Читать книгу In schwindelerregender Gesellschaft - Prof. Dr. Thomas Beschorner - Страница 9

Оглавление

3. Die Gesellschaft als Flashmob

Es ist in den letzten Jahren oft die Rede davon, dass sich Menschen »abgehängt« fühlten in unserer Gesellschaft. Dass dieses Gefühl in Teilen der Gesellschaft tatsächlich verbreitet ist (siehe dazu auch Teil II), dürfte allerdings weniger in aussichtslosen ökonomischen Situationen von Menschen begründet sein. Vielmehr scheint dies auf Gründe zurückzugehen, die kultureller Natur sind. Um es deutlich zu sagen: Es gibt sie weiterhin, eine Unterschicht, in der Menschen den Eurocent oder Rappen dreimal umdrehen müssen und dennoch kaum über die Runden kommen. Für die Mittelschicht trifft dies nicht zu. Doch genau von dort gehen aktuell die größten Spannungen in unserer Gesellschaft aus, weil Teile davon in dem starken Empfinden leben, dass sie keinen gesellschaftlichen Anschluss mehr haben, ihre Anliegen keine Berücksichtigung finden.

Und deshalb entsteht, im Grunde folgerichtig, eine Parallelgesellschaft (oder wenigstens eine Parallelgemeinschaft), die sich als eigentliche und richtige Gesellschaft begreift und im Austausch mit Gleichgesinnten zum Wahrhaftigen wird. Man fühlt sich dort angesprochen »als der, der man ist«, um das Zitat von Isolde Charim hier noch einmal aufzugreifen. Es ist nicht die formalisierte Großgruppe (wie eine Partei zum Beispiel), in der man eine Art Heimat findet, sondern es sind lose Gruppen und Foren, die das Interesse wecken. Dort mit anderen zu reden oder zu twittern, die die Dinge ebenso sehen wie man selbst, das schafft Identität.

Wir/ihr, wir/die

Verstärkt wird dieser identitätsstiftende Mechanismus durch eine »Wir/ihr-Konstellation«, bevorzugt in der Fassung »ihr da oben« und »wir hier unten«. »Oben« und »unten« sind Chiffren für entsprechend wahrgenommene Machtkonstellationen in einer Gesellschaft, in der es eben Mächtige gibt, die über die Ohnmächtigen herrschen.

Ausrufe wie »Wir sind das Volk« (und eben »die da oben«) bei den Leipziger Montagsdemonstrationen 1989 und die friedliche Revolution in der DDR insgesamt drückten etwas Ähnliches aus. Die erhobenen Forderungen zielten aber über den Tatbestand einer Machtasymmetrie zusätzlich und in starkem Maße auf normativ begründete Veränderungen, die in diesem Fall demokratischer Natur waren, weil sie sich bezogen auf »das Volk« als Souverän. Mit »die da oben« sind Vertreter der klassischen gesellschaftlichen Eliten gemeint, die als besonders mächtig betrachtet werden: Die Spitzenpolitiker und Topmanager, Journalisten, Wissenschaftler und Intellektuellen oder auch hochrangigen Vertreter der Kirchen sind es, die die Geschicke der Gesellschaft maßgeblich prägen und die wirkmächtig sind, dabei ihrerseits, so die Sicht, von Privilegien profitieren, die die Strukturen der Gesellschaft hervorbringen.

Das »Ihr-da-oben-Schema« greift aber nicht nur im Hinblick auf eine gesellschaftliche Elite. So richtet sich das berechtigte Eintreten für die Gleichberechtigung von Frauen nicht nur gegen die Spitzen in Politik, Wirtschaft oder Kirchen, sondern grundsätzlich gegen (über)privilegierte Akteure in jedweden sozialen Kontexten, besonders »den alten weißen Mann«. Die Demarkationslinie zwischen wir und ihr verläuft hier in der Mitte der Gesellschaft, doch die Logik ist die gleiche: Es geht um Macht und Privilegien, die es abzuschaffen gilt.

