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2. Fluide Identitäten und das neue Ich

Wenn es wie hier behauptet stimmt, dass wir in einem liminalen Zeitalter des Dazwischens, einer Periode des »betwixt and between« leben, die alte Welt nicht mehr und die neue noch nicht da ist, dann gilt es, sich auf die Suche zu machen nach möglichen Gründen dafür oder wenigstens einige Facetten dieser Schwelle und der damit verbundenen Schwindelgefühle genauer zu beleuchten.

Reich mir mal den Rettich rüber

Der Musiker und Kabarettist Rainald Grebe besingt in seinem Song »Dreißigjährige Pärchen« den Verlauf eines abendlichen Sushi-Essens: Klaus, Beate, Uschi und Dirk, zwei Paare aus Berlin-Mitte, unterhalten sich über so allerlei – die Größe von Pfeffermühlen, Reiseziele, über die Liebe. Der Refrain »Reich mir mal den Rettich rüber« leitet vom einen Gesprächsthema zum anderen.13

Grebe porträtiert in diesem Lied sehr geschickt, was Zeitdiagnostiker als »Singularisierung« oder »Pluralisierung« bezeichnen und damit nicht nur den vordergründigen Umstand meinen, dass in unserer Welt irgendwie alles bunter geworden ist, wir eine im historischen Vergleich größere Vielfalt in der Bevölkerung vorfinden oder eine Pluralität von Meinungen vorherrscht. Dies sind eher aus einem gesellschaftlichen Veränderungsprozess herausragende Erscheinungsformen denn Ursachen von Singularisierung, so jedenfalls der deutsche Soziologe Andreas Reckwitz wie auch die österreichische Philosophin Isolde Charim.14 Als Ursache für eine singuläre Gesellschaft machen beide Autoren eine gesellschaftliche Neukonfiguration seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts aus, die sie als einschneidend betrachten. Um was geht es dabei?

Das Industriezeitalter brachte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine auf Konformität ausgerichtete Massenkultur hervor. Ob im Konsum, in der Arbeitswelt, in Partnerschaften, der Sexualität oder im Politischen, die Lebensentwürfe, die Lebensweisen und die Weltbilder der Menschen waren – jedenfalls im Vergleich zur sogenannten Spätmoderne – relativ homogen.15 Die Welt war, wenn man so will, gut sortiert. Es gab eine Normalität, und die Bewertungsmaßstäbe für diese Normalität (also gesellschaftliche Normen) waren eher eindeutig als uneindeutig. Natürlich bleibe »die Einheitlichkeit der Gesellschaft … immer bis zu einem gewissen Grad eine Fiktion – eine Fiktion, die durch massive politische Eingriffe immer wieder hergestellt werden musste«. Aber »es war eine funktionierende Fiktion«, schreibt Charim.16 Gesellschaftliche Einheit bedarf eines gewissen Maßes an Homogenität, nicht aber vollständiger Einheitlichkeit.

In den letzten rund 30 Jahren ist das, was normal ist, uneindeutig, ja ambivalent geworden. Dies hat nicht nur mit neuen Wahlmöglichkeiten in einer »Multioptionsgesellschaft« 17 zu tun, sondern mit einer (neuen) Individualisierung in allen möglichen Lebensbereichen, bei der es nicht mehr um Konformität, sondern um ein Besonders-Sein, um das singuläre Ich geht. Dieses »neue Ich«, wie ich es nennen will, findet in vielfältiger Weise seinen Ausdruck – und nicht nur das, Ausdrucksformen und Lebensweisen (in der sozialwissenschaftlichen Theorie spricht man auch von sozialer Praxis) fabrizieren dieses neue Ich sogar.

Früher trank man Filterkaffee (meine Oma nannte es immer Bohnenkaffee) der Sorten Dallmayr Prodomo, Jacobs Krönung oder die Feine Milde von Tchibo. Heute kauft man ganze Bohnen (für den eigenen Kaffeeautomaten natürlich) beim Barista seines Vertrauens, der Kaffee wie teuren Whiskey oder Wein zelebriert. Hin und wieder kommt sogar der Kleinbauer Pedro aus Costa Rica vorbei und informiert auf einer Europa-Tournee über seine nachhaltigen Anbaumethoden und die Qualität des Kaffees. Das schafft Kundenbindung.

