Читать книгу Liebesglück - Prof. Dr. Martina Leibovici-Mühlberger - Страница 8

II

Оглавление

Die nächsten sechs Wochen vergingen äußerlich in der routinierten Weise ihres gewohnten Lebensflusses. Von Stefan hörte sie natürlich nichts. Seine beiden Anrufe und die wenigen Nachrichten, die er rund um seine unerfüllte Ankündigung, sie im Krankenhaus zu besuchen, an sie verschickt hatte, verblassten zu geisterhaften Erscheinungen. Sie erschienen ihr zunehmend unwirklicher, wie akustische oder optische Täuschungen, selbst wenn sie die Gespräche mit Stefan genau in Erinnerung behalten hatte und sich auf ihrem Handy-Display seine Worte und Emojis abrufen ließen.

Trotzdem hatte sich Grundlegendes für Katharina verändert. Sie wunderte sich am Rand ihres Bewusstseins, dass sie sich mehrmals ertappte, wie sie in den kurzen Ordinationspausen Videos von Jungkatzen aufrief und mit der Idee zu spielen begann, sich eine zuzulegen.

Wieder lag ein langer, erfüllter Praxistag beinahe abgeschlossen hinter ihr. Erst in mehr als einer Stunde würde ihr heute letzter Patient eintreffen. Eine außerplanmäßige Krisensitzung, um die er dringlich gebeten hatte, stand auf dem Programm. Er war im Bankenwesen tätig und arbeitete lange. Weil sie Grund hatte, die Ernsthaftigkeit seines Strebens nach unbarmherziger Selbstreflexion als gesichert anzunehmen, hatte sie sich zu der so kurzfristigen wie späten Terminvergabe verleiten lassen.

Sie hatte genügend Zeit und gönnte sich ein paar Minuten Stille, die eigentlich ein Nachklingen des bisherigen Tages waren, um die Notizen zu ihren heutigen Patienten, die sie heimlich „alle meine Lieben“ nannte, durchzugehen.

Jeder von ihnen musste bereit sein, sich hart zu fordern, diese Vivisektion der Seele auf ihrer Couch anzustreben. Wehleidige und solche, die in konspirativer Symbiose ihren Obolus zahlen wollten, um sich besser in ihren Störungen einnisten und die eigene Abwehr perfektionieren zu können, vertrieb sie freundlich, aber mit bestimmter Unnachgiebigkeit sehr rasch. Denn sie betrachtete es als ein Privileg ihrer Seniorität, sich nur mehr Freude in ihrer Arbeit gönnen zu wollen.

Fremdenführer in den Katakomben des Kindheitsschreckens mit dem aufgespannten Rettungsschirm eines lebenslangen Opferstatus und muntere, zuversichtliche Einrichtungsexperten, die sich mit einem neuen Wandanstrich im Seelengebäude ihrer Patienten zufriedengaben oder sich selbst nicht mehr zutrauten, gab es zuhauf. Dort waren jene, die Stoff für ihren Small Talk oder die Rechtfertigung ihrer Misere suchten, gut aufgehoben.

Gemeinsam mit ihren exorbitanten Honoraren hatte dies dazu geführt, dass sich eine schillernde Klientel der sogenannten intellektuellen gesellschaftlichen Spitze aus Hochfinanz, Industrie, Politik und Kunst ihre Klinke in die Hand gab.

Therapie war nichts für Feiglinge, fand Katharina, weder aufseiten des Klienten noch auf der des Therapeuten. Es war allein die Beziehung, die zu heilen vermochte. Dafür musste man bereit sein, sich auszusetzen, sein Bestes zu geben. Das betraf beide Partner dieses Prozesses.

Katharina bewunderte die großen alten Meister ihrer Kunst, die Begründer von Schulen, ihre Rückhaltlosigkeit und Radikalität in der Entwicklung ihrer Gedanken und Erkenntnisse. Obwohl es ihnen ein Leichtes hätte sein können, einen umjubelten Platz in etablierter Position einzunehmen, hatten sie oft das Wagnis unternommen, die Symptome und Leiden ihrer Patienten an der hinterfragenden spannungsgeladenen Grenzlinie zwischen Gesellschaft und Individuum zu deuten. Um ihrem inneren Auftrag folgen zu können, waren sie dabei vielfach genötigt gewesen, das Risiko einzugehen, traditionell anerkannte und in der Wissenschaftsgemeinschaft respektierte Wege zu verlassen.

Interaktion und Beziehung mit ihrem Patienten waren ihnen dabei Leuchtturm und Verführung in einem gewesen, eine Herausforderung, der es sich mit Kraft und Herzensklarheit zu stellen galt. Nicht alle waren erfolgreich gewesen. Man musste wachsam sein, zuallererst auf sich selbst, so schwer das manchmal auch sein konnte.

Katharina beschloss, dass es an der Zeit wäre, einen baldigen Termin mit ihrem Supervisor zu vereinbaren. Er war bereits in seinen Achtzigern und hatte sie über nahezu vier Jahrzehnte in wechselnder Intensität begleitet, seit sie als Teenager an der Wende zu den Achtzigerjahren, vollkommen aufgerissen von der Tiefe ihres Fühlens, vorübergehend in seiner Praxis gestrandet war.

Sie hatten sogar eine kurze sexuelle Beziehung unterhalten, sich einander intim offenbart, was sich in ihrem Fall entgegen jedem Standeskodex auf die gemeinsame Arbeit nur förderlich ausgewirkt hatte. Katharina ging ihren Kalender durch und schrieb ihrem Supervisor eine SMS mit möglichen Terminanfragen. Er würde ihr sicher erst morgen antworten, denn er unterwarf sich keiner Tyrannei elektronischer Medien. Darin war er zuverlässig.

Katharina legte die Blätter mit ihren Aufzeichnungen auf den Stapel anderer Notizen, der bereits mehrere Zentimeter maß. Sie müsste ihre Assistentin wieder mit der Aufarbeitung und Einordnung beauftragen. Niemand anderer als sie selbst konnte mit ihren Festhaltungen aus den Therapiestunden etwas Sinnvolles anfangen. Einzelne Worte, manchmal Wortgruppen, äußerst selten ein gefügter Satz, wechselten mit Zeichnungen oder Mustern und scheinbar wahllos sich überkreuzenden Strichen. Für sie selbst aber waren es präzise Anagramme der Sitzung, ihres Inhalts, der Übertragungsbeziehung sowie der eigenen Stimmung und Gegenübertragung, verdichtete Bilder, die in ihrem Inneren eine intensive Auferstehung der einzelnen Sitzung bewirkten. Den Gesetzen der Wissenschaftlichkeit und Sozialversicherung entsprachen sie allerdings ganz sicher nicht.

Weit unten fuhr der Bus in seinem monotonen Abendrhythmus durch die Geschäftsstraße, in der sie ihre Praxis hatte. Seit dieser Abschnitt der Straße, die unmittelbar ein paar Dutzend Meter weiter vorne in einen der traditionell größten Einkaufsboulevards mündete, genauso wie dieser ebenfalls zur Begegnungszone erklärt worden war, drang das Geräusch des kräftigen Motors mit neuer Intensität in ihr Praxiszimmer.

Früher hatte man den Menschen im Begriff der Fußgängerzone zumindest noch überlassen, was sie zu Fuß hinaustrieb, und ihnen keine Weisung gegeben.

Draußen war es stockdunkel und kalt. Der Winter wollte noch immer nicht weichen. Katharina warf erneut einen Blick auf ihre Armbanduhr. Es war noch Zeit bis zum Eintreffen dieses so beeindruckend erfolgreichen und dabei gleichzeitig von so existenzieller Fragilität in seiner Gefühlslandschaft beherrschten Mannes, der ihr Patient war. Ein Strahlemann auf dem öffentlichen Parkett, der wie eine Chimäre zu zerfallen drohte, sobald der Scheinwerfer ausgeknipst wurde. Es schien, als hielte ihn nur der äußere Applaus als Kitt zusammen.

Katharina seufzte. Die Kindheit schweißt uns nur allzu oft eine Brille auf, durch die wir die Welt mit allerlei Monstern bevölkert sehen. Und dann gestalten wir unsere eigene Welt nach dieser Vorlage. Therapie war der Versuch, dem Blick auf die Welt und auf sich selbst Freiheit zu geben.

Zu Hause wartete heute niemand. Ihre jüngste Tochter übernachtete bei einer Freundin. Sie würde also auch nach dem Termin keine Eile haben. Es gab Zeit für sie selbst. Der Abend gehörte ihr.

Katharina überließ sich ihren Gedanken, die ziellos wie freigelassene Jagdhunde durch ihre Seelenlandschaft streiften. Plötzlich fiel ihr die Trennung von ihrem vergangenen Liebhaber wieder ein, den sie in einem Dorf in der Toskana kennengelernt hatte. Die Beziehung zu ihm war der letzte Höhepunkt eines seit Langem an der Lebenslinie der Liebe verlaufenden Prozesses gewesen, in dem Glauben und Hoffnungslosigkeit miteinander gerungen hatten.

In magisch anmutender Weise hatte sich dann gerade er, der ideal für die rückhaltlos offen und in totalem Bekenntnis geführte Begegnung erschien, als größtmögliche Herausforderung ihrer Liebeskraft erwiesen. Es war am Ende nicht leicht gewesen, den notwendigen Schnitt und Abschluss in der Beziehung zu ihm zu setzen. Viel schwerer, als der rasche Abgleich im Gespräch mit Stefan hätte vermuten lassen. Sie hatte es heruntergespielt, wie ihr eben wieder bewusst wurde. Den ganzen Herbst über hatte er sie noch verfolgt, ja sogar bedroht. Es war, als könnte er ihr Gehen einfach nicht wahrhaben, als hätte sie gegen ein, nein: sein Naturgesetz verstoßen. Allein diese Erfahrung ließ es klug erscheinen, derartige Verstrickungen der Gefühle in Zukunft nicht mehr zuzulassen.

Sie hatte ihn in ganz unmittelbarer animalischer Art geliebt, seinen breiten Brustkorb und die schweren Arme, unter deren immer gebräunter Haut sich die Muskulatur wie Schiffstaue zu verknoten schien. Die Konturierung seines Körpers war martialisch, jene eines Mannes, der daran gewohnt war, seinen Leib mit Kraft einzusetzen.

