Читать книгу Rockstar Love - Ein Song für Alexis - Poppy J. Anderson - Страница 8

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„Brad, Sie gehören zu den Nominierten für das Album des Jahres, und Branchenkenner rechnen Ihnen sehr gute Chancen aus, dass Sie heute Abend den Grammy mit nach Hause nehmen können. Darf ich Sie fragen, wie es Ihnen geht?“

Brad Paxton präsentierte der Kamera sein strahlend weißes, perfektes Gebiss und schmunzelte, während er die Frau an seiner Seite näher an sich zog. Er sah fantastisch aus in seinem Smoking und mit dem kunstvoll zerzausten blonden Haar sowie den blauen Augen, die er liebevoll auf die Frau an seiner Seite gerichtet hatte. Die war eine rassige Schönheit mit einer dunkelbraunen lockigen Mähne, aparten Gesichtszügen und einem Körper, der sowohl in dem luxuriösen Abendkleid von Marchesa eine gute Figur machte als auch halb bekleidet auf diversen Hochglanzmagazinen wunderbar in Szene gesetzt werden konnte.

Sie waren das absolute Traumpaar des Abends – das hatten bereits diverse TV-Sender, Kollegen und Fans in Interviews verkündet und über Twitter verbreitet. Er – der erfolgreiche, charismatische Sänger und Grammy-Anwärter und sie – das brasilianische Topmodel. Auf Instagram gab es sogar einen eigenen Hashtag. Eine Zusammensetzung ihrer beiden Namen: Brad und Camila.

#Bramila

„Vielen Dank der Nachfrage, Steve. Der heutige Abend ist sehr aufregend, und eigentlich sollte ich nervös sein, aber ehrlicherweise muss ich zugeben, dass Camila und ich viel zu müde sind, um besonders aufgeregt zu sein. Wir wollen diesen Abend vor allem genießen, schließlich kommen wir zurzeit nicht sehr oft aus dem Haus.“

Der Moderator gab ein joviales Glucksen von sich. „Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, wie es war, als mein Sohn zwei Monate alt war. Damals haben meine Frau und ich pro Nacht nicht mehr als vier Stunden Schlaf bekommen. Aber Sie beide sehen großartig aus, wenn ich das sagen darf. Wie machen Sie das nur?“

„Bei mir ist das Geheimnis eine dicke Schicht Feuchtigkeitscreme. Bei Camila sind es die Gene. Sie sieht immer fantastisch aus“, bekannte Brad mit einem seelenvollen Lächeln auf seine Frau, das vermutlich reihenweise die Herzen der Zuschauer zum Schmelzen brachte. Und als er die Hand seiner Frau an den Mund zog, um sie zu küssen und anschließend zu murmeln: „Ich bin ein sehr glücklicher Mann, denn unsere Tochter kommt ganz nach ihrer schönen Mutter“, verliebte sich sicherlich die eine oder andere Zuschauerin hoffnungslos in den Mann, der noch vor zwei Jahren gänzlich unbekannt gewesen war und sein Geld als kaum beachteter Backgroundsänger verdient hatte.

„Alexis, schaust du dir wirklich diesen Mist an?“

Alexis Gardner hob den Kopf und spähte über die Rückenlehne der Couch zu ihrer Schwester, die den Raum betrat und missbilligend den fünfundachtzig Zoll Fernseher betrachtete, auf dem Brad Paxton zu sehen war, der gerade seine Ehefrau küsste. Dass Holly ausgerechnet jetzt in Alexis’ Wohnzimmer auftauchte und Zeugin wurde, wie sie förmlich an den Lippen des neuen Superstars hing, während der seinen großen Auftritt mit seiner bildschönen Ehefrau hatte und stolz ein Foto seines bezaubernden Töchterchens in die Kamera hielt, war Alexis ein wenig peinlich. Eigentlich war es ihr sogar wahnsinnig peinlich, aber das hätte sie ihrer Schwester niemals verraten.

Umschalten konnte sie jetzt auch nicht mehr. Das wäre zu offensichtlich gewesen.