Ohnehin, besonders beim Genuss von Lebensmitteln will man heute einzigartig sein. Man ist, was man isst. Sushi beispielsweise als (immer noch) etwas Besonderes, was die Eltern einfach nicht verstehen wollen: »Roher Fisch auf kaltem Reis mit Algen tun die doch in den Müll«, krakeelt Rainald Grebe dazu ins Mikrofon. Es kann auch mal ein (Gemüse-)Döner sein, dann aber natürlich von »Mustafa« in Berlin-Kreuzberg am Mehringdamm – lange Schlange garantiert, ein Astra als Wegbier in der Hand.

Reiseziele, ein anderes Beispiel, schreibt Andreas Reckwitz, »können sich nicht länger damit begnügen, einförmige Urlaubsziele des Massentourismus zu sein. Es ist vielmehr die Einzigartigkeit des Ortes, die besondere Stadt mit authentischer Atmosphäre, die exzeptionelle Landschaft, die besondere lokale Alltagskultur, denen nun das Interesse des touristischen Blicks gilt.« 18 Besagter Dirk sieht das auch so: »Asien ist nicht mehr mein Fall, Asien – ist total überlaufen«, singt Grebe.

Katalogmöbel sind uncool, stattdessen lieber die Vitrine aus dem 19. Jahrhundert, am besten noch eigenhändig restauriert. »IKEA kommt mir nicht ins Haus. Bis auf den Tisch da, der ist von IKEA. Der sieht aber nicht nach IKEA aus«, heißt es in Grebes Song weiter.

Das neue Ich

Dies sind nur einige Beispiele, die auf einen neuen Typus von Mensch im 21. Jahrhundert hindeuten. Doch nicht nur in Konsumpraktiken drückt sich das neue Ich aus und bildet sich heraus. Entsprechende Praktiken finden sich auch in anderen, ja im Grunde in allen Lebenskontexten: im Bereich der Arbeit (cooler Start-up-Gründer statt Investmentbanker, Tischler statt Ingenieur, trotz erfolgreich verlaufener Karriere sich noch einmal völlig neu erfinden), in partnerschaftlichen Beziehungen (offen und experimentell statt öde Ehe, auch mal ganz anders: Single aus Berufung) oder im Bereich der Sexualität (»nichts muss, alles kann«). All diese Formen von Lebenspraxis sind stark expressiv, und es ist wichtig, darüber mit anderen zu kommunizieren.

Es mag paradox erscheinen, aber obwohl das neue Ich seine Identität aktiv sucht, gestaltet und in den Lebensmittelpunkt stellt, weist es eine vergleichsweise geringe Identität 19 auf, und zwar nach innen wie nach außen.

Eine Identität wird im Rahmen der neuen Individualisierung nicht einfach angenommen. Sie wird vielmehr in einem stetigen Prozess erarbeitet, in einer Auseinandersetzung mit sich selbst und in der Interaktion mit anderen. Dies ist, wie gesagt, kein einmaliger Vorgang nach dem Motto: Ich entscheide mich für eine Ausbildung als Bankkaufmann bei der Deutschen Bank, und dort arbeite ich dann bis zur Pensionierung; oder ich wähle mit 18 Jahren die CDU, und dabei bleibe ich ein Leben lang. Das ist die alte Welt.

In Anlehnung an das erste Kapitel kann man auch sagen, dass die Identität des neuen Ichs fluide ist, jedenfalls einen anderen Aggregatzustand aufweist, als dies in früheren Zeiten der Fall war. Daraus resultiert zum einen eine geringere Verlässlichkeit und Erwartungssicherheit über das Verhalten der Menschen. (Womöglich erklärt dies auch, weshalb Wahl- und Abstimmungsprognosen, wie bei den letzten amerikanischen Präsidentschaftswahlen oder bei der Brexit-Abstimmung 2016, inzwischen so danebenliegen können.) Zum anderen bedeutet die Herausbildung einer Identität des neuen singulären Ichs harte Arbeit, denn es handelt sich dabei um einen nie abgeschlossenen Entwicklungsprozess. Dies kann in der Wahrnehmung ebenso befreiend wie überfordernd und angstbehaftet wirken; es ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich oder auch beim Einzelnen mal so und mal so. Fertig ist das singuläre Ich allein schon deshalb nie, weil sich das Einzigartige ja in Differenz zu anderen manifestiert. Ein Tattoo ist inzwischen uncool, denn das hat heute jeder. Man wird daher neue Distinktionsmerkmale finden müssen – wieder und immer wieder. Die Selbstverortung des neuen Ichs ist schwindelerregend.