Als sie ihn kennengelernt hatte, trug er dicke, verfilzte Rastalocken, die ihm weit über die Schultern bis zum mittleren Rücken hinabfielen. Sein Gesicht war kantig, sein Blick intelligent, wachsam und so dunkel wie seine Vergangenheit. Er hatte nie viel preisgegeben, sich in Schweigen gehüllt und nur eröffnet, dass die Grausamkeit des Lebens, das ihm seine Liebe geraubt hatte, der Wendepunkt gewesen war. Katharina respektierte das Geheimnis, das ihn umgab, ja es gefiel ihr sogar, denn es schien ihr, dass ihre Begegnung damit noch viel mehr im Brennspiegel einer Bewährung im Augenblick angesiedelt wäre. Er war, was Katharina sehr schätzte, hoch belesen und trotz seines wilden Aussehens von eleganter Umgangsform, bewegte sich in Fragen von Kunst und Kultur mit sicherer Geläufigkeit und sprach mit Katharina in ihrer Muttersprache oder je nach Laune auch Englisch. Auch sein Italienisch war perfekt.

Irgendwann war er also von irgendwo hierhergekommen, um sich als trotzige Antwort auf das Schicksal als Gelegenheitsarbeiter in dem toskanischen Dorf niederzulassen. „Ich lebe am Rande der Welt“, hatte er sich Katharina vorgestellt und seine damit verbundene Freiheit beschrieben. „Ich bin nur mehr dem Augenblick, mir selbst und der Liebe verpflichtet.“ Seine Radikalität hatte sie beeindruckt und fast eingeschüchtert. „Warum gerade hier?“, hatte sie ihn dann gefragt. „Das Licht ist das Entscheidende hier“, hatte er ihr mit gedämpfter Stimme geantwortet, „das Licht, das hier alles aus sich heraus zum Strahlen bringt. Es wirkt hier seit Jahrhunderten, wenn man seine Wirkung spüren kann. Es ist magisch.“ Das Licht war magisch hier in der Toskana. Dem konnte Katharina auch aus eigenem Erkennen zustimmen. Und es passte zu ihm, spiegelte ihn perfekt, denn auch er war magisch, verstand die magische Inszenierung ihrer Beziehung so sehr, dass sie ihn bei sich sogar so nannte.

Seine Leidenschaftlichkeit war obszön. Oft, wenn sie ihn nackt vor sich stehen sah, tauchte das Bild eines griechischen Satyrs vor ihr auf. In diesem Jahrtausend spielte er lieber die Rolle des Bad Boys. Er spielte sie gut, sogar ausgezeichnet, war ein Erotomane und hatte eine Vorliebe für Lederriemen und Seile. Er rauchte mehr Joints als sie Zigaretten. Wahrscheinlich brauchte er das Zeug wirklich, hätte seine starke Triebhaftigkeit sonst wohl nicht zu handhaben gewusst.

Äußerlich kamen sie aus vollkommen verschiedenen Welten, jeder aus einem Kosmos, der dem anderen nicht entfernter hätte sein können. Er war Lebenskünstler, sie in vielfacher Weise in gefügter gesellschaftlicher Position. Nichts schien sie zu verbinden. Und dennoch formte eine starke, jenseits jeden Verständnisses liegende Erotik eine feste Brücke zwischen ihnen, auf der sie einander wie zu einem Duell trafen.

Kein Mann hatte es je geschafft, sie mit seiner erotischen Forderung so niederzuringen, an die Grenze ihres Vermögens zu bringen. Er war pornografisch in seiner Haltung, hemmungslos mit Selbstverständnis und scheute Vulgarität nicht, alles in einem Ausmaß, das sie fassungslos sein ließ, und einer Intensität, die sie erschöpfte. Er nahm sie für Stunden und in den Nächten, bis der Tag schon wieder graute, bis sie in einem Gefühl der Auflösung zu zerfallen glaubte.

Er erzwang ihren Orgasmus als sein kontrolliertes Werk über ihre Ohnmacht, bis sie ihn nicht mehr zurückhalten konnte. Die dabei aus ihr schießende Nässe trank er begierig. Er war dabei wie ein Tier an einem Wasserloch, ganz hingegeben und versunken, schamlos gierig und unschuldig zugleich.

Seine Inszenierungen waren billig, doch es kümmerte ihn nicht. Er liebte es, ihr hohe Stiefel oder aber besonders hochhackige Sandalen anzulegen, schwarze Netzstrümpfe und Korsagen und ihr geheimnisvolle Augenmasken überzuziehen. So wollte er sie vor sich stehen sehen, ihr ans Geschlecht fassen, es spreizen und die Lust in ihr entfachen.

Manchmal wollte er sie auch mit Lederriemen und Seilen binden. Er war dabei weder elegant noch zart, mehr konzentriert arbeitend und äußerst effektiv, wenn dabei jener schmale Raum an minimaler Beweglichkeit, den er ihr ließ, ein lustvolles Einschneiden bewirkte.

Oft hatten sie versucht, mit milder Zärtlichkeit und Liebkosung miteinander zu schlafen, und doch hatten sie dabei ganz unvermutet die wild hervorbrechende Urkraft unweigerlich aneinander entfacht, so als würde ihrer beider immer heftiger werdender Atmen als ein über ihnen liegendes Gesetz das Feuer eines unvermeidbaren neuerlichen Ringens miteinander anfachen.

Die erotische Begegnung war der Brennpunkt ihrer Beziehung, das Feld, auf dem sie versuchten, die Tiefe der Geschlechtsrolle des anderen auszuloten, sich einander rückhaltlos zu geben und die Basis des Vertrauens, ihre so große Unterschiedlichkeit außerhalb dieses magischen Raumes leben zu können.

Katharina und der magische Liebhaber hatten mit der Verführung seiner männlichen Kraft und dem dieser Kraft innewohnenden Wunsch zur Dominanz zugunsten ihres weiblichen Sehnens nach einer von ihr gewünschten Unterwerfung lustvoll gespielt und sie immer weiter vorgetrieben. Seine Dominanz und ihre Unterwerfung waren zugleich der Gestaltwerdung wie Anbetung ihrer beider Lust unterstellt.

Doch dann war es zu viel geworden. Die dabei notwendige Hingabe an die Beziehung löste in ihm mächtig aufschießende Verlustängste aus. Seine Fantasien über Katharinas Macht, sich von ihm abwenden zu können, hatten ihn in zunehmend bittergallige Spannung versetzt, sodass er anfing, sie abzuwerten und zu bekämpfen.

In Wirklichkeit war bereits damals das Ende besiegelt gewesen, denn er hielt die Anforderung vertrauensvollen Liebens nicht aus und nahm Zuflucht in sein Machtstreben über sie. Ein Vertrauensmangel – sein Vertrauensmangel in sich selbst – war der Grund dafür. Eine unsichtbare Mechanik der Zerstörung hatte sich im Untergrund langsam in Gang gesetzt. Er war zu schwach gewesen, sich rückhaltlos der Liebe auszuliefern.

Und sie? War er mit seiner Einschätzung, sie letztendlich lieber beherrschen als lieben zu wollen, so falsch gelegen? Das fragte sie sich heute zum ersten Mal. Hatte er denn Grund gehabt, auf ihre Seelenkraft zu vertrauen? Er hatte ihrem Körper den Orgasmus abzuringen vermocht, doch ihre Seele hatte sich in Unberührbarkeit für ihn entzogen. Vielleicht hatte etwas in ihm das gespürt. Sie hatte ihm lächelnd jede geforderte Unterwerfung gewähren können und war trotzdem unerreichbar. Sie war offenbar nicht ehrlich gewesen, denn er war nicht der Mann, der sie in ihrem innersten Kern berühren konnte.

Ihre Begegnung war also nie mehr als ein Machtspiel gewesen, beide hatten sie versagt und waren zu schwach gewesen, es anzusprechen. Im Kern hatte die übliche bürgerliche Konvention eines zähen Machtverteilungskriegs geherrscht.

Was folgte, war ein sie beide entwürdigendes Schauspiel. Er fing an, sie zu demütigen und zu verletzen, trachtete danach, sie bloßzustellen und zu kränken, ihr zu zeigen, dass sie nicht wichtig wäre und er ihr gefügtes, erfolgreiches Leben verachte.

An ihrer Verwirrung und Fassungslosigkeit, wenn er sie wegen einer Nichtigkeit oder auch grundlos, einfach im unerklärten und nicht hinterfragbaren Wechsel seiner Stimmung wie Dreck behandelte, sich abwandte und jedes Gespräch verweigerte, versuchte er seine Stärke und Macht über sie wiederzufinden.

Überall und unsichtbar lauernd konnte ein Grund für ein tiefes, tagelang zehrendes und quälendes Zerwürfnis liegen. Erst wenn er meinte, dass sie in jene Hoffnungslosigkeit verfiel, die einem zerfleischenden Schmerz folgt, sobald der existenzielle Seelengrund berührt wurde, würdigte er sie, gestärkt durch die Wirksamkeit seiner Willkür, ihr demütigende Gewalt antun zu können, seines Blickes, umschloss sie mit seinen Armen und zog sie wieder an seine Brust.

Dabei wusste er nicht, dass sie seine Struktur studierte, seinen mangelnden Glauben an die gelebte Gleichmächtigkeit von Mann und Frau, der doch nur Spiegel ihres eigenen Unvermögens war.

Als sie nach einigen Malen der Wiederholung die Erbärmlichkeit des Musters und seine sich in ihrer vermeintlichen Folterung ausdrückende Schwäche erkannte, war es für sie vorbei.

Dominanz und Unterwerfung hatten sich als Denkmodelle einer stabilen Konstruktion eines simplen Machtgefüges, eines Oben und Unten offenbart, jedoch nicht als Ausdruck eines dynamischen Durchgangsmoments zweier gleichmächtiger Partner. Denn gleichmächtige Partner können auf die Bedürfnisse der Situation reagieren und sie gestalten. Dabei übernehmen sie wahlweise nach ihrer besten Eignung und naturgegebenen Prinzipien die jeweilige Rolle des Moments. Gerade deswegen hatten sie einander nicht wirklich zu berühren vermocht.

Doch warum hatte sie nie jemanden getroffen, mit dem dieses reine selbstgestaltende Lieben in Gleichmächtigkeit möglich war? – Es lag wohl an ihr selbst, sprang sie sofort die Antwort an. Es war sinnlos, im Nachhinein jedem Mann, mit dem sie in Beziehung trat, die Unfähigkeit zu lieben vorzuwerfen. Katharina ließ sich schließlich darauf ein. Schon allein deswegen war er viel mehr als ein Antagonist ihres eigenen Unvermögens zu sehen.

