Читать книгу In schwindelerregender Gesellschaft - Prof. Dr. Thomas Beschorner - Страница 5
ОглавлениеEinleitung – In schwindelerregender Gesellschaft
Nein, Ihr Auge spielt Ihnen keinen Streich. Es handelt sich bei diesem Textbild auch nicht um einen Produktionsfehler. Die Gesellschaft ist schwindelerregend geworden. Sie präsentiert sich in schrägen Formen und mit systematischen Schieflagen. Wir scheinen den Gleichgewichtssinn verloren zu haben.
Ganz schön schräg
Ließe man die Geschichte der Menschheit mit dem dicken Pinsel aufzeichnen, so könnten in den Extremen zwei Erzählungen entstehen: Optimisten würden eine Erfolgsgeschichte schreiben, schließlich wurden in weiten Teilen der Welt freiheitlich-demokratische Gesellschaften realisiert und wurde damit eine beachtliche Anzahl moralischer Errungenschaften hervorgebracht. Pessimisten hingegen würden wohl viel von anhaltenden Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten oder der Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen, besonders in den vergangenen gut 200 Jahren, berichten. In diesem Buch wird es nicht um das große Bild der Menschheitsgeschichte gehen, sondern um ein bescheideneres Vorhaben, nämlich Zeitdiagnosen zur Gegenwart und auch zur Zukunft unserer Gesellschaft anzubieten.
Ob man nun Optimist oder Pessimist ist, man liegt sicherlich nicht falsch, wenn man zu der Einschätzung gelangt, dass unsere derzeitige Gesellschaft irgendwie aus den Fugen geraten ist. Der Fugenkitt der Gesellschaft wird porös und kann deshalb nicht mehr alles stabil zusammenhalten. Einstürzende Neubauten? Oder auch Altbauten? Das weiß derzeit niemand, denn wir sind ja mittendrin in einem Prozess der gesellschaftlichen Veränderung, und dieses »Mittendrin« betrifft natürlich auch die Beobachter. Heute das Heute verstehen zu wollen steht stets unter dem Vorbehalt, einen notwendigen Abstand nicht haben zu können – niemand, niemals. Erst in der Zukunft, wenn die Gegenwart zur Vergangenheit geworden ist, können wir die Dinge klarer sehen. Dann jedoch könnten alarmierende Entwicklungen stattgefunden haben, die schwierig zu korrigieren oder gar irreversibel sind.
Was man jedoch trotz dieser (auch selbstkritischen) Auffassung zu Versuchen von Zeitdiagnosen wenigstens feststellen kann (und auch die größten Fortschrittsoptimisten einräumen müssten): Es rumort gehörig in der modernen Gesellschaft. Sowohl die Ausdrucksformen als auch die Gründe dafür sind mannigfaltig – und ganz schön schräg.
Die Wirtschaft steckt spätestens seit der Finanzkrise 2008 in einer Legitimationskrise. Liberale Demokratien werden von außen durch Terrorismus und autoritative Gesellschaftssysteme sowie von innen durch Populismen unterschiedlicher Art bedroht. Rechte Bewegungen in Europa oder die neuen Formen des politischen Populismus insgesamt stellen mehr oder weniger offen rechtsstaatliche Prinzipien, demokratische Grundlagen und die liberale Idee infrage; den Medien, Intellektuellen und Wissenschaftlern wird nicht mehr vertraut; offene Wertkonflikte in der Mitte der Gesellschaft drohen zu eskalieren; Entwicklungen im Bereich der Digitalisierung führen zu Unsicherheit und Zukunftsangst, aus denen wiederum im Wortsinn fantastische Erzählungen ausfließen können.
Schwindel im sozialen Raum
Der Begriff des »Schwindels« erscheint mir als Metapher für die Umschreibung aktueller Entwicklungen gut geeignet: Die Gesellschaft ist in der zweifachen Bedeutung des Wortes, wie ich meine, »schwindelerregend« geworden: Sie erzeugt Schwindelgefühle und macht wackelige Knie im Sinne von psychologischer, sozialer und gesamtgesellschaftlicher Verunsicherung. Die Gesellschaft ist unübersichtlich geworden. Man kommt nicht mehr so recht mit, manchmal auch nicht mehr hinterher. Die moderne Welt hat Gleichgewichtsstörungen.