Zurück zu Klaus, Beate, Uschi und Dirk, den zwei Pärchen aus Berlin-Mitte: Ob es sich um Urlaubsreisen, den Genuss von Lebensmitteln oder um Möbel handelt, es geht in der über sie erzählten Geschichte nicht um Distinktionsbemühungen eines bestimmten sozialen Milieus oder umgekehrt um Identifikation mit einem ausgewählten Milieu, zu dem man gerne gehören möchte. Es geht darum, ein Einzigartiger zu sein. Natürlich ist das eine Fiktion, wie uns Rainald Grebe spitzzüngig vorführt, denn Klaus, Beate, Uschi und Dirk gibt es millionenfach oder, um es mit einer Zeile aus einem andern Grebe-Song zu sagen: »Die Menschen sehen alle gleich aus, irgendwie individuell.« Auch der Sushi-Abend ist im Grunde konventionell und mit konservativen Haltungen heftig durchsetzt: »Reich mir mal den Rettich rüber.« Das neue Ich ist aber eine Fiktion, die für die Subjekte funktioniert.

Klaus, Beate, Uschi und Dirk essen übrigens schon lange kein Sushi mehr. Grebes Song stammt aus dem Album Volksmusik aus dem Jahr 2007. Inzwischen haben die vier neue Distinktionen gefunden: Klaus und Dirk wurden ein homosexuelles Paar, Beate gründete ein Start-up und Uschi wird dieses Jahr den Kilimandscharo besteigen. Erst mal. Dann kommt wieder etwas Neues. Wieder und immer wieder.

Alte Institutionen, neues Ich

Das neue Ich ist nicht nur für das Leben des Einzelnen relevant, es führt auch zu durchaus massiven gesellschaftlichen Veränderungen, die heute schon zu beobachten sind.

Die Zeit der Aufklärung und die damit verbundene Emanzipation von traditionellen Autoritäten, wie feudalen Herrschaftssystemen oder der Kirche, kann als die Epoche der Erfindung des Individuums verstanden werden. Wenn wir heute oft negativ konnotiert von einer individualisierten Gesellschaft sprechen, so sollte im Lichte dieser Entwicklung nicht vergessen werden, welche liberale und freiheitliche Kraft damit verbunden war, von der wir auch heute noch als freie Menschen profitieren. (Richtig verstandene) Freiheit ist ein hohes, vielleicht das höchste Gut.

Wesentlicher für die Argumentation hier scheint, dass sich in der Moderne (im Anschluss an die Aufklärung) neue oder modifizierte Institutionen herausgebildet haben. Dies war nötig, um die neue Gesellschaft zu koordinieren, die nicht nur ihre Orientierung an traditionellen Herrschaftsregimen verloren hatte (und verlieren wollte), sondern sich auch von kleinen Gemeinschaften hin zur anonymen Großgesellschaft entwickelte. Und es ging auch darum, mit den neuen Institutionen so etwas wie einen »Bürgersinn« zu schaffen, der ja nicht vom Himmel fällt, sondern erlernt und entwickelt werden muss. Die Herausbildung eines Parteiensystems, die Entwicklung des modernen Rechtswesens sind ebenso Beispiele für neue institutionelle Arrangements wie die Entwicklung von Medien, die Gründung von Gewerkschaften oder die Modernisierung der Wissenschaften und des Bildungswesens.

Isolde Charim sieht nun im Übergang vom klassischen Subjekt zum neuen Ich einschneidende Veränderungen, die das soziale Gefüge der Gesellschaft geprägt haben und verstärkt prägen werden.20 Da es dem neuen Ich immanent ist, sich als singulär zu verstehen, ist per se die Zugehörigkeit zu Großgruppen wie politischen Parteien, Religionsgemeinschaften, Gewerkschaften, Verbänden, Nichtregierungsorganisationen für die Subjekte kaum mehr interessant oder wird maximal nur noch temporär gepflegt. Hinzu kommt, dass das neue Ich sich erleben und bestätigen will, verändern will es sich nicht: »Im Zeitalter der Authentizität«, schreibt Charim dem kanadischen Philosophen Charles Taylor folgend, »gehe es nicht nur darum, einen eigenen Weg zu wählen – eine eigene Kirche, eine eigene Partei oder sonst eine eigene Gruppierung –, sondern darum, dass diese ›mich ansprechen‹ muss … als der, der ich bin.« 21 Und schließlich, noch einen Schritt weiter: Gesellschaftliche Institutionen, die das Subjekt verändern wollen, werden vom neuen Ich nicht nur auf Abstand gehalten, sondern auch aufgrund ihrer moralbildenden Absichten skeptisch betrachtet und kritisiert. Dies passt dazu, dass sich die Identität des neuen Ichs weniger aus Gemeinsamem als aus Unterschieden speist.