Aber vielleicht war am Ende all ihre Sehnsucht von gleichwertiger Partnerschaft auch nur ein vollkommen verstiegener Traum. Einer, der gerade einmal in den großen Literaturdramen seinen Raum beanspruchen konnte, doch in der Lebenspraxis dieser Gesellschaft völlig unrealisierbar war.

Das Bild von Stefan tauchte für den Bruchteil einer Sekunde in ihrem Inneren auf, doch sie verscheuchte es energisch. Er war sicher der Letzte in Sachen Liebe. Gerade eben hatte er doch wieder ein eindrucksvolles Beispiel seines unzuverlässigen, ja sogar unhöflichen Scharadenspiels geliefert. Er war ein Chamäleon, das jedes Gegenüber täuschen wollte, um daraus sein Vergnügen zu ziehen, und im Inneren gänzlich hohl.

Katharina verspürte, wie plötzlich brennende Bitterkeit in der Tiefe ihrer Brust und Tränen aufstiegen. Egal woran es lag, es tat einfach weh, von der äußeren Realität des Faktischen als naive Fantastin belehrt zu werden. Sie zog sich eines der wie Spinnweben zarten Papiertaschentücher aus der Box, die dienstfertig auf einem niedrigen Tischchen zwischen ihrem und dem Fauteuil ihrer Klienten stand.

Oft ist es so, dass die Oberfläche gänzlich unberührt erscheint, und dennoch wirkt in der Tiefe eine mächtige Kraft. Und nur dort offenbart sich die im Erdinneren durch unterirdische Flüsse, Magmaströme und tektonische Mächte geformte Landschaft in ihrer dynamischen Existenz, wo ein Vulkanausbruch plötzlich Lava ans Tageslicht befördert oder heiße Quellen nach außen treten.

Dieser Moment war jetzt. Denn wenn sie ehrlich zu sich selbst war, so musste sie nun hier an diesem Winterabend, eingehüllt in den Schutzkokon ihres eigenen Therapiezimmers, zugeben, dass sich die Sache mit der Liebe für sie irgendwie als gelaufen anfühlte. Plötzlich fühlte sie sich unendlich müde und ernüchtert. Es war vorbei. Ganz klar und ungeschminkt stand es auf einmal fest für sie. Es war wohl Zeit, erwachsen zu werden und sich von der Geschlechterliebe zu verabschieden. Vielleicht war dies der richtige Schritt im Entwicklungszyklus der Lebensphasen, dessen Gesamtheit nur die wenigsten früherer Generationen überhaupt hatten erleben dürfen. Möglicherweise lag die eigentliche Aufgabe des Älterwerdens darin, die Liebe zwischen Mann und Frau abzuschließen, sich zu emanzipieren. Es gab so viel anderes, auf das man sein Streben und Liebesgefühle ausrichten konnte, das sich mit Sorgfalt verfolgen ließ. Es sollte ihr nicht so schwerfallen, versuchte Katharina sich selbst zuzusprechen. Sie war an vielem interessiert.

Künftig würde sie also nicht unerbittlich sein, wie sie es noch wenige Wochen zuvor bei ihrer Entlassung aus dem Spital für sich formuliert hatte, sondern es würde keine Zukunft mehr geben.

Sie hatte es in all ihrer Beschäftigung gar nicht gemerkt. Doch diese Erkenntnis war unsichtbar vor ihr selbst und wohl im Untergrund ihrer Seele gereift, bis sie an diesem Abend an die Oberfläche durchbrach. Es war dennoch ein resignatives Gefühl, das ihre Brust mit erstarrender Kälte erfüllte, wenngleich sie es vor sich selbst herunterzuspielen trachtete. Für eine neuerliche Enttäuschung hatte sie keine Kraft mehr. Und auch ihre so heftige Reaktion auf Stefans erneute Kontaktnahme erschien ihr in der analytischen Obduktion ihrer Gefühlslandschaft dieses Abends nun viel mehr den letzten verzweifelten Atemzügen eines totgeweihten Patienten zu gleichen, der seiner Realität noch nicht vollends ins Auge blicken konnte.

Das Schellen der Türglocke riss sie ganz plötzlich aus ihren trüben Gedanken. Katharina straffte sich. Ein wenig fühlte es sich an, als würde das Alarmsignal auf einer Feuerwehrwache einen Einsatz fordern. Sie liebte das. Und es kam ihr gerade recht. Jetzt galt es, sich selbst ganz zu vergessen und mit gespannten Sinnen vollkommen präsent und in der Anforderung der Situation zu sein.

Ihr Klient hatte dies heute auch bitter nötig. Als er ihr gegenüber in einem der tiefen grünen Lederfauteuils versank, wirkte er gestrandet, ein Ertrinkender, der sich durch die Wellen eines Lebensunwetters an die Küste ihrer Praxis durchgekämpft hatte.

„Sie hat es ihm gesagt“, stieß er sofort heiser mit einer Atemlosigkeit und einer Erschöpfung hervor, als wäre er Kilometer geschwommen. Katharina fragte sich, ob er wohl die fünf Stockwerke zu ihrer Praxis hinaufgelaufen wäre. Andernfalls schien es angezeigt, sich Sorgen zu machen. Die Psychovegetative Mitreaktion zu seinem Seelenzustand war beachtlich. Dabei war er doch für normal eine so beeindruckende Erscheinung. Groß, trotz seiner fünfundfünfzig Jahre, die den meisten Männern einen Bauchansatz bescherten, schlank, ja athletisch, zog er in jeder Gesellschaft die meisten Blicke sofort auf sich. Seine hohe Stirn und die lebendige Wachheit seines Mienenspiels unterstrichen seine Intelligenz. Das volle, von wenigen Silbersträhnen durchzogene dunkle Haar ließ ihn jünger wirken. Er war begehrenswert für viele Frauen und konnte dennoch selbst nur ganz bestimmte und immer bedürftige als Partnerin wählen. Dabei stand er unter einem Wiederholungszwang, ausgelöst von der Prägung durch seine Mutter, die als schwache Frau unter der Beziehung zu ihrem Ehemann gelitten hatte.

Heute saß ihr ein gänzlich anderer Mann gegenüber. Er wirkte fahrig, rastlos, sein Blick trug ein scharfes, angstvolles Leuchten, während er die Lehnen des Fauteuils umklammerte. Katharina entging nicht, dass seine Handflächen wohl schweißnass sein mussten. Schon bei der Begrüßung war ihr dies aufgefallen. Der ganze Mann schien sich in einem existenziell bedrohten Alarmzustand zu befinden.

Katharina kam das Bild eines brennenden Hauses. Eingeschlossen von den Flammen stand der Mann hoch oben am Fensterbrett. „Sie hat es ihm gesagt“, wiederholte Katharina langsam und in sanft fragendem Ton, wobei sie ihn scharf beobachtete.

Er war kurz wie in unendlicher Müdigkeit in sich zusammengesunken, sein Blick wirkte stumpf, in einem imaginären Abgrund seines Inneren eingerastet. Katharinas Worte holten ihn und das Brennen der panischen Bedrohtheit in seinen Augen wieder zurück.

„Sie hat es ihm gesagt und er hat gedroht, ihr die Kinder wegzunehmen. Sie hat Angst. Sie war als Jugendliche depressiv und deswegen einmal kurz in einem Krankenhaus. Nach dem zweiten Kind hatte sie eine Wochenbettdepression. Er hat sie ausgelacht und gemeint, sie solle funktionieren, denn ein Gerichtsverfahren stünde sie sicher nicht durch.“ Er brach ab.

Katharina ließ ihm Zeit, fühlte, dass seine bisherigen Worte nur die Bühne für das eigentliche Drama richteten.

„Sie hat mir gesagt, dass sie es einfach nicht schafft. Sie bleibt bei ihm, wegen der Kinder. Es ist aus!“ Seine Stimme war bei seinem letzten Satz tonlos, mechanisch geworden – ein Bemühen, sein Fühlen abzuspalten.

Trotzdem stand diese Wendung in seiner Beziehung wie ein unverrückbarer Felsmonolith eines ihn zerschmetternden Urteils jetzt in ihrer Praxis zwischen ihnen. Wie konnte sie ihn nur dazu bringen, den Meißel der Zuversicht auszupacken, fragte sich Katharina.

Diesen Ausgang seiner Liaison hatte sie vorausgesehen. Lediglich ein paar weitere Wochen hätte sie noch vermutet, dass die Beziehung halten könnte. Der Umgebungsdruck war zu stark geworden, die Frau, für Katharina vorhersehbar, emotional eingebrochen.

Gleichzeitig hatte sich damit eine weitere gleichförmige Perle in der Kette seines Beziehungslebens manifestiert, die ihre Entsprechung in seiner frühen Mutter-Kind-Beziehung fand, mit einer Mutter, die ihr eigenes Ehedrama mit dem verständnisvollen Sohn als Ersatzspieler zu lösen getrachtet hatte. Überall Missbrauch – Katharina seufzte innerlich, während sie dem Mann eilfertig die Box mit den Papiertaschentüchern reichte.

In magischer Exklusivität formierte sich dieses Muster der appellierenden, aber ihn letztendlich auf unterschiedliche Weise scheitern lassenden Frau immer wieder.

Aber vielleicht hatte diese Frau auch Instinkt oder zumindest Glück, denn Phasen ausschweifender leerer Promiskuität, in denen Abwertung und Demütigung der Frau im Vordergrund standen, waren bisher immer dann gefolgt, sobald er sich der eroberten Frau sicher wähnte. Dann wurde die Bühne für den ewig repetitiven zweiten Akt seines persönlichen Lebensdramas gerichtet: jenen der Rache an seiner Mutter, die ihn nie losgelassen hatte.

Es würden wohl noch einige Meilen therapeutischer Arbeit vor ihnen liegen, bis ihm die Erschließung einer reiferen Liebesfähigkeit jenseits seiner unsichtbaren, aber so bestimmenden Marionettenfäden seines Grundtraumas möglich sein könnte, dachte Katharina am Ende der Sitzung. Dieser Gedanke kam ihr heute erstmals routinemäßig wie ein technisches aufgetragenes Therapieprogramm vor, ganz so, als würde er von ihrem Herzen nicht mehr mitgetragen werden.

Als er schließlich für den Moment getröstet und etwas gefasster, mit der Rettungsinsel eines blassrosafarbenen Zettels für die nächste Terminvereinbarung in Händen gegangen war, fühlte Katharina seine Schwere als tiefen Nachhall einer Frage in ihrem Ordinationszimmer. Es schien ihr, als hätte er hier ein Grundproblem abgestellt, das nun nach Lösung drängte, ein Problem, das alle anging, auch sie selbst.