Wenn sie gewusst hätte, dass Holly zu Hause war, wäre sie genau dieser Situation aus dem Weg gegangen, indem sie im Schlafzimmer ferngesehen und die Tür abgeschlossen hätte. Dummerweise war sie davon ausgegangen, dass Holly mit ihren Freunden unterwegs war. Bei ihrer Schwester konnte sie sowieso nie sicher sein, was sie gerade tat, wo sie war oder ob sie bei Alexis auftauchte. Obwohl sie eine eigene Wohnung in West Hollywood hatte, verbrachte Holly nicht gerade wenig Zeit bei Alexis in Brentwood. Alexis wusste nicht, ob es daran lag, dass ihr Kühlschrank immer gut gefüllt war und dass sie einen Pool hatte, oder ob es daran lag, dass Holly ihr nach den letzten Monaten ein wenig unter die Arme greifen wollte.

Normalerweise gefiel es ihr, Besuch von ihrer Schwester zu haben, denn in ihrem Haus konnte es sehr schnell sehr einsam werden, aber ausgerechnet heute wäre sie lieber allein gewesen. Sie hätte lieber ohne Zuschauer ihre Wunden geleckt und sich in Selbstmitleid gesuhlt.

„Ich habe gerade erst umgeschaltet“, log sie und war stolz darauf, wie souverän und beiläufig sie klang.

Holly verdrehte die Augen, schließlich war sie alles andere als auf den Kopf gefallen. „Natürlich, Alexis. Ich bin doch nicht bescheuert!“

Alexis rümpfte die Nase und wich dem wissenden Blick ihrer Schwester aus. Gleichzeitig war sie froh, dass Holly nicht bereits vor zwei Minuten erschienen war, als sie sich einen verirrten Nacho aus dem BH gefischt und diesen gegessen hatte. Nun ja ... wenigstens hatte sie sich heute dazu aufgerafft, einen BH anzuziehen, was momentan nicht sehr oft vorkam.

„Dieser Typ ist so ein verfickter Schleimer“, ließ sich Holly in ihrer wunderbar zurückhaltenden Art vernehmen und warf sich neben Alexis auf die Couch, wobei sie ein abfälliges Schnauben von sich gab und anschließend lauthals würgte, als der Mann auf der Leinwand bedeutungsvoll das Foto seiner Tochter küsste. „Das ist ja noch schlimmer als dieses unerträgliche Bild von ihm mit nacktem Oberkörper und dem Baby auf der spärlich behaarten Brust auf dem Instagram-Account seiner Trulla. Meiner Meinung nach sollte man nicht damit hausieren gehen, wenn man als Kerl zu wenig Testosteron besitzt.“

Normalerweise hätte Alexis ihre Schwester wegen ihrer Ausdrucksweise gescholten. Als ältere vernünftige Schwester war es sozusagen ihre Aufgabe, ihre hitzköpfige kleine Schwester im Zaun zu halten. Aber sie tat es nicht, denn das Gefühl, dass Brad Paxton durch den Kakao gezogen wurde, war wahnsinnig tröstlich.

Um Holly zu zeigen, wie dankbar sie ihr war, reichte sie ihr die Schale mit den überbackenen Nachos. Jedenfalls das, was noch übrig war. Zwar war es in letzter Zeit nicht so, dass Alexis eine Ausrede brauchte, um sich mit Junkfood vollzustopfen, aber heute Abend war der Frust der vergangenen Monate noch größer als sonst, was die Familienpackung mit Schokolade überzogener Marshmallows, die mit Käse überbackenen Nachos und die fettige Pizza erklärte, die ihr schwer im Magen lagen.

Vielleicht lag ihr auch nur schwer im Magen, was sie gerade auf dem Bildschirm sah.

„Ihr Leben hat sich im letzten Jahr sehr verändert, Brad. Sie haben geheiratet, ein Baby bekommen und sind – wenn Sie mir die Ausdrucksweise verzeihen – innerhalb weniger Monate von einem relativ unbekannten Sänger zum Grammy-Anwärter aufgestiegen. Worauf führen Sie Ihren Erfolg zurück?“

„Auf sehr viel harte Arbeit, Durchhaltevermögen und die Unterstützung meiner Familie.“

„Am Arsch!“ Das kam von Holly.