»Wir/ihr-Unterscheidungen« sind in der Politik ebenso bedeutsam wie im Gesellschaftspolitischen, also in der tagtäglichen Auseinandersetzung um die Gestaltung unserer Gesellschaft. »Politik ohne Grenzen und Gegner funktioniert nicht«, sagt die belgische Politologin Chantal Mouffe (siehe dazu Kapitel 4).22 Auf dem Boden demokratischer Prinzipien und eines vernünftigen Diskurses ist dagegen nicht nur nichts einzuwenden, es ist sogar gesellschaftlich erwünscht, unterschiedliche Positionen zu markieren und über diese zu streiten. Dieser Boden wird jedoch dann verlassen, wenn Unterscheidungen über rassistische, ethnische, völkische, biologische oder irgendwelche schrägen Ideologien gemacht und dadurch Menschen in erste und zweite Klasse gruppiert werden. Genau dann wird einer Gruppe von Menschen die Würde abgesprochen und sich von einem zentralen demokratischen Prinzip verabschiedet. Und damit zusammenhängend verwandelt sich die demokratische Unterscheidung eines »wir/ihr« in ein außerdemokratisches »wir/die« – und »die«, die Menschen »zweiter Klasse«, sind nicht Teil des Diskurses. Dass spätestens seit den Flüchtlingsströmen der vergangenen Jahre eine solch menschenverachtende Rhetorik auch im deutschsprachigen Raum (wieder) um sich greift, ist politisch eine schwere Hypothek.

Vielleicht drückt sich diese Verschiebung im Diskurs besonders gut aus in dem Slogan »Wir sind das Volk«, der ja eigentlich sinnbildlich für die friedliche Revolution in der DDR und die Wiedervereinigung Deutschlands steht. Heute jedoch wird er bei Pegida-Versammlungen zusammen mit ausländerfeindlichen Parolen skandiert, also pervertiert zu: »Wir sind das Volk« – und »die« (Ausländer) gehören nicht dazu, hier ist das »legitime Volk«, dort sind die anderen. Dahinter stehen nicht Aufklärung und demokratischer Veränderungswille, sondern völkisches Denken und völkischer Populismus.

Emotionen und der politische Flashmob

Es gilt ganz klar, solche und vergleichbare Tendenzen normativ zu bewerten und eindeutig festzustellen, dass diese Art der Rhetorik außerhalb demokratischer Prinzipien liegt. Dieser Standardreflex der Verteidiger der Demokratie ist in der Tat wichtig! Man sollte jedoch nicht meinen, dass sich die entsprechenden Probleme erübrigen werden, indem man durch einen Ordnungsruf rationale Diskurse auf dem Boden demokratischer Ideen einfordert. Die Probleme liegen deutlich tiefer. Sie sind mit etwas verbunden, wozu es aktuell nur vereinzelte Diskussionen und eher unsystematische Feststellungen gibt, sie sind verbunden mit Emotionen, genauer dem Ausdruck und Erleben von Emotionen.

Unsere soziale Welt besteht nicht nur aus rationalen Argumenten und mehr oder weniger konsistenten Geschichten. »Response-Räume« 23, also Arenen, in denen Menschen sich über Sprache in vernünftigen Diskursen verständigen, sind nur ein Teil unserer gesellschaftlichen Praxis. Unter der Bezeichnung »Affekttheorie« wird eben die Bedeutung von Emotionen in der Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Fragen (also nicht nur im Privaten) untersucht. Ein Augenmerk lag und liegt hierbei auf dem Zusammenhang von Emotionen und Ideologien. So wurde von dem Mitbegründer der Affekttheorie, dem amerikanischen Psychologen Silvan S. Tomkins, zum Beispiel die Frage erörtert, wie Sozialisierungsprozesse und die damit verbundene Aneignung von Emotionen in Ideologien münden können.24 Neuere Forschungen rücken inzwischen die Bedeutung von emotionalen Erfahrungen und emotionalen Ausdrucksformen ins Zentrum des Interesses,25 was sie in eine Verbindung bringt mit den Überlegungen zum neuen Ich. Denn das neue Ich will sich ja, wie wir gesehen haben, besonders in emotionaler Hinsicht selbst erleben und zielt stets darauf ab, jemand Besonderes zu sein. Und dieses »Besonderssein« findet Ausdruck und wird fabriziert über expressive Handlungsweisen in allen möglichen Lebensbereichen.

Von wem und wie kann sich dieses singuläre Ich gesellschaftspolitisch noch angesprochen fühlen? Von wem? Sicherlich nicht von einer Partei, vielleicht sogar nicht einmal einer NGO als institutionalisierten Großgruppen. Wie? Tendenziell nicht von Angeboten, die hauptsächlich auf rationalen Diskurs setzen und damit Ausdruck des alten Establishments, der alten Ordnung sind, die kritisch gesehen wird. Außerdem bietet Vernunft für das neue Ich nicht genügend Ausdrucksformen, rational-logisch taugt eben nicht zur gewollt-emotionalen Expression.26

Von wem und wie also kann sich das singuläre Ich gesellschaftspolitisch noch angesprochen fühlen?