Sie drehte das Licht der Stehlampe herunter und setzte sich zurück an ihren Schreibtisch. In diesem schummrigen Halbdunkel ließ sich gut sinnieren, konnten Denken und Fühlen zueinander finden. Ihre Überlegungen wanderten zurück zum Patienten. Seine Krise war heftig. Daran war nicht zu rütteln.

Aber was hatte sie nur für eine lächerliche Scharade mit ihrem Patienten gerade eben veranstaltet, fragte sie sich nun bitter. Sie hatte die blanke Angst, den Abgrund seiner gefühlten Sinnleere in seinen Augen gesehen. Das hatte sie erschreckt und verführt zugleich.

Deswegen hatte sie versucht, ihm jene Grundgeborgenheit zu vermitteln, die imstande war, ihm die Welt letztendlich doch als guten Ort glaubwürdig zu machen. Ihre Anstrengung war also darauf ausgerichtet gewesen, ihm eine nährende Mutter zu sein, zumindest jetzt. Gerade sie. Fast hätte sie zynisch aufgelacht.

Sie, die mit der Liebe abgeschlossen hatte, die selbst dieser Kälte in der Brust, die sich aus der Einschnürung des Herzens speiste, erlegen war, hatte ihn mit falscher Zuversicht getäuscht.

Wir haben eine ganze Gesellschaft auf dem Prinzip der Lieblosigkeit gebaut, dachte Katharina. Das hätte ich ihm sagen sollen. Das wäre wahrhafter gewesen. Das Unbehagen in der Kultur war mehr als berechtigt, wurden doch Nähe, Wärme und Zuwendung je nach gerade gängiger Mode und Ideologie von Anbeginn an rationiert, der kaum geborene Mensch bereits nach wohlmeinenden Wissenschaftskriterien bewertet, eingeordnet und kategorisiert.

Kaum einer erfuhr dieses bedingungslose Angenommensein, das als magischer Terminus eines unerschütterlichen Urvertrauens unverzichtbar durch die Fachliteratur geisterte.

Ihr Patient hatte sicher nicht ausreichend aus diesem Brunnen der Grundgeborgenheit trinken können. Sie selbst ganz sicher auch nicht. Aber wer konnte das von sich schon wirklich behaupten?

Die meisten Lauten und besonders selbstsicher Wirkenden kämpften sogar noch viel härter mit ihren inneren Dämonen, wurden zu Taktierern und Machiavellisten, verstrickt in elende Machtkämpfe.

Diese ängstlich-zweifelnde Ungeborgenheit war jederzeit lauernd bereit, zum Sprung anzusetzen. Es half auch nicht, die fragile Ansiedelung neben dem Abgrund von Angst und Depression kunstvoll mit vorgegebener Wichtigkeit zu bemänteln. Nur allzu oft und unvermutet schlug dann das Lackmuspapier des Lebens auf ätzend feuerrot um.

Katharinas Blick lief gewohnheitsmäßig über die Rücken an Rücken dicht gedrängt auf den honorigen Stellagen hockenden Bücher mit ihren Fachtiteln, die nahezu geschlossen zwei Wände ihrer Praxis einnahmen. Von „bedingungslosem Angenommen-Werden“ oder „unconditional love“, was für sich genommen schon als Hörbild Sehnsucht auslösen konnte, war da auf Tausenden Seiten zu lesen. Sie merkte, wie sich ihre Finger krümmten und sich unvermutet zu Fäusten schlossen.

Alles eine Fiktion, ein unerfülltes Wunschbild, Träume von einem Menschenbild, das doch eine ganz andere Welt geschaffen hätte, dachte Katharina. Sie fühlte ohnmächtige Wut und Verzweiflung, ein inneres Rasen, das sich aus Leere und Einsamkeit speiste und einem Gefühl von erlebtem Betrug zu entspringen schien.

Am liebsten wäre sie aufgestanden, hätte die Bücher aus ihren bequemen Stellagen geworfen und die Seiten zerrissen.

Wir haben eine wahnsinnige Welt geschaffen, überlegte sie weiter. Die Menschen haben schon lange ihren inneren Kompass verloren. So sie je einen hatten, ergänzte sie ihren Gedanken bitter. Auf den Trümmern von Hexenverbrennungen, Aberglaube und Willkür hat unsere Globalisierungsgesellschaft ein mechanistisch-materialistisches Weltbild als scheinbar einzig vertrauenswürdige Antwort gezimmert. Und wie würde es weitergehen?

Die zunehmende Verteilungsungerechtigkeit hatte Sprengpotenzial, den Globus sozial auseinanderzureißen. Von jeder ethischen Überlegung befreit, bastelten die Transhumanisten im Silicon Valley unter dem neuen Zweckdienlichkeitsdogma bereits an der neuen Superrasse Mensch: einem Organismus, der jede Berührungsangst mit der Maschine verloren hatte und mit ihr zur Optimierung verschmolz. Der Rest der Menschheit fiel dann wohl sehr bald unter die Verzichtbaren.

War es in einer allein vom Rationalismus geprägten Welt, in der empathisches Sein zunehmend zurückgedrängt wurde, überhaupt noch sinnvoll, mit einem Patienten an seiner Liebesfähigkeit zu arbeiten?

Zweckdienlichkeit und Rentabilität, Haftungsabklärung und Kontrolle waren die Richtungen der neuen Windrose dieses Menschenbildes. Aber gleichzeitig schien es nicht zu funktionieren. Denn noch nie zuvor waren Depression und emotionales Ausbrennen so raumfüllend wie heute, und dies gerade im reichsten Teil der globalen Gesellschaft.

Hier lief doch etwas furchtbar falsch. Die Glücksversprechungen der Steigerungsgesellschaft klangen hohl.

Wir haben tatsächlich eine wahnsinnige Welt geschaffen, dachte Katharina erneut.

Sie fühlte eine starke Unruhe in sich, so wie immer, wenn intensive Gedankenprozesse sie ergriffen hatten. Das Denken in ihr brauchte Raum und Bewegung, ihre eigene Bewegung.

Katharina stand auf und ging ziellos durch ihre Praxis, verrichtete kleine mechanische Aufräumarbeiten, die mehr der Abfuhr ihrer inneren Spannung dienten, als Ordnung zu schaffen. Hier fehlte etwas Substanzielles in der Gleichung einer eingebetteten Lebendigkeit, spürte sie ganz deutlich.

Grundgeborgenheit, Lebenszufriedenheit, Sinnfindung. Alles schien im Innersten doch irgendwie mit der Liebesfähigkeit verbunden, ja von ihr abhängig zu sein.

Alles was sie in ihrem eigenen Leben je erreicht hatte, jede Position, Ehrung oder Ding, das unverkennbar Status repräsentierte, war nur von kurzem Wert gewesen, hatte ihr nur ein spärliches Gefühl von Zufriedenheit geben können.

Wärmende Geborgenheit und beständiges Vertrauen in ihre Zukunft waren hingegen immer mit geteilten Momenten mit anderen nahen Menschen in Zusammenhang gestanden. Nur sie begründeten das Gefühl eines nachhaltigen Gesehen- und Akzeptiert-Werdens. Und Liebesbeziehungen vermittelten darüber hinaus das beglückende Erleben, einen wohlwollenden Spiegel und ersehnte Zugehörigkeit gefunden zu haben.

Schließlich fand sie sich in ihrer dunklen Teeküche wieder.

Das metallische Klacken der Sekundenanzeige des kleinen Emailweckers, der in einer Ecke der Arbeitsplatte mit lauter Selbstverständlichkeit knotzte, sprang sie bösartig an. Heute wirkte es, als würde er ihre Lebenszeit wie einen sinnlos verstreichenden Countdown hinunterzählen. Der Sekundenzeiger schien hämisch ihre Unfähigkeit zu skandieren. Ich werde die Batterien nicht ersetzen, beschloss Katharina düster, wie zur Verteidigung.

Dann setzte das dunkle Brummen des Kühlschranks ein und erfüllte den Raum mit gegensätzlicher, gewährender Gelassenheit. Katharina öffnete seine Tür und das weißblaue Licht im Inneren gab den Blick auf die Regale seines Tabernakelschreines frei.

In der Gemüselade fand sie einen einzelnen glänzendroten Apfel. Sie rieb ihn etwas ab und biss hinein. Er knackte hörbar und schmeckte saftig, etwas säuerlich und gleichzeitig süß.

Ist das die Mischung der Erkenntnis, fragte sie sich, süß und sauer zugleich? Und dann fielen die Teile des Puzzles an ihren richtigen Platz, um ein gefügtes Bild des Ganzen zu ergeben.

Jener Moment der Erkenntnis ist, auch wenn er in einen Rahmen gänzlicher Alltagsbanalität eingebettet ist, immer ein großer, durchgreifend erhebender, so als trete man aus dem üblichen Sein heraus.

In diesem Fall drehte Katharina gedankenverloren das abgenagte Kerngehäuse des Apfels zwischen den Fingern an seinem Stiel, bevor sie es in den Schlund des Mülleimers warf, als sie die Sicherheit des Wissens traf und sich in ihr formulierte: Es brauchte einfach mehr als einen rationalen Zugang, ein gefühltes empathisches Fundament sicheren Fühlens, dass alles gut und eingebettet in ein wärmendes großes Ganzes sei, um nicht an der eigenen erkennbaren Endlichkeit zu zerbrechen, um zur rückhaltlosen Akzeptanz und Umarmung des eigenen Lebens, der gegebenen Alterung und Sterblichkeit bereit sein zu können.

Die Liebe war eben unverzichtbar in der Gleichung der Menschennatur. Wer sich der Liebe versagte, der wurde zum lebenden Toten.

Wegen unserer Verletzbarkeit als Einzelne sind wir aus dieser Notwendigkeit heraus als hochsoziale Säugetiere konstruiert und auf ein Gegenüber geprägt. Wir sind radikal sozial, stellte Katharina für sich fest. Damit wird die Liebe der große Vermittler zwischen den Menschen, ihrer Welt und der aus ihrer Bewusstseinsfähigkeit geborenen Reflexion von Sein und Sinn. Liebe ist als sozialer Mörtel der bedeutendste Baustoff des Universums, um den Menschenkörper, der diese Erde bevölkert, zu immer höherer Komplexität voranschreiten lassen zu können. Verdienst und Sinn des Menschen kann es nur sein, seine Liebesfähigkeit entlang dem eigenen Vermögen und mit sich ringend weiterzuentwickeln. Nur hierin konnten sich Sinn und Ruhe finden.