Auch Alexis ballte die Hände zu Fäusten und beobachtete das Geschehen auf dem Fernsehbildschirm. Sie nahm ihm den aufgesetzten Gesichtsausdruck keine einzige Sekunde lang ab.

Harte Arbeit!

Dass sie nicht lachte!

Brad würde harte Arbeit nicht einmal dann erkennen, wenn sie ihm mitten ins Gesicht schlug.

„Dies ist nun die dritte Grammy-Verleihung, bei der Sie zu Gast sind, Brad. Die Ereignisse im letzten Jahr und die Schlagzeilen der anschließenden Monate sind uns allen noch vor Augen. Sie haben sich aus der Öffentlichkeit herausgehalten und sich anständigerweise kein Urteil erlaubt, als ...“

„Das ist doch nicht sein Ernst!“ Wutschnaubend fiel Holly dem Moderator ins Wort und war dabei so laut, dass Alexis nicht verstand, was er sonst noch sagte, auch wenn sie es sich denken konnte. Trotz allem verkrampfte sich ihr Magen. Nach der letzten Zeit hatte sie eigentlich nicht geglaubt, dass sie so heftig reagieren würde.

Anständigerweise? Ist der Typ bekifft oder einfach nur ein Arschloch?“

Alexis presste die Lippen aufeinander und erhöhte kommentarlos die Lautstärke. Zwar konnte sie nicht hören, was der Moderator fragte, aber dafür bekam sie Brads Antwort mit.

Seine Miene war regelrecht besorgt und ernst, als er den Kopf neigte und leise seufzte. „Ivy ist heute nicht hier, um Stellung zu beziehen, daher wäre es nicht richtig, wenn ich mich zu diesem Thema äußere. Ich schätze sie sehr als Künstlerin, Kollegin und als Mensch und wünsche ihr nach den turbulenten Ereignissen der letzten Monate nur das Beste und hoffe, dass Ivy wieder auf die Beine kommt. Was wäre die Musikwelt ohne ihr Talent?“

Beinahe hätte Alexis die Fernbedienung in den Fernseher geworfen. „Bitte was?“

„Ich habe dir von Anfang an gesagt, dass er ein opportunistisches Schwein ist, Alexis!“

„Das klingt, als wären Sie besorgt um Ivy.“

„Das bin ich in der Tat“, entgegnete Brad kummervoll und mit einem Seufzen. „Während unserer Zusammenarbeit habe ich sie als sehr empfindsamen und bedachtsamen Menschen kennengelernt. Die Schlagzeilen der letzten Monate passen nicht zu der Frau, die durch und durch Musikerin ist. Ich hoffe sehr, dass sie weiß, wie gerne ich sie unterstützen würde, wenn ...“

„Gib mir die Fernbedienung“, forderte Holly sie auf, nahm sie ihr aus der Hand und schaltete auf den nächsten Kanal – einen Shoppingsender, auf dem gerade eine neue Produktpalette in der Hundefellpflege präsentiert wurde. Ein armer Pudel wurde vor laufender Kamera schamponiert und sah dabei ziemlich dämlich aus der Wäsche. Sein Gesichtsausdruck hatte vermutlich damit zu tun, dass die Verkäuferin ungeniert seinen rasierten Hintern mit einem Waschlappen bearbeitete, während die Kamera diese Prozedur filmte.

Alexis verstand, wie sich der arme Hund fühlen musste – vor aller Öffentlichkeit entblößt und gedemütigt.

„Ich habe gleich gesagt, dass du dir diesen Mist nicht ansehen sollst.“ Holly legte die Fernbedienung beiseite und klang eher tröstlich als aufgebracht.