Wohl eher von flüchtigen, flüssigen Gruppierungen, bei denen das neue Ich eine temporäre Heimat findet. Auch von Events, auf denen es sich mit Gleichgesinnten vorübergehend, in nur schwach formalisierten Strukturen, trifft und die nicht der Schaffung einer Gruppenidentität dienen, sondern vielmehr eine perfekte Möglichkeit zur Abgrenzung von anderen bieten. Das neue Ich zieht seine Identität tendenziell aus Unterschieden denn aus Gemeinsamkeiten. Zudem tragen – und das ist wichtig – diese Events zu einem emotionalen Erleben, zum Erleben von Emotionen bei. Und Emotionen haben »eine besondere Funktion, einen außerordentlichen Stellenwert. Zunehmend losgelöst von ihren bisherigen Kanalisierungen, sind sie zu dem Medium des pluralisierten Subjekts geworden: In den Emotionen realisiert man sich als tatsächlich Einzelner.« 27 Um welche Art des emotionalen Erlebnisses es sich dabei handelt, Freude, Aufregung, Wut oder Angst, so könnte man überspitzt formulieren, ist nahezu gleichgültig. Schreihälse und Demagogen befriedigen die Bedürfnisse des neuen Ichs in dieser Hinsicht im Übrigen in vorzüglicher Weise.

Es gibt keine einfachen Antworten auf die Frage, warum wir derzeit einen zunehmenden Populismus, starke Ideologien, eine Verweigerung gegenüber rationalen Diskursen und die Infragestellung von demokratischen Prinzipien haben. Ein Teil der Erklärung liegt aber eben darin, dass die traditionellen Arenen und Foren demokratischer Partizipation das neue Ich eben nicht mehr ansprechen und sich das neue Ich emotional im politischen Flashmob erlebt.28

Emotionale Erfahrungen statt konkretes Handeln, ein gutes Gefühl als Anhaltspunkt für Gerechtigkeit, gute Taten oder auch das moralisch Richtige zu tun, wird irrelevant. Diese Besorgnis äußerte Hua Hsu im New Yorker in Anlehnung an die Kultur- und Affekttheoretikerin Lauren Berlant: »We’d replaced tangible action with affective experience. ›What does it mean for … social transformation … when feeling good becomes evidence of justice’s triumph?‹ Somewhere along the way, doing good had come to seem irrelevant – or maybe just felt impossible.« 29

Das »neue Politische« für das neue Ich klingt gruselig.

Neue Formen gesellschaftlicher Teilhabe dringend gesucht

Ein Leichtes ist es nun, sich über neue Bewegungen dieser Art lustig zu machen. Der ehemalige Bundespräsident Joachim Gauck beispielsweise fand die »Occupy Wall Street«-Bewegung »unsäglich albern«. Und Christian Lindner rief der »Generation Greta« zu: »Klimaschutz ist was für Profis«, und man möge doch jetzt bitte mal wieder die Schulbank drücken. Oder man kann dem »rechten Pack«, wie Sigmar Gabriel 2016, den Mittelfinger gepflegt vor die Nase halten. Positive Resonanz oder gar Lösungen für gesellschaftspolitische Spannungen sollte man sich davon nicht erhoffen.

Genauso wenig hilft es, die neuen Formen des Ausdrucks als postpolitische Wellnesskuren von emotionsbedürftigen Menschen zu belächeln. Abgesehen davon, dass es sich dabei um durchaus berechtigte Anliegen handeln kann, die eben in neuen politischen Formen artikuliert werden (wofür die Kapitalismuskritik der »Occupy«-Bewegung oder Forderungen nach Maßnahmen gegen den Klimawandel gute Beispiele sind), birgt ein »vagabundierendes Emotionspotenzial« 30, das über traditionelle Formen des Politischen nicht mehr kanalisiert werden kann, eine gewisse Explosionskraft. Dies gilt gerade für Entwicklungen im rechten Milieu. Das macht uns Angst, und es sollte uns auch Angst machen.