Katharina merkte, dass sie tief und langsam ausatmete. Sie fühlte vollkommene, sichere Ruhe, die mit dem Wissen um eine das eigene Leben nun machtvoll steuernde Erkenntnis einhergeht.

Nein, sie würde nicht aufgeben, sich nicht ergeben! Sie konnte es gar nicht. Aufgeben würde bedeuten, Ängsten und Zweifeln zu erliegen. Damit würde sie sich dem riesigen Heer dieser lebenden Toten eingliedern, jener, die sich mit Konsum und Beschäftigung möglichst fühllos durch den Abreißkalender ihres eigenen Lebens zu schmuggeln versuchten.

Das war das wirkliche Böse, dieser Verlust an Liebesfähigkeit, der die Menschen in biestige, feige, missgünstige oder gar grausame Wesen verwandelte.

Nein, sie musste diesen Kampf mit ihren eigenen Ängsten aufnehmen. Für sich und alle Menschen um sich herum. Auch für ihren Patienten, wenn sie für sich selbst glaubwürdig als Therapeutin sein wollte. Andernfalls wäre es besser gewesen, bereits vor drei Jahren, nachdem sie Stefan verlassen und der Tod ihres Vaters das letzte Siegel vor ihrer tiefsten Seelenkammer aufgebrochen hatte, vom Turm zu springen. Im eigenen Vater den zu erkennen, der wegen des selbst erlebten Missbrauchs durch seine Mutter zum Täter an Katharina geworden war, hatte ein derart unerträgliches Vernichtungsgefühl in ihr verursacht, dass für einen einzigen schwachen Moment der Tod als einziges sicheres Mittel gewirkt hatte, um den Schmerz zum Verschwinden zu bringen.

Nur ein plötzlich in ihr aufschießendes Gefühl von Wärme und ein naives Wissen, dass alles gut werden würde, hatten sie zurückgehalten.

Es war der Glaube an die Liebe gewesen. Jetzt war sie sich dessen sicher.

Weder würde sie sich wie viele andere eine Katze anschaffen, mit einem seltenen Hobby, mit dem sich gesellschaftlich punkten ließ, wie etwa Orgelspielen, beginnen, noch eine Flasche Rotwein zu ihrem zukünftigen Abendbegleiter wählen.

Nein, sie wollte sich nicht zunehmend vor dem Leben vermummen, sondern weiter berührbar bleiben.

Doch nur die auf vollkommener Freiheit beruhende Liebesbeziehung in Achtung und Respekt des Partners wollte sie akzeptieren: Denn sie allein war es, die dem Ideal einer bedingungslosen Annahme des Gegenübers im Erwachsenenleben entsprach. Das bedeutete vollkommene Kompromisslosigkeit, in erster Linie mit sich selbst.

Die Liebe durfte nicht mehr Gegenstand von Verwaltungsbestreben sein und mit einem eifersüchtigen Trachten nach Beweisen des eigenen Geliebt-Werdens gleichgesetzt werden. Seltsam, dachte sie, dass gerade jetzt im Zeitalter des Individualismus das Zusammenfinden der Geschlechter von noch viel größerer Erschwernis geprägt erschien, so als würde durch das Wegbrechen erzwungener Struktur und die sich eröffnende Freiheit die bestehende Liebesunfähigkeit gerade noch viel greller angestrahlt.

Ich will nur mehr rein und schlicht lieben, selbst wenn ich damit allein bin, überlegte sie. Und ich will nie mehr einsam sein, ergänzte Katharina. Ich muss mutig sein und mich berühren lassen. Dafür muss ich sorgsam wählen und nur nährende Menschen zulassen, denn der falsche Mensch an meiner Seite bedeutet Einsamkeit! Schreckliche Einsamkeit, und Einsamkeit ist der Zustand aller Verlorenen, jener, die ihre Selbstmächtigkeit aufgegeben oder nie für möglich gehalten haben.

Ein Kompass für ihr Leben schien sich ihr im Thema der Urkraft der Liebe also eröffnet zu haben. Das Wesen des reinen Gefühls, so könnte man es vielleicht auch benennen, und die Hoffnung auf einen Weg, es leben zu können und ihrem Leben Sinn zu geben, ohne mehr Zuflucht in oberflächlich tröstenden, transparenten und nur bedingt tauglichen Ersatzkonstruktionen nehmen zu müssen.

Ein vielleicht sogar lächerlich anmutendes Gefühl, einen Gipfel erklommen zu haben und freien Blick auf die sich unter ihr ausbreitende Landschaft zu genießen, durchströmte sie. Sie fühlte sich frei und leicht, ungeahnt, ja nahezu kindlich unbegründet fröhlich.

Für einen kurzen Moment, als sich ihre Erkenntnis mit ihrer gefühlten Existenz vereinigt, streift ihr Sein die Unmittelbarkeit wirklicher Präsenz, die sonst nur Narren oder Kindern zuteilwird und die uns mit der Ganzheit des Universums für einen Augenblick verbinden kann.

Jene Liebe, die sie als sinnhaftes Prinzip erkennt, hat nichts gemein mit dem, was soziale Normierung zwischen Mann und Frau im jeweilig gültigen Regelwerk vorgibt, sondern sie ist wirklich frei und ohne Argwohn. Für diesen köstlichen Moment liegt alles ganz richtig und in seiner schlichten Naturgesetzmäßigkeit vor ihr. Sie spürt ihre Entschlossenheit und fühlt sich vollkommen glücklich. Alle bösen Geister sind zurückgedrängt, und wie sie es leben wird, muss sie erst das Leben selbst lehren.

Von außen betrachtet ist es ein herrlicher, ein im besten Sinne naiver Moment, dieses Bekenntnis Katharinas zu den Bindungskräften im Universum, in dem doch alles gleichzeitig auseinanderstrebt. Es ist ein großer Moment, ein heiliger in gewissem Sinne, so wie jene ozeanischen Momente, in denen wir für einen Augenblick in der liebevollen Verschmelzung mit einem Gegenüber Auflösung und gleichzeitig Ankommen erleben.

Man sollte also nicht daran rütteln wollen und weder von der traditionellen Physik noch von jener, die über diese weit hinausgeht und den meisten Menschen ohnehin verschlossen bleibt, zuerst noch wissenschaftliche Beweisführung verlangen.

Denn welch größeren Sinn kann es geben, als befähigt zu sein, in der Knechtschaft des Ich-Bewusstseins dieses fragilen Kohlenwasserstofforganismus einen Sinn zu denken, der rationales Denken und empathische Intuition zu einer Ganzheit subjektiv erlebbarer Wahrheit kosmologischer Dimension verschmilzt? Und sei es auch nur für einen Moment!

Katharina fühlte sich also seltsam munter und gestärkt an diesem Abend, fast mit einem Schuss Wagemut versehen. So beschloss sie, trotz der späteren Abendstunde und weil sie tatsächlich noch keinen Anflug von Müdigkeit bemerkte, zum Fitnesstraining zu gehen.

Das Studio lag unweit ihrer Praxis in einem auf hypermodern renovierten, beeindruckenden Gründerzeithaus, das man zu diesem Zweck in seinem Inneren gänzlich ausgeweidet hatte. Die von der Decke bis zum Boden reichende Glasfront mutete vor allem in der Nacht wie ein clownesker riesiger Mund des Gebäudes an und bot gleichzeitig weiten Überblick über das Treiben auf der zwei Stockwerke darunterliegenden Geschäftsstraße.

Ein Lift brachte Katharina von der Straße direkt in den Rezeptionsbereich. Mit ihrem roten Chip-Band öffnete sie das Drehkreuz, das den Zugang regelte. Der Junge an der Theke, der heute Dienst tat, begrüßte sie unangemessen enthusiastisch, was sie immer noch als etwas grenzüberschreitend empfand. Ihm hatte man wohl bei der Einstellung seine Funktion als Manager des ersten Augenblicks verdeutlicht. Seine Aufgabe bestand darin, nicht nur die Geräte und Mitgliedschaften zu verwalten, sondern auch die Zugehörigkeitsgefühle zur Gemeinde.

Das Fitnesscenter war eine Stätte der modernen Religionsausübung für die Glaubensgemeinschaft „Health & Beauty“. Immerhin besser als die ekstatischen Gottesdienste der rasant wachsenden Glaubensgemeinschaft der Kaufsüchtigen in den Einkaufszentren und im Internet, mit der immerhin fast ein Viertel der Bevölkerung liebäugelte, um ihre Depression oder Angststörung im Griff halten zu können.

In Katharinas Fall ging es mehr darum, dass die Banalität ihrer körperlichen Konstruktion depressiv auf die tagelange Bewegungslosigkeit eines akademischen Erwachsenenlebens reagierte. Wer als hyperaktiv konstruiert ist, musste diesem Schicksal Rechnung tragen. Hier im Studio konnte sie nicht nur spüren, dass sie einen Körper hatte, sondern einer war. Das wirkte zuverlässiger auf ihre Stimmung als jedes Benzo.

Wie hatten die Menschen nur ihre Ängste und Sinnlosigkeitsgefühle vor 1960 bewältigt, als Leo Sternbach der Welt Librium schenkte und als Draufgabe später noch Valium? Diese Frage beschäftigte sie immer wieder. Schon 1977 schaffte es Diazepam schließlich, von der Weltgesundheitsorganisation in die Liste der unentbehrlichen Arzneimittel aufgenommen zu werden.

Seltsam, wie bedeutend dieses bicyclische Molekül für die Alltagsbewältigung der Menschheit wurde, eine banale Kondensation eines Benzol- mit einem Diazepinring. Wenn man an historische Synchronizität glaubte, also davon ausging, dass Erfindungen immer zu jenem Zeitpunkt stattfanden, wo die Menschheit in ihrer üblicherweise als Fortschritt bezeichneten Entwicklung dafür bereit war, so konnte man mutmaßen, dass bereits die fröhlichen Eltern der Baby-Boomer in ihrer Wohlstandsbesessenheit den Keim eines systematischen gesellschaftlichen Sinnlosigkeitsgefühls in sich getragen hatten.

Wenig später stand Katharina auf dem Laufband. Dieses war ganz dicht an der Glasfront platziert, sodass man die gesamte Straße überblicken konnte. Nur mehr wenige Leute hielten sich im Studio auf, nahezu alle anderen Laufbänder waren frei. Nur zwei Geräte weiter rechts von ihr mühte sich noch eine verbissen wirkende, pummelige junge Frau ab. Sie schwitzte stark und hatte X-Beine, wodurch ihr Laufen seltsam hilflos wirkte. Sie würde nie schlank werden.

