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1. Der überforderte Mensch und die Erosion der Gesellschaft7

Unsere Gesellschaft nimmt Fahrt auf. Entwicklungen laufen immer schneller, Strukturen werden immer unübersichtlicher und fragmentierter, darin sind sich Soziologen einig. Kein Wunder, dass Menschen davon regelrecht schwindelig wird, viele nicht mehr hinterher-, manchmal auch nicht mehr klarkommen in dieser komplexen Welt der Globalisierung, des Klimawandels, der Massenmigration und Diversität. Und als ob nicht alles schon erschöpfend und verwirrend genug wäre, zeichnen sich unter den Stichworten Digitalisierung und Robotik längst die nächsten tief greifenden Veränderungen ab.

Moderne, auf Fortschritt basierende Gesellschaften stehen vor der permanenten Herausforderung, ihre Normen und Konventionen anzupassen, um die komplexer werdende Wirklichkeit verstehbar zu machen. Dabei bieten die politisch, ökonomisch, technologisch und kulturell sich vollziehenden Transformationsprozesse nicht nur Risiken, sondern auch Chancen.

Der überforderte Mensch

In seinen Untersuchungen zur Entwicklung von Gesellschaften machte der amerikanische Anthropologe und Historiker Joseph A. Tainter deutlich, dass gesellschaftliche Krisen und Zusammenbrüche neben organisationalen immer auch individualpsychologische Ursachen haben.8 In einer ständig komplexer werdenden Lebenswelt finden die Menschen keine stabilen Bewältigungsstrategien mehr, mittels derer sie ihre Existenz sinnvoll in die Veränderungen einpassen können. Begriffe wie Globalisierung, Migration, Digitalisierung wirken gemessen an ihren konkreten Auswirkungen irgendwann nur noch wie abstrakte Ungetüme in ebenso abstrakt wirkenden Zeitdiagnosen. Mit den im realen Leben von Menschen stattfindenden Veränderungen haben sie wenig zu tun.

Weil viele nur noch mit Mühe Schritt halten können, ihre emotionale und narrative Anpassungsfähigkeit an Grenzen kommt, entfremden sie sich von der Welt, wenden sich von ihr ab und einfachen Erzählungen zu, in denen und durch die das eigene Leben irgendwie noch Sinn ergeben und einen Rahmen finden kann. Es sind also nicht allein technologische Veränderungen oder Ressourcenengpässe, die gesellschaftliche Krisen auslösen, hinzu kommt die Schwerfälligkeit, das eigene Leben und die Gesellschaft anders zu denken und dann zu leben als in der bisher gewohnten Konvention. Je heterogener und fragmentierter sich die Menschen wahrnehmen, desto mehr löst sich die kulturelle Verklammerung. Das »Wir im Ich« wird porös und macht das gesellschaftliche Miteinander schwierig.

Erosion der Gesellschaft, postdemokratische Zukunft?

Ist ein bestimmter Grad an gesellschaftlicher Entfremdung erreicht, kann eine Krise auch bis zur Auflösung grundlegender Strukturen der sozialen Ordnung führen. In den Übergangsphasen von den bestehenden hin zu neuen Strukturen lösen sich etablierte und bewährte gesellschaftliche Deutungen zwangsläufig auf, verlieren herrschende Ordnungs- und Regelungsprinzipien ihre Gültigkeit. Die Welt verflüssigt sich. Sie befindet sich in einer liminalen Periode, wie es der Ethnologe Victor Turner nennt, einem Schwellenzustand: Die alte Welt ist nicht mehr und die neue ist noch nicht da. Sie ist, so Victor Turner, im Zustand des »betwixt and between«.9 Das ist die Diagnose unserer heutigen Situation. Und wie wird sie werden, unsere zukünftige Gesellschaft? Wird sie eine bessere sein? Oder doch schlechter als die heutige? Denkbar ist prinzipiell beides, wobei Konturen einer möglichen neuen Ordnung bereits sichtbar werden, die aus meiner Sicht eher Anlass bieten für einen gewissen Pessimismus – vor allem im Hinblick auf die Basiswerte Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, sofern man sie als Errungenschaften versteht, die es zu bewahren gilt. Denn es mehren sich Hinweise auf eine Entwicklung hin zu einer postdemokratischen und neofeudalen Ordnung, in der fundamentale moralische und politische Errungenschaften der Neuzeit kaum mehr Gültigkeit beanspruchen können.

Was wir heute in vielfältiger Weise beobachten können, ist die Zersetzung der gesellschaftlichen Ordnung durch Mittel des Obszönen und des subversiven Humors, das gezielte Brechen gesellschaftlicher Konventionen und Regeln des Anstands durch fruchtlose Debatten um Fake News oder sogenannte alternative Fakten, die Unterhöhlung von wissenschaftlichen Befunden und die Infragestellung von Expertenwissen. Vorstellungen einer rationalen Gesellschaftsordnung verflüssigen und verflüchtigen sich damit tendenziell.

Miriam Meckel hat die Symptome dieser Verflüssigung von Werten und Wahrheit einmal so auf den Punkt gebracht: »Sie haben die Möglichkeit, sich hinzustellen und zu sagen, die Erde ist eine Scheibe.« Wird diese Sichtweise mit wissenschaftlichen Belegen widerlegt, heißt es: »dann lügen diese Zahlen und Fakten und diese Studien«.10 Argumente dienen nicht mehr der Wahrheitsfindung, sondern verkommen zu bloßer Rhetorik im Kampf gegnerischer Gruppen: Right or wrong – my country!