Aus dem Augenwinkel bemerkte Alexis, dass ihre Schwester unsicher die Hände rang, als wüsste sie nicht, was sie nun tun sollte. Sie konnte ihr keinen Vorwurf aus diesem Verhalten machen, denn rein objektiv betrachtet hatte sich Alexis im vergangenen Jahr ziemlich unberechenbar verhalten. Früher, ja, früher war das anders gewesen, denn Alexis war stets die Verantwortungsvolle, Pflichtbewusste und Vernünftige gewesen, die gewusst hatte, was von ihr erwartet worden war. Jahrelang war sie durch die Reifen gesprungen, die man ihr hingehalten hatte, und war nicht von ihrem Weg abgekommen. Dem Image, das alle Welt geliebt hatte, war sie treu geblieben, bis sie es irgendwann nicht mehr aushielt.

Jeder machte dann und wann eine Existenzkrise durch, aber nicht jeder stand in der Öffentlichkeit. Das war der entscheidende Unterschied.

„Dieser Mist ist mein Job“, entgegnete Alexis ziemlich gefasst und erhob sich vom Sofa, wobei ein paar Krümel auf den Boden rieselten.

Wie von selbst fiel ihr Blick auf ihr fleckiges Shirt und ihre löcherigen Leggins sowie auf den abgesplitterten Nagellack auf ihren Fußnägeln. Sie war froh darüber, in ihrem Haus in Brentwood zu sein und nicht in ihrem Strandhaus in Malibu, wo es für Paparazzi ein Leichtes gewesen wäre, einen Schnappschuss von ihr in dieser Aufmachung zu machen.

Es hatte in den letzten Monaten genügend unvorteilhafte Fotos von ihr gegeben, als dass sie es ertragen hätte, ein weiteres Mal ihr ungepflegtes Selbst auf der Titelseite einer Zeitschrift zu sehen. Insbesondere dann nicht, wenn Camila Paxton kurze Zeit nach der Geburt ihres Babys strahlend schön und beneidenswert attraktiv auf dem roten Teppich erschienen war. Alexis musste dagegen wie eine Ökoaktivistin wirken, die Abstand zu jeglichen Körperpflegeprodukten nahm und aus Prinzip nicht duschte, um kein Wasser zu verschwenden. Für Paparazzi wäre ihr derzeitiges Aussehen ein gefundenes Fressen, daher verbarrikadierte sie sich bereits seit einiger Zeit in ihrem Haus.

Ihr Anwesen in Brentwood lag abgelegen, war fast vierzehntausend Quadratmeter groß und uneinsehbar für aufdringliche Fotografen. Prominente aus allen Branchen schätzten diesen Stadtteil von Los Angeles, der am Fuß der Santa Monica Mountains lag und dafür bekannt war, seinen Bewohnern Privatsphäre zu bieten. Ein abgeschiedenes Anwesen neben dem anderen war hier zu finden. Zu Alexis’ Nachbarn zählten Arnold Schwarzenegger, Harrison Ford und Robert Downey Jr. Bis vor ein paar Jahren hatten Heidi Klum und Gisele Bündchen gleich nebenan gewohnt. Und obwohl Alexis all diese prominenten Nachbarn hatte, kannte sie kaum jemanden von ihnen, schließlich zog man hierher, um Ruhe zu haben. Niemand wäre jemals auf die Idee gekommen, bei seinem Nachbarn zu klingeln, um nach etwas Mehl oder Zucker zu fragen. Und sobald eine Luxusvilla zum Verkauf stand und einen neuen Besitzer fand, stellte man sich bei den neuen Nachbarn auch nicht mit einem Kuchen in der Hand vor, um ihn in der Nachbarschaft willkommen zu heißen.

Nein, man zog nach Brentwood, um allein zu sein.

Alexis konnte sich kaum daran erinnern, wann sie zum letzten Mal das Haus verlassen hatte. Mittlerweile kultivierte sie das Leben eines Einsiedlers ziemlich gut und hatte Übung darin, in alten Jogginghosen bekleidet durchs Haus zu schleichen und stundenlang Reportagen über schwule Affen oder Naturvölker am Amazonas zu schauen. Vielleicht brauchte sie diese Einsamkeit, nachdem sie in den vergangenen vierzehn Jahren tagtäglich von so vielen Menschen umgeben gewesen war, dass sie hatte froh sein können, allein auf die Toilette zu gehen.