Damit lockt die Gesellschaft Schwindler an, die mit einfachen Antworten aufwarten, ausgedachte Geschichten ohne einen Bezug auf Fakten oder wissenschaftliche Befunde erzählen, ja sogar die Geschichte neu zu schreiben versuchen. Sie zweifeln Berichterstattungen in den Medien ebenso an wie wissenschaftliche Studien, wenn deren Befunde nicht in ihr entsprechendes Weltbild passen. Von »Fake« wird dann neudeutsch gesprochen und davon, dass es ohnehin keine Deutungshoheit gebe, meint: Es gibt Fakten, aber auch alternative Fakten. Wahrheit wird zur Verhandlungssache. Verschwörungstheorien haben Hochkonjunktur.
Werfen wir einen kurzen Blick zum Begriff des Schwindels in ein Standardlexikon, so heißt es beispielsweise im Brockhaus, dass es sich um eine »subjektive Störung der Raumorientierung des Körpers, meist bedingt durch fehlende Koordination beziehungsweise Meldungen aus den Gleichgewichtsorganen« handelt.1 Gemeint ist hier also das körperliche Symptom »Schwindel« als physisch erlebbares Taumelgefühl, auch »Vertigo« genannt.
Der Wortursprung von Schwindel liegt in der Tat im Ausdruck für ein Körpergefühl, wie das althochdeutsche Wort »swintilōn« (in Ohnmacht fallen, Schwindel empfinden), etwa seit dem achten Jahrhundert gebraucht, verrät. Seit dem späten 18. Jahrhundert, so informieren die Einträge im Grimm’schen Wörterbuch in der Ausgabe aus dem Jahr 1898, findet sich jedoch eine Bedeutungserweiterung des Begriffs »Schwindel«. So ist dort die Rede von »behauptung, meinung u. ähnl., die nicht genügend fundiert, leichtfertig, irrig oder erlogen ist« oder »einen unbesonnenen, unsoliden handel bezeichnet, meist als ausdruck moralischer verurtheilung«.2 Diese Bedeutung des Wortes sollte etwas später auch im Englischen als »swindle« eine Begriffskarriere machen.
Und auch Bezüge zur Wirtschaft, die im Folgenden eine wichtige Rolle spielen, finden sich bereits Ende des 18. Jahrhunderts, wenn formuliert wird: »so besonders kaufmännisch von einem unreellen geschäfte, nahezu soviel wie betrug: ›der schwindel in der handlung, welcher den marchand avanturier ausmacht‹«.3 Die Begriffsgeschichte hat sich damit, wenn man so will, erweitert: In einer komplexer werdenden Gesellschaft haben wir Probleme, uns im »sozialen Raum« zu orientieren und mit anderen zu koordinieren, weil die »gesellschaftlichen Gleichgewichtsorgane« ambivalente, widersprüchliche und mitunter schlicht falsche »Meldungen« aussenden.
»Wer von euch hat noch nie gelogen?«, fragte ich kürzlich Dritt- bis Sechstklässler im Rahmen einer Veranstaltung der Kinderuniversität an meiner Hochschule. Kein einziger Finger ging hoch. Wir alle lügen hin und wieder, ob aus Not oder Höflichkeit oder anderen »legitimen« Gründen. Ich habe hier auch gerade gelogen, denn die Frage habe ich nie gestellt. Mir geht es in diesem Buch offensichtlich nicht um diese Art des Schwindels. Es geht mir auch nicht um vordergründige Hochstapler, nicht um Leugner eines durch den Menschen verursachten Klimawandels oder um irgendwelche wilden Verschwörungstheorien. Ich meine vielmehr, dass »Schwindel« in seiner zweifachen und zusammenhängenden Bedeutung in unserer Gesellschaft subtiler und präsenter ist als dem ersten Anschein nach vermutet.