Weiter hinten, in der Tiefe des Studios nahm sie bei den Steppern noch etwas Bewegung wahr. Sonst fanden sich noch ein paar junge Männer mit den verschiedenen Maschinen zum Aufbau einzelner Muskelpartien beschäftigt und zwei weitere trainierten mit Gewichten. Der Drang des Mannes nach herzeigbarer Muskulatur hatte sich eindeutig bis in die heutige Zeit erhalten, selbst wenn es elektrisch betriebenes, auf Fingerdruck steuerbares Werkzeug für jedes Bauvorhaben und alle anderen Lebenslagen gab.

Katharina platzierte ihre drahtlosen Hörer in ihren Ohrmuscheln und rief „ihre“ Musik auf dem Handy auf. Das hatte sie sich von den Jungen abgeschaut, allerdings nicht deren Musik. Led Zeppelin, Deep Purple und Woodkid wollte sie jetzt direkt auf ihr Trommelfell einspielen. Sie war sich selbst so transparent in der Steuerung ihrer Stimmung. Mit „Child in Time“, „Highway Star“, „Run Boy Run“ oder „Iron“ gelang es ihr spielend, sich mit der alten Melodie ihrer Kindheit zu verbinden. „Two Steps from Hell“ mit seiner epischen Konstruktion von dramatischer Programmmusik eines Heldenmythos traf es am allerbesten, auch wenn sie sich dafür schämte.

Oft hatte sie sich gefragt und geprüft, welcher Richtung dieses Laufen auf dem Band galt, auch wenn es sie auf dem Platz hielt. Immer hatte sie es als eine Bewegung empfunden hin auf ein Ziel, auch wenn sie es nicht benennen konnte, nie als eine Flucht. Sie musste kämpfen, rennen, durchhalten, retten, siegen, sich bewähren. Ihr Großvater hatte sie in einem Mythos zwischen Heldensagen und Indianerkriegen aufgezogen, und als jenen Knaben, den er in ihr hatte sehen und den sie ihm immer hatte beweisen wollen.

Nach wenigen Minuten hatte sie das Gefühl, hinauszulaufen, hoch über der Straße zu schweben und dabei leicht und endlos weiterrennen zu können. Das mussten die Endorphine gemeinsam mit dem beginnenden Sauerstoffmangel sein.

An einer Wand hing ein stummer großformatiger Bildschirm, auf dem in Dauerschleife Eurosport gesendet wurde. Gerade lief die Berichterstattung zu einem Fahrradrennen in Ligurien. Dass es sich um ein Ereignis nationaler Bedeutung handelte, erschloss sich auch ohne Ton. Italien zerbröselte buchstäblich wirtschaftlich, aber begeistert anfeuernde Massen schienen die gesamte Strecke zu säumen. Da wurde wirklich Begeisterung gefühlt. Da kam Beteiligung auf. Der Verlauf der Strecke wurde den Zuschauern anhand eines grafischen Modells, mit Ausgangspunkt und Ziel als äußerst kurvenreich und von steilem Höhenanstieg geprägt, vorgeführt.

Das Ganze wirkte durchwegs nach einer martialischen Folterung der Athleten, die zuerst an der von Palmen gesäumten Küste nahezu genüsslich radelten. Nach und nach drohten sie zunehmend auf den immer steiler werdenden Stücken zu verfallen, wie sich aus den Gesichtern, die verbissenes Durchhalten und Qual ausdrückten, unschwer schließen ließ. Die Streckenführung war also dramaturgisch gewählt, das Kolosseum schien hier einfach über eine Hügelkette gegossen worden zu sein. Mancher fanatische Zuschauer lief ein paar Meter unter leidenschaftlicher Anfeuerung mit dem Athleten mit, bevor er kurzatmig und erschöpft wieder dem Straßenrand zustrebte.

Fußball und Fahrrad – zwei Angelegenheiten, über die sich das italienische Selbstgefühl weitaus mehr zu definieren schien als über die Rechtschaffenheit in der Staatsführung. Auf jeden Fall war die Treue zum jeweiligen Favoriten nachhaltiger fixiert denn zur gewählten Partei.

Als Katharina wieder einen Blick auf den Schirm warf, wurde gerade der Zieleinlauf gesendet. Cäsar konnte als Feldherr nach seinen siegreichen Eroberungsfeldzügen in seinem Streitwagen nicht anders in Rom eingezogen sein als dieser junge Athlet, als er auf seinem minimalistischen Drahtesel die Ziellinie überfuhr. Die vorgestreckte Brust war die des Triumphators, die weit ausgestreckten grüßenden Arme die Schwingen des siegreichen Adlers. In seinem Gesicht mischten sich straffer Stolz und tiefe Bewegtheit über sich selbst. Mit der rechten Faust schlug er sich mehrfach rhythmisch auf die Brust, ein atavistisches Zeichen männlicher Überlegenheit und Macht. Eine Inszenierung von ganz großem fundamentalem Gefühl.

Ob er wohl genauso vollkommen in seiner Hingabe im Moment der Liebe mit seiner Partnerin ist? Wahrscheinlich nicht, beantwortete Katharina ihre Frage. Dass fanatische italienische Radfahrer schon auf Amateurebene (und das ist nahezu jeder) zumeist miese Beziehungen hatten, war eine weit verbreitete, übereinstimmende Einschätzung italienischer Frauen. Sie verbrachten die meiste Zeit auf dem Rad und den Rest in der Bar. Die Partnerin und dann erst die Gattin lösten zumeist sehr bald nur mehr den Reflex „Mama“ und „voller Tisch“ aus. Katharina kannte selbst einige Frauen, die die Konkurrenz gegen das Fahrrad und gegen ein ewiges Beharren auf einer pubertätsverliebten Flucht ihrer Partner vor familiären Verpflichtungen verloren und das Handtuch geworfen hatten, nachdem sie es satthatten, den großen Jungen mit einer Schüssel dampfender Spaghetti zu empfangen, ehe er wieder in sein Zimmer zu Konsolenspielen oder in die Bar zu den Kumpels abhaute.

Unten auf der Straße schob sich gerade eine Meute von E-Scootern durch ihr Gesichtsfeld. Sie waren alle gleichförmig in schwarze Mäntel gehüllt, was den Eindruck eines geisterhaften Vorbeischwebens der Truppe verstärkte und sie gespenstisch wirken ließ.

Im Auftreten dieser Jedi-Ritter der Ökoindustrie lag etwas Selbstbewusstes, die Haltung jener uniformen Sicherheit, die Adepten der gerade angesagten politischen Korrektheit eigen ist und auf jede eigene Reflexion zu verzichten versteht. Katharina spürte sehr deutlich Wut in sich aufsteigen. Wie die massenweise anfallenden Batterien entsorgt wurden, interessierte dabei keinen.

Daneben zogen die Lieferfahrer auf ihren Fahrrädern vorbei. Die Reiter der unterschiedlichen Ketten mit ihren überdimensionalen, würfelförmigen Rucksäcken, in denen Souvlaki, Pizza oder das jeweilige Thai-Gericht in seinem Styroportresor warmgehalten und zu seiner Verzehrbestimmung CO2-neutral transportiert wurden, gliederten sich in unterschiedliche Farbcodes. Es war ein beständiger gegenläufiger Strom pinker, grüner und oranger sich abstrampelnder Fahrer, der wie in einem Videospiel zu ihren Füßen vorbeizog. Mit einer Bestellung bei einem der Lieferdienste konnte man wenigstens mit satter Selbstzufriedenheit das Gefühl kultivieren, etwas für die Umwelt getan zu haben, wenn schon nicht für sich selbst, nachdem man sich wieder einmal vollkommen zugefressen hatte.

Die meisten waren junge Männer. Die hoffnungsvolle Gruppe rekrutierte sich aus Studenten, die sich für schlau hielten, mit diesem Job Fitness und Einkommen zu verbinden. Die anderen, die Hoffnungslosen waren jene, die keinen anderen Job mehr bekommen konnten. Der Übergang von den einen zu den anderen geschah oft unmerklich, indem die endlose Zeit von Volontariaten und unbeantworteten Bewerbungen die Resignation vor den Alltagskosten erzwungen hatte.

Wir kochen nicht mehr selbst, dachte Katharina, wir haben uns die Freude der Zubereitung im Namen der Bequemlichkeit und Fülle aus der Hand nehmen lassen. Unser Essen wird einfach angeliefert. Die Entscheidung erfolgt ganz im Moment und nach unserem Geschmack. So gefällt uns das heute, spontan und individuell, mit totaler Wahlfreiheit verbrämt und nach einem Fingerschnippen, das heute durch den Mausklick ersetzt ist, aber das analoge Machtgefühl vermittelt. Alles wird damit zu einer Dienstleistung für uns kleine selbstoptimierte, selbstverliebte Prinzessinnen und Prinzen. Dabei wissen wir nicht, dass wir schrittweise unsere Autonomie verlieren. Es fängt alles beim Essen an. Das ganze Abendland ist bereits in eine orale Regression gefallen.

Katharina beschloss, sich später einen Salat zuzubereiten. Sie würde die Salatblätter selbst waschen und auf die von ihr geschätzte Größe zerkleinern. Abschließend würde sie Radieschen hinzufügen, etwas Schafkäse, gerade so viel, wie sie es mochte und nicht irgendeine Restaurantkette vorgab, schwarze Oliven dazugeben und zwei, drei Tomaten in Scheiben geschnitten, nicht in Spalten oder gar grobe Viertelstücke, wie es jetzt im Namen der Quantitätssuggestion so Mode war. Sie würde schon beim Zubereiten den Geschmack spüren können und die Marinade nach ihrem Gefühl komponieren. Sie wollte der generellen Entmächtigung bereits an der Basis mit Widerstand begegnen.

Nach dem Training ging sie unter die Dusche. Es war ein lang gestreckter, bambusfarben verfliester Raum, in dem ein halbes Dutzend Duschköpfe in einer Reihe nebeneinander montiert waren. Die Anlage erinnerte Katharina an ein Mädchenpensionat.