„Wenn dieser Mist dein Job ist, dann musst du mir erklären, warum du heute Abend nicht ebenfalls im Staples Center bist. Oder hast du keine Einladung bekommen?“

Natürlich hatte sie eine Einladung bekommen. Und sie konnte sich sehr gut vorstellen, dass nicht wenige Branchenmitglieder geradezu gehofft hatten, dass sie kam – es wäre die Sensation gewesen. Eine wundervolle Möglichkeit, sich das Maul zu zerreißen, und viel interessanter als die Frage, wer sich die Lippen hatte aufspritzen lassen und wessen Brüste gemacht worden waren.

Alexis wusste, wie es lief. Und sie wusste, dass neben einigen wirklich anständigen Kollegen die weniger anständigen Kollegen sich darüber diebisch freuten, dass sie auf dem besten Weg war, ihre komplette Karriere zu zerstören. Kollegen, die jahrelang neidisch beobachtet hatten, wie sie erfolgreich gewesen war und einen Hit nach dem anderen veröffentlicht hatte, und die missgünstig reagiert hatten, weil Alexis’ Ruf stets einwandfrei gewesen war, warteten jetzt darauf, dass Alexis ihrer Karriere den endgültigen Todesstoß gab oder sich bis auf die Knochen blamierte. Noch einmal.

Wenn sie in ihrer jetzigen Verfassung bei den Grammys aufgetaucht wäre, hätte es einen Skandal gegeben.

In der Musikwelt gab es zwei Arten von Künstlern – die durchgeknallten, exzentrischen Musiker, die dafür gefeiert werden, nackt auf einer Abrissbirne zu sitzen oder in einem Fleischkleid auf dem roten Teppich zu erscheinen, und die geradlinigen mustergültigen Musiker, die sich von Skandalen fernhielten und wegen ihrer Bodenständigkeit beliebt waren. Alexis war immer Letzteres gewesen – das anständige, liebenswerte All American Girl, das sich bei jeder Preisverleihung brav bei seinen Fans bedankt und ohne Starallüren Autogramme gegeben hatte.

Von ihr hatte es nie Tonaufnahmen gegeben, auf denen sie Mitarbeiter beschimpfte, oder gar Fotos, die sie im betrunkenen Zustand auf einer Party zeigten. Und es waren auch nie private Sexvideos erschienen, die aus ihrer Villa gestohlen worden waren, weil es sie schlichtweg nicht gegeben hatte. Alexis hatte stets aufgepasst, dass sie nichts tat, was ihr in der Öffentlichkeit hätte schaden können, schließlich war sie sich bewusst gewesen, welches Image sie besaß und dass sie gewisse moralische Werte repräsentierte. Aber dann hatte sie sich verliebt und hatte sich in aller Öffentlichkeit das Herz brechen lassen.

„Du weißt sehr gut, dass ich nicht hingehen konnte“, erwiderte sie ruhig und wich dem Blick ihrer Schwester aus.

„Warum nicht?“, fragte Holly forsch nach.

Sie warf ihrer Schwester einen langen Blick zu, anstatt ihr zu antworten.

Holly, die im Gegensatz zu ihr dunkles Haar und dunkle Augen hatte, verdrehte die Augen. „Komm mir bitte nicht mit diesem Paxton-Arschloch. Den steckst du doch locker in die Tasche!“

Da war sich Alexis nicht sicher. Voller Scham erinnerte sie sich an die Verleihung im letzten Jahr und ihren peinlichen Auftritt. Unter diesen Bedingungen hätte sie ganz unmöglich heute über den roten Teppich laufen und ihm sowie seiner Frau begegnen wollen.

„Können wir bitte das Thema wechseln?“ Sie nahm Holly die Schale mit den Nachos aus den Händen und verließ das Wohnzimmer.