Es gibt den Schwindel in direkter und plumper Form. Wenn Volkswagen beispielsweise Testverfahren zur Feststellung der Abgasemissionen manipuliert, so muss man nicht lange um den heißen Brei herumreden. Das ist Betrug. Donald Trump hat, wie die Washington Post fortlaufend dokumentiert, während seiner Amtszeit als Präsident schon über 10 000 Unwahrheiten verbreitet (Stand: Juni 2019).4 Auch das sind offensichtliche Lügen, die mit einer gewissen Dickfelligkeit in die Welt gesetzt werden.
Der Schwindel kommt jedoch gern in raffinierter Verkleidung daher, hinter der sich soziale und gesellschaftliche Tiefenstrukturen verbergen, wie wir im Folgenden noch sehen werden. Diese Camouflage bedient sich bestimmter Erzählweisen, Erzählformen und Begriffe, um den Schwindel zu verschleiern. Es sind besonders Geschichten und Narrative, die in der modernen Gesellschaft wichtiger werden, um Ideen zu erfinden und Ideologien zu verbreiten. Sie dienen einerseits einem gesellschaftlichen Verständigungsprozess, denn über sprachliche Kommunikation tauschen wir uns darüber aus, wer wir als (und in einer) Gesellschaft sind oder sein sollten. Erzählungen über die Gesellschaft sind zugleich jedoch auch stets ein Ringen um Deutungshoheit auf unübersichtlichen und schwindelerregenden Terrains, auf denen soziale, politische und ökonomische Interessen verhandelt werden. Dies gilt übrigens unabhängig von der politischen Couleur, von ganz links bis ganz rechts (soweit man an diesem Schema überhaupt noch festhalten will) oder auch sozial gesehen von oben bis unten.
Handhabungen im Kapitalismus
Die Organisation unseres Wirtschaftens als Marktwirtschaft, die später zum Kapitalismus mutieren sollte, hat die moderne Gesellschaft wie keine andere »Erfindung« geprägt. Die Metapher der »unsichtbaren Hand« des schottischen Moralphilosophen Adam Smith bringt eine einfache Idee zum Ausdruck: Das Wirtschaften moderner Gesellschaften sollte über Marktwirtschaften organisiert werden, in denen der Einzelne sein Selbstinteresse verfolgt. Der Tausch von Gütern und Dienstleistungen zwischen verschiedenen Vertragspartnern sowie das Zusammenspiel zwischen Angebot und Nachfrage sorgen sodann für günstige Preise durch die »unsichtbare Hand« des Marktes und einen größtmöglichen »Wohlstand der Nation« (so der Titel des Smith’schen Hauptwerkes aus dem Jahr 1776).
Das kapitalistische System der »unsichtbaren Hand« von Adam Smith gibt es, und die Relevanz marktwirtschaftlicher Mechanismen sollte – im Guten wie im Schlechten – nicht unterschätzt werden. Kapitalismus ist jedoch kein »Geist«, der freizügig und determinierend durch die Geschichte und die Geschicke unserer Gesellschaft spukt. Nein, Kapitalismus wird auch gemacht! Es gibt sehr konkrete »Hände«, die interessengeleitet bestimmte Gesellschaftsformen nach ihren Vorstellungen durchsetzen (wollen) und einen Prozess der Einflussnahme hochprofessionell handhaben. Dies betrifft nicht nur ein vordergründiges Lobbying von ökonomischen Akteuren in den Hinterzimmern der Politik, sondern auch ein raffiniertes »Ideologie-Management« – besonders über Narrative.
Am 23. August 1971 schrieb Lewis F. Powell, ein wirtschaftsliberales Mitglied des US Supreme Court, eine Nachricht an seinen Freund Eugene Sydnor Jr., seinerzeit Direktor der US-amerikanischen Handelskammer. In diesem »geheimen Memorandum« zum »Angriff auf das amerikanische System freier Unternehmen« warnt er die Verantwortlichen der Handelskammer vor »Communists, New Leftists and other revolutionaries who would destroy the entire system, both political and economic. These extremists of the left are far more numerous, better financed, and increasingly are more welcomed and encouraged by other elements of society, than ever before in our history.« 5
Es müssten, so Powell weiter, konkrete Maßnahmen zur Abwendung des »ideologischen Kriegs gegen westliche Gesellschaften« ergriffen werden, wozu eine wirtschaftsliberale Medienpräsenz (in Fernsehen, Radio, akademischen Zeitschriften, Büchern usw.) ebenso zählen sollte wie die neoliberale Einflussnahme auf Forschung und Bildung (zum Beispiel akademische Mitarbeiter und Professoren sowie auf Schulen und Universitäten insgesamt). Und im Besonderen gelte es, ein positives Image des Kapitalismus zu erzeugen (institutional image making), wofür große Anstrengungen – finanzieller, organisatorischer und intellektueller Art – erforderlich seien. Powell regt unter anderem an, Unternehmen sollten zehn Prozent ihres jährlichen Marketingbudgets in entsprechende Initiativen investieren.