Erscheinungsformen wie diese gehen zeitlich mit der Entstehung des Internets einher. Die damit verbundenen neuen technologischen Möglichkeiten haben einer paradoxen Entwicklung Vorschub geleistet: Sie ermöglichen freien Zugang zu unbegrenzt vielen neuen Informationen und untergraben zugleich deren Gehalt und Aufklärungswert. Dadurch beschleunigen moderne Informations- und Kommunikationsmedien die Kulturerwärmung und den Wechsel der Aggregatzustände in der Gesellschaft: Vormals feste Strukturen verflüssigen sich.

Bullshit statt Lüge

Das erreichte schwindelerregende Tempo der Gesellschaft provoziert nicht nur Schwindelgefühle bei einem großen Teil der Menschen, sie produziert auch reichlich Schwindler unter ihnen. Wohlgemerkt Schwindler und keine Lügner, denn eine Lüge bezieht sich noch auf eine geteilte Vorstellung von Wahrheit. Schwindler hingegen, so der Philosoph Harry Frankfurt, »bullshiten«, erzählen blanken Unsinn – sei es aus Ahnungslosigkeit, sei es aus strategischem Kalkül oder beidem.11 Sie fantasieren nach Strich und Faden, und zwar mitunter bewusst jenseits einer geltenden Diskursordnung. Bullshit setzt sich über die Idee der Wahrheit hinweg und zersetzt damit die herrschende Ordnung. Der Anspruch auf »Wahrheit« wird der Durchsetzung von Eigeninteresse untergeordnet. Die Welt wird eben gemacht, »widdewidde wie sie mir gefällt«. Wir kennen das aus der Werbung seit eh und je. Mittlerweile hat das Bullshiten auch die Politik erreicht. Man kann fast froh sein, wenn gelogen wird: Den Lügner kann man noch argumentativ stellen, den Bullshiter nicht.

Ob innen- oder weltpolitisch betrachtet, im Ringen um Aufmerksamkeit spielen sich diejenigen Figuren an die Spitze, die das mediale Spiel virtuos beherrschen und gleichzeitig über hinreichende politische oder ökonomische Macht verfügen, sich Gehör zu verschaffen. In Schwellenzuständen nutzen selbst ernannte Leitfiguren die Gunst der von Unsicherheit geprägten Stunde, indem sie die Delegitimation der alten Ordnung vorantreiben und gleichzeitig der Idee einer neuen Ordnung Gestalt geben.

Die Verkünder der neuen Ordnung pressen so ihre eigenen Interessen in Form. Sie bieten sich als Fluchtpunkt für eine neue Zukunft an und reizen etwas aus, das man vielleicht als eine anthropologische Konstante bezeichnen kann, ein menschliches Verlangen, das in liminalen Perioden besonders stark hervortritt: die Suche des Einzelnen nach Gemeinschaft. In Momenten existenzieller Unsicherheit ist es gerade die Gruppe, die dem Einzelnen Halt und neue Resonanzräume geben kann. Und hier ist aus meiner Sicht ein zentraler und gleichzeitig gefährlicher Kristallisationspunkt: Mit viel Glück wirken die neuen Figuren durch neue Erzählungen integrierend; das heute verbreitete Pech will es aber, dass sie unter dem Leitmotiv »wir gegen die anderen« antreten, um die Gesellschaft durch Ausgrenzungen zu spalten.

Alles im Fluss

In liminalen Zeitfenstern ist alles im Fluss, und niemand kann wissen, welche Zukunft wir vor uns haben. Sicher ist nur eines: Neben der Verteidigung von Wahrheit und den Anstrengungen, einen rationalen Diskurs aufrechtzuerhalten, muss es vor allem um »Wachsamkeit« gehen.12 Wachsamkeit gegenüber Bullshit und Wachsamkeit gegenüber selbst ernannten Helden. Welche Ziele verfolgen die neuen Figuren? Es ist höchste Zeit, zu fragen, welchen Wert wir unserer alten Ordnung zusprechen und was wir bereit sind, für ihren Erhalt zu tun, um nicht irgendwann vollends in einer postdemokratischen und neofeudalen Gesellschaft zu enden.

7 Dieser Text basiert auf dem gemeinsam mit Martin Kolmar verfassten Gastbeitrag »In schwindelerregender Gesellschaft. Erosion der Ordnung« in: Spiegel Online vom 14.01.2018.

8 Joseph A. Tainter: The Collapse of Complex Societies. Cambridge 1988.

9 Victor W. Turner: The Ritual Process. Structure and Anti-Structure. New Brunswick, London 1995 (1969).

10 Miriam Meckel: »Virtuelle Megaphone, durch die man sich gegenseitig anbrüllt«, ein Interview von Stephanie Gebert im Deutschlandfunk, 09.11.2016, http://www.deutschlandfunk.de/soziale-netzwerke-im-us-wahlkampf-virtuelle-megaphone-durch.694.de.html?dram:article_id=370793

11 Harry Frankfurt: On Bullshit. Princeton 2005.

12 Eduard Kaeser: »Der Wille zum Fake – ein philosophischer Crashkurs«, in: Neue Zürcher Zeitung vom 22.12.2017, https://www.nzz.ch/meinung/der-wille-zum-fake-ein-philosophischer-crashkurs-ld.1333352

In schwindelerregender Gesellschaft

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