Als sie durch den Salon lief, in dem sie sich zwar nie aufhielt, der aber dank seiner wunderschönen Einrichtung und der Doppeltüren zur Terrasse für repräsentative Zwecke wie Interviews oder Fernsehaufnahmen gerne genutzt wurde, hörte sie, dass Holly ihr folgte. Wie es aussah, war ihre Schwester noch nicht bereit, das Thema zu wechseln, was Alexis überhaupt nicht passte. Während sie am Esszimmer vorbeilief und anschließend die Eingangshalle durchquerte und dabei den kühlen Steinboden unter ihren Füßen spürte, fragte sie sich, was sie tun konnte, um ihre kleine Schwester loszuwerden. Außerdem rätselte sie, ob es eventuell unhöflich wäre, Holly vor die Tür zu setzen und sie auf diese Weise davon abzuhalten, eines der Schlafzimmer für die kommende Nacht zu belegen. Alexis war anscheinend nämlich etwas masochistisch veranlagt und wollte sich den Rest von Brads Interview ansehen, sobald Holly verschwunden war.

„Ich meine es ernst, Alexis. Der Typ kann dir nicht das Wasser reichen. Du solltest ...“

„Musst du nicht an deiner Doktorarbeit schreiben?“, unterbrach sie ihre Schwester und betrat die Küche, die für ein Haus von über siebenhundert Quadratmetern relativ gemütlich eingerichtet war, wenn man die massiven Holzmöbel und den nostalgisch wirkenden Herd betrachtete, an dem man problemlos ein mehrgängiges Menü für zwanzig Gäste zubereiten konnte. Nicht dass Alexis es jemals versucht hätte. Wann hätte sie in den letzten Jahren auch jemals Zeit für einen Abend mit Freunden gehabt? Und wann hätte sie die Zeit finden sollen, um Freunde – ehrliche und aufrichtige Freunde – zu finden, die nicht nur etwas von ihrem Ruhm, ihrem Geld und ihrem Status abhaben wollten?

„Ich nehme mir heute eine kreative Pause“, gab Holly zurück, die nie um eine Antwort verlegen war. Ihre Schwester, die ein paar Jahre jünger war als sie und aus der zweiten Ehe von Alexis’ Mom stammte, öffnete den Kühlschrank und nahm eine Flasche Wasser heraus. „Chaucer ist seit über sechshundert Jahren tot. Ich denke also, dass ein Tag mehr oder weniger nicht ins Gewicht fällt, was eine Dissertation über die Canterbury Tales betrifft.“

„Und was sagt dein Professor zu dieser Einstellung?“ Alexis stellte den Teller auf die Arbeitsfläche der Kücheninsel, die den Raum dominierte, und wusch sich anschließend über der breiten Spüle, die in die Kücheninsel eingelassen worden war, die Hände. Vor den Augen ihrer Schwester hätte sie die Salsasauce, die an ihrem Daumen klebte, schließlich nicht einfach ablecken können. Holly schien Alexis bereits für eine Vogelscheuche zu halten, dabei war die jüngere Schwester eigentlich diejenige, die sich nicht sonderlich viel aus Mode und Schönheitspflege machte.

Während Alexis bereits als Grundschulkind Tanzstunden und Gesangsunterricht genommen hatte und von ihrer Mom stets herausgeputzt worden war, hatte Holly ihre Nase immer viel lieber in Bücher gesteckt, als ihre Haare zu hübschen Frisuren zu flechten und mit den Kleidern ihrer Mom Modenschau zu spielen. Auch in der Highschoolzeit war Holly für Make-up und typischen Mädchenkram wie Cheerleading nicht sonderlich zu erwärmen gewesen. Stattdessen hatte sie Theater gespielt und ihr wundervolles dunkelbraunes Haar abschneiden lassen – zum Missfallen ihrer Mom. Alexis konnte sich ziemlich gut erinnern, wie oft es zwischen ihrer Mom und ihrer Schwester geknallt hatte, was rückblickend sicherlich auch damit zu tun gehabt hatte, dass ihre Mutter sehr ehrgeizig Alexis’ Talent gefördert hatte, während Holly dabei stets zu kurz gekommen war.