Wir wissen nicht, welchen konkreten Einfluss dieses Dokument auf die Geschichte hatte. Lewis F. Powell dürften bestimmte Entwicklungen jedoch erfreut haben, denn ab den 1970er-Jahren gründeten und formierten sich in den USA die neuen Handlanger des Kapitalismus: Thinktanks. Hervorzuheben ist hier die Einrichtung der bis heute sehr einflussreichen neoliberalen Heritage Foundation im Jahr 1973, die nur wenige Jahre nach ihrer Gründung eines der wohl bedeutendsten Dokumente der modernen Wirtschaftspolitik verfasst hat: Der Bericht Mandate for Leadership (1981) umfasst insgesamt circa 2000 politische Maßnahmen, die auf über 3000 Seiten ausgeführt werden. Unter der Präsidentschaft von Ronald Reagan wurden im ersten Jahr seiner Amtszeit bereits 60 Prozent der Vorschläge realisiert.
Das, was wir heute Kapitalismus nennen, ist nicht nur eine spezifische ökonomische Organisation des Handels und der Produktion in der Sphäre der Wirtschaft. Er betrifft nicht nur wirtschaftliche Transaktionen in einem engeren Sinne. Kapitalismus ist ein umfassenderes Gesellschaftssystem, denn die ökonomische Logik hat Einzug in fast alle Lebensbereiche gehalten und prägt durch Kosten-Nutzen-Kalküle und ökonomisches Optimierungsdenken unsere soziale Welt – eben auch und verstärkt außerhalb der Sphäre der Wirtschaft. Ob im Bildungs-, im Wissenschafts- oder im politischen System, die ökonomische »Logik« definiert den Handlungsraum von Menschen (maßgeblich mit). Die »Währungen« dieser Logik sind nicht immer Geld: Im Bildungssystem sind es Zertifikate, Diplome und credit points für Studierende, im Wissenschaftssystem A-Journal-Publikationen und das Einwerben von Drittmitteln, im politischen System Presseclippings und Wählerstimmen. Mitunter schließt sich an eine erfolgreiche Bedienung dieser Anerkennungssysteme eine Monetisierung der spezifischen Leistungen an.
Jürgen Habermas nannte die Landnahme der Gesellschaft durch die ökonomische Rationalität einmal treffend die »Kolonialisierung der Lebenswelt«. Die Entwicklung spiegelt sich in einer Vielzahl von lebensweltlichen Metaphern und Redewendungen wider: Wir sollten mehr »Zeit investieren«, in das Familienleben zum Beispiel. Bei Vorstellungsgesprächen sollte der Bewerber den USP (unique selling point) herausstellen, um als künftiges »Humankapital« in dem Unternehmen tätig zu sein. Der eigene Nachwuchs kann bei »Samenbanken« bestellt werden, Profisportler werden auf »Transfermärkten« gehandelt, und die nächste große Liebe findet man auf einer »Partnerbörse«. Belassen wir es vielleicht bei diesen Beispielen, denn »Zeit ist Geld« und »Reden ist Silber und Schweigen ist Gold«.
Wenn es stimmt, dass der Kapitalismus moderne Gesellschaften in massiver Weise prägt und wir es ebenso als zutreffend betrachten, dass die ökonomische Logik in vielfältige Lebensbereiche und gesellschaftliche Wertsphären außerhalb der Ökonomie eingeflossen ist und dort maßgeblich Wirkungen entfaltet, so müssen für eine Gesellschaftsdiagnose diese ökonomisch-gesellschaftlichen Verflechtungen in den Blick genommen werden.
