarz von Rauch war. Ich warf die Pfanne zur Tür hinaus, wo sie in der Lache weiterbrutzeln konnte, wusch mich, um den Stallgeruch loszuwerden, sattelte das Pferd und ritt ins Dorf.

Das nächste Dorf lag drei Meilen entfernt an der Küste und hieß Marshall. Ich war noch nie dort gewesen und hoffte, ein Gasthaus mit irgendeinem italienischen Rancher zu finden, mit dem ich mich gemeinsam besaufen könnte. Ich hätte mich auch mit einem Tramper begnügt, wie sie hin und wieder auf der Ranch auftauchten und etwas Warmes zu essen verlangten; es war besser, ihnen etwas vorzusetzen, weil sie sonst unangenehm werden konnten. Aber schön, ich hätte mich auch mit einem Tramper be­gnügt. Doch als ich hinkam, zählte ich alles in allem fünf Häuser mit einer Warenhandlung, einer Schule und einer Kapelle. Es waren die üblichen amerikanischen Bretterhütten, und sogar die Kirche war eine angestrichene Holzbude. So was nannte man hier Dorf.

Ich besah mir das Ganze im Mondschein, dann ritt ich bis ans Ende der Straße, wo das Meer vor mir lag. Als ich seinen gewaltigen Hauch spürte und die weißen Wogenkämme sah, die ans Ufer schlugen, dachte ich an unseren Bach daheim und an den Wasserfall von Frodone. Wasser macht überall das gleiche Geräusch, das einen mit Schwermut erfüllt. Ich wendete das Pferd und ritt zurück. Dann hielt ich noch einmal vor dem Laden an, um die von einer Laterne beleuchtete Aufschrift zu studieren: store. Drinnen brannte Licht, vielleicht war hier auch das Wirtshaus. Später erfuhr ich, dass dies stimmte und dass sie sogar verbotenen Whisky ausschenkten; aber mir war schon die Lust zum Eintreten vergangen, vor allem weil ich mich wieder zu schämen begann, dass ich ein Greenhorn war und nicht Amerikanisch konnte.

Das Schönste ist, dass dieser Laden zwei Brüdern Salmina aus Intragna gehörte – und ich hatte ge­meint, ich wäre an den abgelegensten Ort der Welt verschlagen worden. Alles in diesem Land kam mir provi­sorisch vor, so wie der Hühnerstall, in dem ich schlief und von meinem Lager aus durch die Spalten des Blechdachs die Sterne sehen konnte. Auch in unserer Alphütte hatte ich zwischen den Schieferplatten des Dachs Sterne schimmern gesehen, aber das war etwas anderes. Das ganze Land hier war hastig und oberflächlich gemacht, alles mit großen Stichen lieblos zusammengeheftet. Eben, Amerika war ein liebloses Land. Ein Land, wo jeder für sich lebte, wo man zwischen einem Haus und dem nächsten vom Weg ab­irren konnte, ein Land, wo keiner an einem Fleck Erde hing und jeder sein Haus baute, als ob er von heut auf morgen seine Pläne ändern und es verkaufen oder umbauen oder stehen lassen könnte. Gerade beim Gedanken an unsere Sennhütten wurde mir der Un­­ter­schied klar: Ärmlich sind sie, aber so gut ge­macht und richtig hingestellt, dass es schon nicht mehr das gleiche Haus wäre, wenn man es um vier Meter verschieben wollte; mit ihren dicken, sorgsam aneinander gefügten Balken sind sie widerstandsfähig und dauerhaft. Eng freilich, weil Sparsamkeit auf der Alp das erste Gebot ist, aber so bequem! Du brauchst im Bett nur die Hand auszustrecken, um die kleine Nische für die Zündholzschachtel zu ertasten und den Pflock zu erreichen, an dem der Hut hängt.

Und hier fand ich jetzt eine Holzbude, die als Kirche diente, und ringsum meilenweit schlammiges Land mit einzelnen verstreuten Farmen und tiefe Stille. Ich dachte an die Städte San Francisco und Petaluma, nicht weit von hier, die ich kaum flüchtig gesehen hatte, wo Neger, Weiße, Juden und Chinesen durcheinander wimmelten und gemeinsam einen rasenden Wirbel veranstalteten. Gott weiß, ob ich mich dort nicht ebenso einsam gefühlt hätte. Jedenfalls machte mir der bloße Gedanke daran Angst, und ich fragte mich, ob ich jemals lernen würde, dort herumzugehen. Rings um mich lag das Amerika, von dem ich geträumt hatte, riesengroß und bleich im Mondschein.

Da dachte ich erst recht an Cavergno, an die Häus­chen, die sich mit offenen Türen eng zusammendrängen, um einander Gesellschaft zu leisten; zu einer Tür hinaus, zur nächsten hinein, und überall bist du zu Hause, unter Leuten deiner Art, die dich kennen und gern haben. Du riechst die gewohnten Gerüche und hörst die gewohnten Geräusche, und überall siehst du eine Mutter, die gerade die Suppennäpfe gewaschen hat und sich zu ihrem Strickzeug setzt, während wir auf die Glockentöne warten, die uns alle miteinander zur Mitternachtsmesse rufen wer­den. Dass wir es dort schwer gehabt hatten, schien mir jetzt nicht der Rede wert zu sein; es blieb nur die Erinnerung an all das Gute, das uns jeder Tag brachte, und der heiße Wunsch, zurückzukehren. «Und wenn ich den ganzen Weg zu Fuß machen müsste, wie ein Tramper!», dachte ich, während die Aufschrift auf dem Laden größer und größer wurde und die La­ter­ne einen zittrigen Heiligenschein bekam. Die Tränen, die meinen Blick vernebelten, fielen mir schon auf die Jacke und auf die Hände, in denen ich die Zügel hielt. Ich war zwanzig Jahre alt, und das Weinen tat mir gut.

Nicht Anfang und nicht Ende

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