Ihre Mom war mit ihr ständig zu Talentshows gefahren, hatte sie bei Castings angemeldet und so ziemlich alles getan, um Alexis eine Karriere als Sängerin zu ermöglichen, nachdem der Musiklehrer der Vorschule davon gesprochen hatte, wie schön ihre Stimme und wie musikalisch sie doch sei. Obwohl die Familie nie viel Geld besessen hatte, bekam Alexis Musikunterricht, ein Klavier und Tanzstunden. Außerdem zog ihre Mom mit ihr nach New York, damit Alexis dort zur Professional Performing School of Arts gehen konnte. Sie war damals elf Jahre alt. Holly war erst sieben und blieb für fast ein Jahr in Georgia bei ihren Großeltern, bevor sie drei zusammen nach Tennessee zogen, wo Alexis in Nashville ihre Gesangsausbildung fortsetzte.

Sie waren zu dritt oft umgezogen – immer wegen Alexis. Und Holly hatte jedes Mal die Schule wechseln und neue Freunde finden müssen. In vielen Fällen hätte die geschwisterliche Zuneigung darunter gelitten, was bei ihnen jedoch nicht der Fall gewesen war, denn Alexis wusste, welche Opfer auch Holly für die Karriere ihrer Schwester gebracht hatte. Stattdessen war das Verhältnis zwischen Holly und ihrer Mom angespannt, denn ihre Mutter meinte, dass Alexis’ Erfolg schließlich auch Holly zugutekam. So einfach war es nur leider nicht.

„Wollen wir uns wirklich über meinen Professor unterhalten?“

Alexis zuckte mit den Schultern und drehte das Wasser ab. „Wieso nicht?“

„Ich würde mich lieber darüber unterhalten, dass du diesem Mistkerl nicht das Feld räumen solltest.“

„Das tue ich auch nicht“, protestierte sie, obwohl sie beide wussten, dass sie log.

Und Holly kannte keine Scheu, ihrer Schwester genau das ins Gesicht zu sagen. „Natürlich überlässt du ihm kampflos das Feld, wenn du heute Abend auf der Couch liegst, anstatt auf dieser Verleihung zu sein und ihm zu zeigen, dass er sich nicht mit dir messen kann.“

Sie hätte ihrer Schwester sagen können, dass sie momentan nicht in der Verfassung war, Brad Paxton entgegenzutreten, und dass sie erst recht nicht in der Verfassung war, über den roten Teppich zu laufen und dabei von unzähligen Fotografen und Kameramännern aufgenommen zu werden. Sie wäre zur absoluten Lachnummer geworden.

Stattdessen erwiderte sie schlicht: „Ich hatte einfach keine Lust, mich in Schale zu werfen.“

„Es hätte schon gereicht, wenn du dir die Haare gekämmt hättest.“ Ganz die liebevolle Schwester griff sie in Alexis’ unordentlichen Dutt hinein und zupfte an ein paar verworrenen Strähnen herum. „Leider bin ich keine Modeexpertin, aber ich denke nicht, dass der In-meinem-Haar-brüten-Vögel-Look momentan angesagt ist.“

„Vielen Dank“, grollte Alexis und entzog Holly den Dutt. Sie wusste selbst, dass sie zurzeit alles andere als repräsentabel aussah. Ihr Haar hätte nicht nur einen Kamm, sondern auch eine Pflegepackung gebraucht sowie einen anständigen Schnitt, ihr blasser Teint hätte ein wenig Sonne vertragen können, und um in die eleganten Kleider zu passen, die man auf dem roten Teppich trug, hätte Alexis den Fitnessraum mal wieder benutzen sollen, der sich im Keller ihres Hauses befand. Beim Kauf des Hauses war es ihr wichtig gewesen, dass sie genügend Platz hatte, um ein Tonstudio installieren zu können, in dem sie rund um die Uhr arbeiten konnte, und um in einem eigenen Fitnessbereich zu trainieren, in dem sie sich ausdauertechnisch auf anstrengende Konzerte vorbereiten konnte sowie in Form zu bleiben. In den letzten Monaten hatte sie weder das Tonstudio noch den Fitnessraum benutzt. Stattdessen verbrachte sie übermäßig viel Zeit vor dem Fernseher.

„Ein Kamm, etwas Farbe im Gesicht und vielleicht sogar eine förmlichere Kleidung als dein zurzeit bevorzugter Kleidungsstil und du hättest heute Abend geglänzt“, prophezeite Holly.