Blick auf eine schwindelerregende Gesellschaft
Von Johann Wolfgang von Goethe ist überliefert, dass er an Höhenschwindel litt und während seiner Studienzeit in Straßburg (1770) regelmäßig auf den Turm des Münsters stieg (seinerzeit der weltgrößte Kirchturm). Nach eigenen Berichten hat ihm das, was Therapeuten heute eine »systematische Desensibilisierung« oder »Angst-Konfrontationsmethode« nennen würden, geholfen, seine Schwindelgefühle zu überwinden.6 Womöglich hat der Ausblick vom hohen Kirchturm auch seine Sicht auf eine sich verändernde Gesellschaft inspiriert, also den Umbruch von einer feudalen zur bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, den er besonders in Wilhelm Meisters Lehrjahre und Faust II zum Thema machte.
Mit einem Umbruch haben wir es auch in der heutigen Gesellschaft zu tun, gleichwohl in einer ganz anderen und deutlich komplexeren Art und Weise. Um Entwicklungen in unserer schwindelerregenden Gesellschaft besser zu verstehen, wird auch hier der »Blick von oben« eingenommen – »von oben drauf«, nicht »von oben herab«, wohlgemerkt.
Die in dieser Einleitung für den Anfang gesponnenen Fäden sind in den nun folgenden Texten aufgenommen und – so die Absicht – zu einem Gewebe verknüpft, das das Muster der schwindelerregenden Gesellschaft erkennbar machen soll. Die hierzu versammelten Texte basieren weitestgehend auf Debattenbeiträgen, die ich in den letzten Jahren (teilweise gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen) insbesondere bei der Zeit, bei Zeit Online, Spiegel Online und in der Neuen Zürcher Zeitung publiziert habe. Sie umreißen ausgewählte Facetten eines gesellschaftlichen Umbruchs, in dem wir uns aktuell befinden und der in weiten Teilen durchaus Anlass zur Besorgnis gibt. Es geht mir mit diesem Buch einerseits darum, einen Beitrag zu einem besseren Verständnis unserer Gesellschaft zu leisten. Die für diesen Zweck behandelten Themen decken dabei bewusst ein durchaus breiteres inhaltliches Spektrum ab. So werden gesellschaftspolitische und ökonomische Zusammenhänge ebenso angesprochen wie die Rolle der Medien und des Journalismus, bildungspolitische Aspekte ebenso thematisiert wie das Wissenschaftssystem, Themen der Digitalisierung und der Robotik ebenso behandelt wie Fragen der Ethik. Andererseits will ich mich in meinen Ausführungen nicht damit begnügen, lediglich eine Gesellschaftsdiagnose anzufertigen. Auch wenn mit den folgenden Texten mehr Fragen aufgeworfen werden als Antworten gegeben werden können, will ich hin und wieder durchaus auch konkrete Hinweise und Orientierungen formulieren, verbunden mit der Hoffnung, einige praktische Impulse für eine bessere Gesellschaft setzen zu können.
Ich beginne im ersten Teil des Buches damit, die unübersichtlicher und fragmentierter werdende Gesellschaft zu charakterisieren, die an einer Schwelle steht, an der es die alte Welt nicht mehr gibt und die neue noch nicht da ist. Diese sogenannte liminale Periode des »Dazwischen« sorgt für individuelle wie gesellschaftliche Unsicherheiten im sozialen Raum, wodurch die Gesellschaft anfällig wird für betrügerische Schwindeleien, die wiederum neue Unsicherheiten stimulieren – ein Teufelskreis. Die Gründe dafür sehe ich unter anderem in der Herausbildung eines »neuen Ichs«, das sich als etwas Einzigartiges, etwas Besonderes versteht. Das neue Ich will sich erleben – im Konsum, bei der Arbeit, in Partnerschaften, in der Sexualität, im Politischen, ja in allen Lebensbereichen. Die gesellschaftlichen Institutionen sind jedoch auf die Emotionen, das expressive Handeln und die Kritik des neuen Ichs an der bestehenden Ordnung nur ungenügend vorbereitet. Dies zeigt sich unter anderem im Politischen, wo dringend über neue Formen der gesellschaftlichen Teilhabe und der Partizipation nachgedacht werden sollte, will man nicht im Zustand des politischen Dauerflashmobs enden. Dass die Gesellschaft aus den Fugen ist, zeigt sich auch in der politischen Gemengelage und den Veränderungen in der Parteienlandschaft, was die großen Volksparteien besonders hart trifft. Der Niedergang der Sozialdemokraten in Deutschland, so will ich zeigen, ist dafür eine Illustration und ein schmerzliches Beispiel. Der Partei fehlen die Heldengeschichten, inzwischen hat sie praktisch keine (guten) Geschichten mehr zu erzählen.