Zwei Duschköpfe neben ihr stand die Pummelige vom Laufband von vorhin und bürstete gerade mit einem dieser groben Massagehandschuhe hingebungsvoll die Cellulitis ihrer breiten, weichen Oberschenkel. Sie würde wirklich nie schlank werden. Irgendwie wirkte ihr Tun hilflos und erbärmlich zugleich. Sie tat Katharina leid, wenngleich sie gleichzeitig unerklärliche Verachtung für sie spürte. Das musste aus der Härte kommen, die ihr die eigene Existenz als Amateur-Anorektikerin bereits lebenslang abverlangt hatte, denn sie fühlte sich von einem Ganzkörperpräservativ von Sensoren überzogen. Diese vermeldeten siedend heiß und unbarmherzig bereits jede im Grammbereich liegende Gewichtszunahme im Selbstwertzentrum ihrer Existenz.

Vollkommen verrückt, aber ein wirksames Disziplinarinstrument, seit sie in ihre Mädchenjahre getreten war. Und äußerst wirkungsvoll genauso, stellte sie gleichzeitig mit Befriedigung fest. Sie trug noch immer Kleidergröße vierunddreißig. Kein Schwangerschaftsstreifen fand sich auf ihrem Bauch, und in Sachen Cellulitis lag die Dicke neben ihr trotz ihrer Jugend weit abgeschlagen im Feld.

Das heiße Wasser tat Katharina gut, umfing sie wie eine Liebkosung. Wie immer nach dem Sport, wenn sie sich mit ihrem Körper in ganz besonderer Deutlichkeit eins fühlte, spürte sie ein anbrandendes Bewusstsein einer Urkraft, die das Mysterium der Lebendigkeit begründet, und in ihr einen starken erotischen Impuls auslöste. Das Bild eines gesichtslosen Mannes tauchte unvermutet auf. Er befand sich hinter ihr unter der Dusche, umfasste ihre Brüste. Während sie mit übergroßer Deutlichkeit vor sich die einzelnen Tropfen des heißen Wassers auf ihrem Körper auftreffen und sich zu kleinen, sie umfließenden Sturzbächen vereinigen sah, drang er in sie ein und sie liebten einander heftig und lautlos.

Im Umkleideraum begegneten ihr zwei junge Mädchen. Beide trugen einen Sport-Hijab. Er war schwarz, zeigte das bekannte häkchenförmige Firmenlogo einer großen Marke und passte damit genau zu ihrer sonstigen Sportausrüstung. Die Anpassung erfolgte also sehr rasch. Der Markt diktierte unmittelbar.

Für einen Moment spürte Katharina starke Irritation und Unbehagen. Doch durfte sie als aufgeklärte, sich aufgeschlossen empfindende Akademikerin überhaupt so empfinden? Noch dazu, wo in diesem Zeitalter globaler Völkerwanderung jeder zunehmend wie auf der Durchreise wirkte. Vielleicht war sie engstirnig, überlegte sie, während sie die beiden Mädchen verstohlen aus dem Augenwinkel beobachtete. Sie wirkten wie zwei miteinander schnatternde, mit dem üblichen oberflächlichen Kram beschäftigte junge Frauen.

Die eigentliche Frage war, ob der Hijab der beiden jungen Frauen nur ein Ausdruck kultureller Diversität und ihres Schamgefühls oder politische Kampfansage war.

Für sie selbst war das Kopftuch eine ferne Erinnerung der Kindheit und vorwiegend auf den Herbst und das Frühjahr bezogen, wenn es für die warmen Wollmützen des Winters noch oder bereits schon wieder etwas zu warm war, aber eine vorsorgliche Mutter Schutz vor Wind und Kühle verordnet hatte. Im Kirchgang mit älteren weiblichen Verwandten in der kleinen niederösterreichischen Dorfgemeinschaft der Familie ihres Vaters war es auch aufgetaucht, zuverlässig, zumeist schwarz und manchmal mit Spitze an den Rändern, als moralische Forderung des Anstands und Respekts, vor allem bei den langen Litaneien der Rosenkranzgebete an späten Sommernachmittagen.

Katharina seufzte bei sich. Wie schön wäre eine Welt, in der das Kopftuch dieser beiden genauso wie das Dirndl ihrer fernen Kindertage, mit dem sie sich bei Kirtagen so unwahrscheinlich zugehörig zur Dorfjugend gefühlt hatte, einfach Ausdruck der Fülle menschlicher kultureller Diversität wäre. Die Blicke der Burschen auf ihre sprießenden Brüste im Ausschnitt der weißen Spitzenbluse hatte sie genossen. Wie schön wäre es, wenn die hinter der Stirn sitzenden Überzeugungen zuverlässig von offenem Sinn und unvoreingenommener Begegnung getragen wären.

Noch ehe Katharina ihren Überlegungen weiter nachgehen konnte, wurde sie vom plötzlich grell leuchtenden Schirm ihres Handys abgelenkt. Zumindest schien es ihr so, als ob der Schirm gerade besonders hell leuchtete, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Es war er. Nachdem sie das Gerät an sich genommen hatte, hob sie sogleich und ohne Zögern ab. Sie fühlte sich vollkommen ruhig, neutral und ein wenig kalt dabei.

Er kam sofort zur Sache. Hielt sich nicht auf. Seine Stimme klang gedrängt, so als müsse er rasch reden, weil er fürchte, dass ihn der Mut verlassen könnte: „Ich bin damals nicht gekommen, als du im Spital gelegen bist“, stellte er fest. Daraufhin schwieg er.

Sie hielt das Schweigen aus, atmete tief und war entschlossen, ihm nicht entgegenzugehen. Nein, das wäre nicht richtig, nicht angemessen, sondern Teil des alten Spiels.

„Bist du da?“, fragte er nach. Vielleicht war er auch irritiert, dass sie so klar und abgegrenzt reagierte, er einfach nicht landen konnte. Jetzt musste er raus mit der Wahrheit und dem Grund seines Anrufs, oder es war in dieser Sekunde vorbei. „Ich habe nicht kommen können“, eröffnete er seine Rede.

Katharina schwieg noch immer. „Es hat kurz nach unserem letzten Telefonat begonnen und mich nach unserem SMS-Verkehr total erfasst“, versuchte er zu erklären. „Ich bin in eine Psychose gerutscht, hat mein Psychiater gemeint. Ich war wie gelähmt, völlig fertig. Es war ein kompletter Zusammenbruch. Wahnsinnige Angst und Unruhe. Ich konnte überhaupt nicht mehr schlafen, nichts mehr tun, war völlig außer mir, voll mit Zwangsgedanken. Mein Psychiater hat mich mit Medikamenten abgefüllt. Ich bin auch jetzt noch total drauf“, endete er.

An dieser Stelle wäre es für Katharina ein Leichtes gewesen, mit bedauernder Unverbindlichkeit zu reagieren, um im weiteren Leben diesen Mann zu meiden: Stefan, dessen größte Wahrscheinlichkeit im Bereich eines neuerlichen Manövers, aber ganz sicher nicht in einer mutigen Revision seiner gesamten gelebten Existenz lag.

„Was nimmst du?“, fragte sie stattdessen, was ihr völlig unpassend, aber gleichzeitig durch ihren ärztlichen Status genügend legitimiert vorkam. Er spulte eine namhafte Liste von Psychopharmaka herunter. Die lagen als ein Haufen bunter Murmeln, wie für ein Kinderspiel gerichtet, zwischen ihnen. Es ging ihm augenscheinlich wirklich schlecht.

„Und“, sagte Katharina dann und war sich nicht sicher, ob ihr Ton fragend oder aufmunternd gemeint war.

„Es geht mir total beschissen, war schon wieder tagelang nicht in der Kanzlei. Die Angst, diese Panikanfälle bringen mich um. Pure Existenzangst, und dabei dieser unsägliche, vollkommen irrationale Schmerz, der mich zerreißt, wie plötzliche Krampfanfälle. Und ich schaffe es derzeit praktisch nicht, allein sein zu können.“ Er hielt kurz inne.

Das also war der Grund für Stefans Fernbleiben gewesen. Eine plötzlich aufschießende und seine gesamte Lebensbühne machtvoll einnehmende psychotische Episode. Er war sich selbst und seiner Kontrolle völlig entglitten und von der Macht seines Unbewussten überfallen worden. Sein Mangel an Einklang, mit sich selbst zu leben, war aufgebrochen. Die klaffende Differenz zwischen der Tiefe seiner Gefühlswelt und seiner als äußere Haltung gelebten Abwehr durch Oberflächlichkeit hatte sich durch nächtliche Traumbilder und psychosomatische Symptome den Weg bis an die Oberfläche seines Lebensalltags gebahnt.

„Eine psychotische Episode unter laufender Psychotherapie?“, fragte sie vorsichtig nach.

Er verstand es als Kritik und versuchte zu erklären: „Wir haben sehr intensiv gearbeitet. Es ist mir deutlich geworden, dass diese Angstzustände immer schon mein Leben bestimmt haben. Alles was ich unternommen habe, war stets davon gelenkt, die Angstgefühle zurückdrängen zu wollen. Mein ganzes Leben wurde von purer Angst geschrieben. Auch wenn ich es nicht hätte benennen können, in sämtlichen Entscheidungen hat sie Regie geführt. Ich bin mein Leben lang eine Marionette der Angst gewesen. Ich hätte eine andere Biografie schreiben können.“

Und er hätte sie verdient. Mit seiner Empfindungsstärke und seinen Fähigkeiten hätte er ein lustvoll schaffendes Sein mit ruhigem Stolz entwickeln können, statt so, wie sie ihn erlebt hatte, als lächerlicher promiskuitiver Clown auf hoher professioneller und gesellschaftlicher Ebene umherzutanzen, fand Katharina. Doch sie sagte nichts dazu.

„Die Trennung von dieser Frau war zu viel für mich, obwohl es mich umgebracht hätte, jene Beziehung weiter zu leben.“ Damit schien er am Ende seiner Analyse angekommen zu sein, setzte jedoch in scherzendem Ton noch nach: „Vielleicht ist ja alles auch nur einfache Chemie, eine falsche Neurotransmittereinstellung in meinem Hirn von Beginn an, irgendein Defekt an den Synapsen und die Botenstoffe treiben mich in den Wahnsinn.“

„Ob du dich mit einer biologistisch deterministischen Erklärung abfinden willst, musst du mit dir abmachen“, versetzte Katharina unerwartet schroff.

Dass alle Emotion und jedes Fühlen auf kleine Transmittermoleküle und deren Regulierung festgemacht wurden, war zwar neuerdings der letzte Schrei. Dies fügte sich bei näherem Hinsehen ganz hervorragend in die Erkenntnisparadigmen der modernen Gesellschaftslandschaft ein, doch es ging Katharina gänzlich gegen den Strich. Wenn man sich diesem Gedankengebäude überließ, betrat man den Weg der totalen Entmündigung.