Neukonfiguration der Gesellschaft

Diese hier nur angedeutete Perspektive wirft ein Licht auf die Neukonfiguration der Gesellschaft. Sie vermag zum Beispiel den Abstieg der großen Volksparteien (siehe dazu das folgende Kapitel), den massiven Mitgliederschwund bei Gewerkschaften, Kirchen und ähnlichen Großgruppen erklären.

Ähnlich verhält es sich mit der Skepsis des neuen Ichs gegenüber anderen traditionellen Institutionen wie Medien, die als erzieherisch (»Haltungsjournalismus«) und tendenziell »linksgrün versifft« wahrgenommen und beschrieben werden. Das betrifft wenigstens den »Mainstream«, wie es immer wieder heißt. Von einem »Mainstream« freilich kann man sich als singuläres Ich ganz und gar nicht repräsentiert fühlen, weshalb er schon aus diesem Grund abgelehnt und den Medien die Glaubwürdigkeit abgesprochen wird.

Überhaupt, man will sich nichts vorschreiben lassen. Verbote jedweder Art mag das neue Ich nicht, besonders keine Redeverbote, denn sie laufen seiner expressiven Haltung entgegen. Auf political correctness pfeift man daher – »man wird doch wohl noch sagen dürfen«. Ebenso wenig mag man moralische Argumente, denn diese kommen von Gutmenschen, Weltverbesserern und Moralisten – übrigens allesamt zynische Abgrenzungsbegriffe von im Grunde positiv konnotierten Wortbedeutungen.

Was mit diesen Beispielen hier nur angedeutet werden soll: Ich meine, unsere gesellschaftlichen Diskurse sind nicht nur stark ideologisch (das waren und sind sie immer), sondern zudem hochgradig emotional und expressiv, worauf ich im anschließenden Kapitel näher eingehen werde. Gesellschaftliche Institutionen können dauerhaft nur Bestand haben, wenn sie die nötige Legitimation besitzen, also von den Menschen getragen werden. Sie werden jedoch, so meine Einschätzung, von immer weniger Menschen als legitim betrachtet.

Ich würde im Moment nicht davon sprechen wollen, dass die tragenden Institutionen unserer Gesellschaft massiv erodieren oder gar kurz vor dem Kollaps stehen. Was man aber sicherlich beobachten kann, ist ein Ringen um gesellschaftliche Veränderungen. Ginge ein solches Ringen mit dem Austausch von Argumenten einher, wäre es ein Geben und Nehmen von Gründen, so könnte man von einem sehr begrüßenswerten demokratischen Prozess sprechen. Doch genau das muss bezweifelt werden, und zwar besonders aus den zwei Gründen, dass sich die Identität des neuen Ichs aus Unterscheidungen gegenüber anderen speist und dass Emotionen sowie Affekte einem vernünftigen Diskurs im Wege stehen und nur schwer ausgeräumt werden können. Beides soll im Folgenden genauer betrachtet werden.

13 Falls noch nicht bekannt und Sie da einmal reinhören wollen, es lohnt sich: https://www.youtube.com/watch?v=6ZcIUAe-DdI

14 Andreas Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. Berlin 2017; Isolde Charim: Ich und die Anderen. Wie die neue Pluralisierung uns alle verändert. Wien 2018.

15 Charim beschreibt dies in einem Spiegel-Interview wie folgt: »Ich bin in Wien aufgewachsen. Wenn ich da, in den Sechzigern, als kleines Mädchen mit der Bahn gefahren bin, dann gab es diese Männer im Lodenmantel, die hatten einen Hut auf, an dem ein Gamsbart steckte, und die hatten eine Frau dabei, die auch oft einen Lodenmantel trug. Die haben bestimmt, was österreichische Normalität ist. Sie haben vorgegeben, wie ein Österreicher ausschaut«, aus: »Die Einwanderung verändert alle. Niemand kann bleiben, wie er war«, ein Interview von Tobias Rapp in: Spiegel 41 (2018).

16 Charim 2018, S. 14.

17 Peter Gross: Die Multioptionsgesellschaft. Frankfurt am Main 1994.

18 Reckwitz 2017, S. 7.

19 Isolde Charim (2018, S. 64) nennt dies auch prekäre Identität.

20 Ebd., besonders in Kapitel 2.

21 Ebd., S. 53.

In schwindelerregender Gesellschaft

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