Über den Optimismus ihrer kleinen Schwester konnte sie nur lächeln. „Um dort zu glänzen, braucht es schon etwas mehr. Nach den Schlagzeilen der letzten Monate hätte ich dort nicht auftauchen können.“

Holly nahm einen Schluck Wasser und schraubte die Flasche anschließend wieder zu. „Alexis ...“

„Ich will wirklich nicht darüber reden.“

„Du bist doch sonst nicht der Typ, der den Kopf in den Sand steckt.“ Ihre Schwester seufzte schwer. „Himmel, Alexis, ich gebe Mom ja ungern recht, aber langsam solltest du aus dem Schneckenhaus herauskommen, in dem du dich verkrochen hast.“

Ganz automatisch hob sie die Schultern in die Höhe und murmelte: „Und du denkst, dass ausgerechnet die Grammy-Verleihung die richtige Veranstaltung ist, um mich wieder nach draußen zu wagen?“

„Nein“, gab sie zu, um mit ernster Stimme gleich darauf fortzufahren: „Aber es wäre ein Anfang, wenn du dir Hosen anziehen würdest, die man nicht mit einer Kordel zuzieht, und du dich ab und zu an die frische Luft trauen könntest. Momentan beschränken sich deine sozialen Kontakte auf Mom, mich, Theresa und den Netflix-Support, bei dem du dich beschwerst, wenn keine weiteren Staffeln deiner Lieblingsserien produziert werden. Außerdem habe ich es langsam satt, in diversen TV-Shows hören zu müssen, dass man dir einen Nervenzusammenbruch diagnostiziert, weil du völlig von der Bildfläche verschwunden bist. Ist dir eigentlich klar, dass im Internet Wetten darüber kursieren, ob du dir bald deine Haare abrasierst und anschließend mit einem Regenschirm auf Fotografen losgehst wie damals Britney Spears?“

„Das ist nicht komisch“, murmelte Alexis und spürte gleichzeitig, dass sie vor Verlegenheit rot wurde.

„Da sind wir einer Meinung. Ich finde das auch nicht besonders lustig.“ Holly verzog den Mund und lehnte sich gegen den Küchenschrank hinter sich, bevor sie ernst zu bedenken gab: „Du hast so hart an deinen Erfolgen arbeiten müssen, dass ich es unerträglich finde, was momentan passiert. Kannst du dir bitte die Haare kämmen und dich irgendwo blicken lassen, damit ich nicht ständig lesen muss, dass meine Schwester reif für eine Therapie ist?“

Alexis erwiderte den Blick ihrer Schwester und merkte erst nach ein paar Sekunden, dass sie auf ihrer Unterlippe herumnagte. In Hollys Ohren hörte es sich so leicht an – als wäre es eine Frage der richtigen Frisur, sich in der Öffentlichkeit blicken zu lassen und sein eigenes Foto anschließend auf der Titelseite eines Magazins zu sehen. Und das mit einer vermutlich weniger schmeichelhaften Überschrift. Eigentlich wusste sie, dass sie solche Bilder und Artikel ignorieren sollte, weil sie ohnehin nie der Wahrheit entsprachen. Dennoch war das fast unmöglich, wenn man sich sowieso verletzlich und angreifbar fühlte.

Sie war zweiunddreißig Jahre alt und konnte nirgendwohin gehen, ohne erkannt zu werden und ohne Menschen zu begegnen, die nicht wussten, was sich gerade in ihrem Leben abspielte. Das ganze Land kannte ihr Liebesleben – oder glaubte zumindest, es zu kennen. Was es jedoch nicht wusste, war, dass Alexis erst zweimal in ihrem Leben verliebt gewesen war und dass beide Male nicht sonderlich gut für sie ausgegangen waren. Nachdem ihr mit achtzehn Jahren das Herz gebrochen worden war, hatte sie eigentlich nicht geglaubt, dass ihr das noch einmal passieren könnte.

Leider hatte sie sich in jenem Fall geirrt.

Rockstar Love - Ein Song für Alexis

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