„Vielleicht setzt du hier Ursache und Wirkung in die falsche Reihenfolge“, setzte sie nach. „Natürlich ist in letzter Konsequenz alles Chemie, doch vielleicht ist diese Chemie die Folge der Lebensweise und der Art des Denkens und es ist besser, dort anzusetzen, um auch die Chemie zu verbessern.“

Stefan erwiderte nichts. Natürlich gab es zu diesem Thema vieles zu diskutieren. Katharina war klar, dass dem Thema, das nun auch als Neuropsychoanalyse bis in die letzte Bastion humanistischer Philosophie vorgedrungen war, differenzierte Betrachtung geschuldet war. Doch sie hatte hier schludrig hinwerfen und damit klarstellen wollen, dass sie Feigheit nicht mehr verzeihen würde.

Er schwieg etwas. Sie auch. Die Pause fühlte sich richtig an.

Die beiden Mädchen im Hijab waren in der Zwischenzeit verschwunden. Katharina saß noch immer auf der Bank im Umkleideraum, betrachtete die zwei übereinandergestapelten Reihen von Kästchen mit ihrer künstlichen braunen Holzmaserung und der Nummerierung rund um sich. Sie begann sich zu fragen, wohin dieses seltsame Gespräch führen sollte. Was wollte er?

„Ich möchte, dass wir uns wieder treffen“, nahm Stefan den Faden jetzt wieder auf, da ihm augenscheinlich bewusst geworden war, dass Katharina nichts sagen würde. „Ich wollte, dass du weißt, warum ich mich nicht gemeldet habe. Wir schwingen sehr ähnlich. Ich hoffe, dass die Pillen und die Therapie endlich greifen und es mir bald wieder bessergeht. Dann will ich dich sehen.“

„Jetzt“, sagte Katharina nur, „ich komme jetzt zu dir.“

Er versuchte milde Gegenwehr, dass er nicht respektabel, völlig runtergekommen und unrasiert sei und überhaupt nur ein Häufchen Elend.

„Jetzt“, hörte sie sich nochmals wiederholen, und ihre Stimme war dabei ganz ruhig und gleichmütig. Sie fühlte sich tatsächlich so – ruhig und gleichmütig.

Wenn er nun mit Nachdruck ablehnen würde, so wäre hier das Ende, und es fühlte sich richtig und beruhigend an, denn dann war ihrer beider Lebensfaden aus zu unterschiedlichem Gewebe gesponnen, um sich sinnvoll miteinander verweben zu können. Sein Name würde endgültig in die Kartei derer, die sie einmal gekannt hatte, abgelegt werden.

Sie spürten es beide, dass es ein entscheidender Moment war, und wenige Minuten später war sie auf dem Weg zu ihrem Wagen in die Garage. Auf der Straße begegnete ihr ein sichtlich verrückter Mann. In der fahrigen, etwas marionettenhaft wirkenden ausgreifenden Art, die für den Durchschnittsmenschen ein erstes Warnsignal zur Meidung von Kontakt bedeutet, bewegte er sich durch die Fußgängerzone. Immer wieder schrie er laut zwei Sätze: „Wo ist der Mann, der die Eier hat, sich aus dem dritten Stock zu stürzen? Ich bin es auch nicht, obwohl ich harte Eier habe!“

Er schien seine Umgebung gar nicht wahrzunehmen, war ganz auf sich selbst und diese Endlosschleife fixiert. Das wirkte skurril, irgendwie lächerlich, aber auch bedrängend, dass nur ein Mangel an Mut die implizit als sinnvoll geforderte Selbsttötung aufhalten konnte.

Als er auf ihrer Höhe war, drehte er sich plötzlich zu ihr, so als würde er aufwachen, um ihr denselben Text ins Gesicht zu schreien. Katharina erschrak. Auch wenn er danach sofort weiterrannte und keinerlei Anstalt machte, Weiteres von ihr zu wollen, fühlte sie sich für einen kurzen Moment bedrängt und in seine Welt hineingezogen.

In diesen Augen war kein Erkennen mehr zu sehen gewesen. Sein Blick hing in den Bildern seines Inneren fest, das Außen war nur ein schemenhafter Rahmen, an dessen Rändern er sich stieß. Das äußerste Ende eines verwirrten Geistes und tatsächlich eine Frage der Neurochemie und vielleicht auch hirnorganischer Prozesse, unbehandelbar ohne Psychopharmaka, wenn überhaupt.

Katharina warf ihre Sporttasche auf den Rücksitz und ließ den Motor an. Es war nicht weit zu Stefan und in wenigen Minuten würde sie ihn nach mehr als drei Jahren wiedersehen. Sie fühlte keine Aufregung mehr. Es war gut, dass sie einander nicht schon vor zwei Monaten getroffen hatten. Jetzt war sie wirklich vollkommen ruhig.

Nie hätte sie ihn früher einfach so getroffen. Ihr Haar war noch zum Sport in einem etwas wirren Knoten hochgesteckt, die Make-up-Reste des Tages sicher bereits verronnen. Einen Lippenstift wollte sie jetzt nicht extra auftragen. Das hätte in Bezug auf das Gesamtbild ihrer etwas nachlässigen, abendlichen Freizeiterscheinung anachronistisch gewirkt, meinte sie.

Das einzige Zugeständnis, das sie sich machte, war ihr Parfum. Sorgfältig hüllte sie sich in ihren Duft ein, nachdem sie vor seinem Haus in der Innenstadt geparkt hatte.

Das Summen der Gegensprechanlage klang unpersönlich und Katharina fand es in der Tonlage abweisend, doch das silberne Tor, das sie immer an einen Seiteneingang zu einem Tresorraum erinnert hatte, öffnete sich sogleich.

Der enge Lift, der diesem ehrwürdigen Gründerzeithaus mit seinen hohen Stockwerken in seinem inneren Kern eingepflanzt worden war, brauchte einige Zeit, bis er das oberste Dachgeschoß erreichte.

Wie in vielen Häusern einer alten repräsentativen Architektur hatte man auch ihm gleichsam die Schädeldecke eröffnet und zwei modern ausgebaute Dachgeschoße mit Terrasse aufgesetzt. Diese war besonders schön. Katharina war einmal oben gewesen und erinnerte sich an die Rundumsicht über die ganze Stadt.

Sie hatte gedacht, dass es sich intim anfühlen müsste, wenn sie dort oben miteinander geschlafen hätten, den Blick auf den Nachthimmel geheftet, als könnte man die Vorgegebenheit der Stadt ausblenden und selbst entscheiden, wo man gerade sei. Sie hätten sich überallhin spüren können. Es war nie dazu gekommen.

Der Lift bremste ab und hielt. Der Blick in den Spiegel, der die obere Hälfte einer Wand der metallverkleideten Kabine einnahm, bestätigte ihr, dass sie gerade sehr naturbelassen aussah. Das Neonlicht war grausam. Aber es war ihr egal. Es gab nur den Weg vorwärts und sie hatte ganz sicher nicht vor, mit einer zwischenzeitlich wahrscheinlich wenigstens Achtunddreißigjährigen zu konkurrieren.

Die ebenfalls silberne Eingangstür war nur angelehnt. Als Katharina eintrat, fiel ihr auf, dass eine andere Frau mittleren Alters ebenfalls da war. Sie hatte jene etwas hängenden, wässrigen Unterlider, die für diese unterwürfigen katholischen Miezen so charakteristisch waren. Das irritierte Katharina für einen Moment. Doch er hatte ja gesagt, dass er es derzeit nicht schaffe, allein zu sein. Wahrscheinlich eine aus seinem Fundus von markierten, hoffnungsvollen weiblichen Wesen, die an der grausamen Fliegenfalle seines Charmes klebten. Jetzt gab sie den aufopfernden Schäferhund.

Stefan kam ihr entgegen. Das Erste, was sie bemerkte, war, wie dünn er aussah. Er wirkte ausgezehrt, so als wäre er in einer der pendelnden Bewegungen seines Gewichts zwischen asketischem Fasten und grenzenlosem Verschlingen im anorektischen Ast hängen geblieben.

Stefan war tatsächlich unrasiert, in einer dennoch erotisch anmutenden Art vernachlässigt und hob in einer kurzen Andeutung ein wenig Arme und Schultern, als fühle er sich peinlich berührt, ihr so entgegenzutreten und wolle sich entschuldigen.

„Ich habe dich gewarnt“, sagte er nur. Sie fühlte die Resonanz seiner Stimme in ihrem Brustkorb und tief in ihrem Inneren. Daraufhin umarmten sie einander, standen lange so. Es gab nicht viel zu reden und sie endeten auf seiner Couch, die neu war, wie auch ein fader weißer Wandverbau in jenem Bereich, der als Wohnraum diente. Katharina dachte sich, dass dies wohl auf das organisierende Wirken der Achtunddreißigjährigen zurückgehen musste, die ihren Überblick und Anspruch in nestbauender Absicht in sein Leben eingebracht hatte. In banaler Art fühlte sie Befriedigung über die lieblose Stillosigkeit, in die er gerade noch seine bunt schillernden Seidenkissen hatte hinüberretten können.

Stefan lehnte sich an Katharina, hatte seinen Kopf auf ihre Brust gebettet, wie ein Kind. Sie umfing ihn mit beiden Armen und war einfach da. Die Nähe zwischen ihnen und das Fühlen des Körpers des anderen erzählte ihnen alles und sie verharrten lange so. Es war einfach richtig, ohne Anspruch, ganz im Jetzt, und das, was gebraucht wurde.

Später würde er ihr einmal sagen, dass sie gekommen war und die Regie der ganzen Szene übernommen hatte, so als würden da keine drei Jahre zwischen ihnen liegen, ganz selbstverständlich und ohne Zaudern. Sie streichelte ihn dazwischen, so wie man ein verwirrtes Kind liebkost, das nachts in einem Albtraum gefangen ist, um ihm zu vermitteln, dass es eine andere Welt gibt, in der es sich sicher und geliebt wiederfinden kann. Und auch sie fand in dieser seltsamen Umarmung ein Ankommen.

Viel später, als er ganz entspannt und müde war und glaubte, nun Ruhe zu finden, ging sie. Er stieg die Treppe hinauf zu seinem Schlafzimmer. Die Schäferhündin, die sie die ganze Zeit über vergessen hatte, begleitete sie noch zur Tür.

Liebesglück

Подняться наверх