Unter dem Titel »Abgründe und Gratwanderungen« versammelt der zweite Teil des Buches neun Texte zu verschiedenen Facetten der Ökonomie. Es gibt, wie ich meine, systemische Gründe dafür, weshalb die Wirtschaft und die Wirtschaftswissenschaften »Schwierigkeiten mit der Moral« haben. Sie liegen ideengeschichtlich im Konzept eines »halbierten Liberalismus« und einer mitunter zu großen ideologischen »Liebe zum Markt«. In praktischer Hinsicht komme ich – vor dem Hintergrund der Abgasmanipulationen durch Volkswagen und die Geschäftspraktiken von Facebook, zwei Beispiele, die symptomatisch für eine Vielzahl anderer Fälle stehen – zu der Einschätzung: Der Wahnsinn hat Methode. Aus diesen Bestandsaufnahmen folgen einerseits Überlegungen, die dafür plädieren, die Wirtschaftswissenschaften kulturtheoretisch zu wenden, denn »Ökonomie ist Kultur«. Andererseits leiten sich daraus in den folgenden Texten praktische Hinweise auf zum Beispiel eine veränderte Ordnungs-, Unternehmens- und Bildungspolitik ab.
»So ein Theater – Medien, Wissenschaft, Schauspiel« heißt der dritte Buchabschnitt. Die öffentlich-rechtlichen Medien abschaffen? Zum Glück (noch) nicht, sind sie doch eine »Bastion der Demokratie«, die auch zu verhindern hilft, dass die gesamte Medienlandschaft in die Hände interessierter Milliardäre fällt, die aus dem Prozess der Meinungsbildung machtpolitisches Kapital schlagen. Wie verhält es sich aber eigentlich mit den Rezipienten? Eine Demokratie funktioniert nicht ohne aufgeklärte Bürger, die sich auch über die Medien eine Meinung bilden. Aber informiert und bildet sich der Bürger im Zeitalter des Internets wirklich noch? Oder begnügt er sich damit, in »Retweets, Hashtags, Likes« jeweilige Befindlichkeiten, spontane Meinungen und – nicht selten – überschäumenden Hass abzulassen? Warum so ein Theater? – will ich dann fragen, wenn sich herausstellt, dass ein junger Journalist seine Reportagen manipuliert hat. Dieser Schwindel überrascht eigentlich nicht wirklich, dennoch standen die Medien Kopf nach der entsprechenden Meldung. Dabei könnte die nüchterne Betrachtung helfen, den tatsächlich zugrunde liegenden Problemen auf die Spur zu kommen. Und schließlich nach »Fake News« jetzt auch noch »Fake Science«? Davon jedenfalls war eine Gruppe von Journalisten überzeugt – und lag damit ziemlich daneben. Es gibt Probleme in der Wissenschaft, aber andere – als da sind fehlgeleitete und eindimensionale Anerkennungssysteme und eine gefährliche Nähe zur Privatwirtschaft. Letzteres wird durch das Sponsoring eines Forschungsinstituts durch die Firma Facebook an der Technischen Universität München klar veranschaulicht. Und warum es Theater auch im Theater gibt, zeige ich zuletzt noch an Ferdinand von Schirachs interaktivem Stück Terror, mit dem sich der gelernte Jurist schwer vergriffen hat. Es gibt Dinge, zum Beispiel Menschenleben, über die sich einfach nicht abstimmen lässt.