Was also ist zu tun? Es muss aus meiner Sicht mittel- und langfristig in der Tat darum gehen, die (emotionalen) Bedürfnislagen von Menschen politisch aufzufangen, will man populistischen Tendenzen entgegenwirken: also vom »Emotionsraum« 31, wie Charim es nennt, in den Resonanzraum (hier besonders Begegnungen mit »Nicht-Gleichgesinnten«) und weiter in den Response-Raum im Sinne einer dialogischen Verständigung des Gebens und Nehmens von (guten) Gründen.32 Dafür bedarf es jedoch neuer Mittel und neuer Formen der gesellschaftlichen Teilhabe. Isolde Charim bringt dazu das Beispiel von Bürgerversammlungen im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen in Frankreich im Jahr 2017, bei denen es nicht darum ging, »der Rede eines Tribuns zu folgen«, sondern »darum, die Leute zu Wort kommen zu lassen«.33 Auch wenn dies in die richtige Richtung weist, überzeugt mich dieser Vorschlag nur mäßig. Ich denke, man könnte hier etwas mehr Fantasie entwickeln.

Das neue Ich tummelt sich, wie beschrieben, nicht nur im gesellschaftspolitischen Bereich, sondern versucht, seine spezifischen emotionalen Anliegen auch in einer Vielzahl anderer Lebenskontexte einzulösen. Es könnte zur Ausgestaltung neuer Formen der Teilhabe für die Politik lohnenswert sein, sich inspirieren zu lassen davon, wie andere Akteure attraktive Arenen und Foren für das neue Ich schaffen und wie die dahinterstehende Logik funktioniert, um dann eigene – dem Politischen angemessene – Formate und Events zu entwickeln.

Unternehmen beispielsweise sind geübte Geschichtenerzähler, die ihren Produkten und Dienstleistungen hochprofessionell Bedeutungen (jenseits des Gebrauchswerts) anheften. Sie organisieren communities um ihre Marken herum, um so ihre Kunden anzusprechen und diese zu binden. Medien, ein anderes Beispiel, haben in den letzten Jahren in diesem Sinne ebenso Kompetenz entwickelt und sind zudem inzwischen recht erfahren bei der Organisation von Events. Welche Formate und welche Art von Events verfangen bei den Leserinnen und Lesern wie und warum? Ein dem Politischen sehr naheliegendes Beispiel, auf das ich in Kapitel 15 eingehen werde, ist die Initiative »Deutschland spricht«, bei der Menschen unterschiedlicher politischer Auffassungen für ein Zwiegespräch zusammengebracht werden, um über gesellschaftspolitische Fragen zu diskutieren.

Was auch immer künftige Antworten auf die hier aufgeworfenen Fragen sein mögen, wir werden diese nur mit Mut und Fantasie für Neues finden können. Und dies bedeutet auch, das Politische (ohne Populismus) populär zu machen, denn nur so können wieder Resonanzräume und im Idealfall Response-Räume entstehen, die einer demokratischen Gesellschaft zuträglich sind. Ein Patentrezept gibt es dafür nicht. Zu Mut und Fantasie gehören soziale Experimente.

22 Chantal Mouffe: »Wir brauchen einen linken Populismus« (Interview), in: Süddeutsche Zeitung vom 28.12.2016.

23 Zum Begriff der »Response-Räume« und unten auch zum Begriff der »Resonanzräume« vgl. Thomas Beschorner, Marc Hübscher: »Quellen der Normativität. Erkundungen einer kulturalistischen (Wirtschafts-)Ethik«, in: Forschungsgruppe Unternehmen und gesellschaftliche Organisation (Hrsg.): Unternehmen der Gesellschaft. Interdisziplinäre Beiträge zu einer kritischen Theorie des Unternehmens. Marburg 2017, S. 337–362.

24 Silvan S. Tomkins: »Left and right: A basic dimension of ideology and personality«, in: Robert W. White (Hrsg.): The study of lives. Essays on personality in honor of Henry A. Murray. New York 1963, S. 388–411.

25 Melissa Gregg et al.: The Affect Theory Reader. Durham, North Carolina 2010, vermittelt dazu einen guten Überblick.

26 Charim 2018, Kapitel 6.

27 Charim 2018, S. 162.

28 Dieser in diesem Zusammenhang, wie ich finde, sehr passende Begriff stammt von einem Blogbeitrag von Philipp Sonderegger: »Kundgebung heißt jetzt Flashmob«, in: PHSBLOG vom 14.01.2013, https://phsblog.at/kundgebung-heist-jetzt-flashmob/; auch Isolde Charim erwähnt ihn in ihrem Buch.

29 Hua Hsu: »Affect Theory and the New Age of Anxiety«, in: New Yorker vom 25.03.2019, https://www.newyorker.com/magazine/2019/03/25/affect-theory-and-the-new-age-of-anxiety

30 Charim 2018, S. 199.

31 Charim 2018, S. 216.

32 Beschorner, Hübscher 2017.

33 Charim 2018, S. 181.

In schwindelerregender Gesellschaft

Подняться наверх