Im vierten und letzten Teil des Buches wage ich den Blick in die nahe Zukunft, die, das zeichnet sich sehr deutlich ab, massiv durch ein Voranschreiten in den Bereichen der Digitalisierung und der künstlichen Intelligenz geprägt sein dürfte. Wir sollten diese Entwicklungen mit Augenmaß begleiten, denn sie bieten ebenso Chancen wie Risiken. Eine Form der Kritik an der künstlichen Intelligenz konfrontiert die Gegenwart oder mögliche Zukunft gerne mit hehren Ideen und übersieht dabei leider oft die natürliche Dummheit des Menschen. Die Ambivalenz bestimmter Entwicklungen zeigt sich im Bereich der Robotik, wie der Beitrag »Dingsbums – Sex mit der Maschine« exemplarisch illustriert. Dieses Beispiel ist nicht nur instruktiv für einen extremen Fall von Mensch-Maschine-Interaktionen, sondern lädt zum Philosophieren über eine »Roboterethik« und eine neue Ethik insgesamt ein, wie die beiden daran anschließenden Kapitel andeuten. Die neuen technischen Entwicklungen im Bereich der Digitalisierung werden unser Handeln jedoch nicht nur in sozialen Nahbereichen und durch direkte Interaktionen mit Maschinen prägen, sondern auch die Weltgesellschaft gehörig durcheinanderwirbeln. Und womöglich wird sogar der Kapitalismus in naher Zukunft abdanken müssen, denn in China entwickelt sich durch das sogenannte »Social Credit System« ein Vorhaben, für das ich als Folge eine Renaissance der Planwirtschaft à la Lenin 4.0 prognostiziere und einen neuen Systemwettbewerb, bei dem die totgesagte Planwirtschaft durch den Einsatz neuer technischer Möglichkeiten den demokratisch-kapitalistischen Gesellschaften kräftig Konkurrenz machen dürfte.
In den hier versammelten Texten werden ausgewählte gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Entwicklungen in den Blick genommen – der Gegenwart ebenso wie der nahen Zukunft. Obwohl es mir dezidiert um Werte und moralische Fragen geht und dazu auch vielfältige kritische Perspektiven entfaltet werden, nehmen die Texte Abstand davon, zu moralisieren. Ich meine nämlich, dass es ein Grundproblem vieler unserer gesellschaftlichen Diskussionen ist, allzu schnell und zu unüberlegt die moralische Keule zu schwingen. Moralische Bewertungen können sein – und sollten sogar sein –, dies jedoch stets auf der Grundlage eines möglichst guten Verständnisses der Situation, der Hintergründe und der oft unsichtbaren Tiefenschichten. In diesem Sinne beabsichtigt das Buch besonders zweierlei: Es will durch Beschreibungen und Analysen Orientierungen in einer sich stark verändernden und schwindelerregenden Gesellschaft anbieten und genau dadurch so manchen Schwindel entlarven.
1 Stichwort »Schwindel« in: Brockhaus: https://brockhaus.de/ecs/enzy/article/schwindel
2 Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Erstbearbeitung (1854–1960), digitalisierte Version im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache, Lfg. 14 (1898), Bd. IX (1899).
3 Ebd.
4 Nachzulesen im »Fact Checker« der Washington Post: https://www.washingtonpost.com/graphics/politics/trump-claims-database/?utm_term=.6aa53e5af7fb
5 Lewis F. Powell: »Confidential Memorandum: Attack of American Free Enterprise System«; im Original verfügbar unter: http://law.wlu.edu/deptimages/Powell%20Archives/PowellMemorandumTypescript.pdf
6 »Dergleichen Angst und Qual wiederholte ich so oft, bis der Eindruck mir ganz gleichgültig ward, und ich habe nachher bei Bergreisen und geologischen Studien, bei großen Bauten, wo ich mit den Zimmerleuten um die Wette über die freiliegenden Balken und über die Gesimse des Gebäudes herlief, ja in Rom, wo man eben dergleichen Wagstücke ausüben muß, um bedeutende Kunstwerke näher zu sehen, von jenen Vorübungen großen Vorteil gezogen.« Aus: Johann Wolfgang von Goethe: Dichtung und Wahrheit. Erster und zweiter Teil, neuntes Buch. Stuttgart, Tübingen 1811.