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Juni 2116 A.D.

Seit fünf Tagen lebte ich nun mit der furchtbaren Gewissheit: Humphrey hatte seine Essenz mit meiner verbunden. Um mich vor dem Tod zu retten.

Absurderweise hatte er mich durch diese Vereinigung zum Tode verurteilt. Ohne alle vier Stufen zu vollziehen, über die Alan mich aufgeklärt hatte.

Warum war es trotzdem möglich gewesen?

Warum hatte Humphrey mir überhaupt seine magische Essenz übergeben?

Um mir einen kleinen Aufschub zu gewähren? Um mich auf den eigenen Tod vorzubereiten? Um mich zu quälen?

Er würde mich verfolgen und nicht aufhören, bevor ich das Zeitliche segnete. Nachdem er alle aus dem Weg geräumt hatte, die mir etwas bedeuteten.

Noch immer rebellierte mein Magen bei dieser Vorstellung. Ganz zu schweigen von meinem Herzen, das Humphrey betrauerte wie einen geliebten, großen Bruder.

Selbst wenn er jetzt mein größter Feind war.

Genau das konnte mein mickriger Verstand nicht begreifen.

Deprimiert vor mich hinbrütend, schlurfte ich durch mein Haus. Eigentlich hatte Alan mich gebeten bei ihm zu bleiben bis die Sache ausgestanden war. Doch das schien mir aus zwei Dingen unmöglich: Alan wollte mich unbedingt als seine Gefährtin in Anspruch nehmen; es könnte ihm gelingen. Nur damit ich ihn im Anschluss begrub. Bevor ich selbst ins Gras biss.

Alan war einem Ker-Lon nicht gewachsen.

Zu gern ich auch das Gegenteil behauptet hätte.

Immerhin war er ein mächtiger, starker Gestaltwandler. Doch gegen einen Dämon, der sich mit seiner menschlichen Saphi – also mir – vereint hatte, war Alan so angreifbar wie ein neugeborenes Kätzchen. Seelenlos, hatte Alan es bezeichnet.

Aber das entsprach nicht ganz der Wahrheit.

Ich hatte Humphreys Essenz aufgenommen – das Bewusstsein seiner Seele und einem ganzen Haufen Magie. Inzwischen war diese vollständig aufgebraucht; sein Bewusstsein aus meinem verschwunden. Ob diese Magie zu Humphrey zurückkehrte, das Fehlen derselben oder das Fehlen eines Teils seiner Seele einen Ker-Lon so gefährlich machte, wusste ich nicht. Auch hatte ich angenommen, dass Humphrey sofort begänne, mich zu jagen.

Das war nicht der Fall.

Ich konnte mir beim besten Willen nicht erklären, warum. Denn wenn Humphrey nicht mehr über seine Magie verfügte, war er im Prinzip doch nicht mehr als ein Mann, oder? Tja, das ‚oder’ war hier der entscheidende Knackpunkt.

Humphrey hatte mir während der Vereinigung erklärt, ich sei in Spline sicher. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich jedoch angenommen zu sterben und deshalb blöderweise nicht nachgefragt, was er damit meinte. Konnte er die Grenze zu Spline ebenso wenig überschreiten wie ein Vampir? Das wäre zwar wunderbar, aber ich konnte nicht jeden, an dem mir etwas lag, nach Spline befördern.

Beim geringelten Pavian, wie sollte ich meine Familie beschützen?

Wie sollte ich es ihnen erklären?

Ich war so beschäftigt mit Nachdenken, dass ich erst bemerkte, dass hinter mir jemand stand, als dieser sich wenig dezent räusperte.

Ob es diesen Jemand viel Selbstbeherrschung kostete, nicht sofort zu lachen? Ich sprang nämlich aus dem Stand heraus vor Schreck in die Luft, drehte mich dabei um 180 Grad und landete; das Gesicht ihm zugewandt. Die Knie beugte ich leicht, als wolle ich ihn anspringen. Die Hände ballte ich kampfbereit zu Fäusten. Bis ich bemerkte, dass es sich um Bingham Senior handelte.

Er verzog keine Miene.

Ich entspannte mich; nur um ihn kurz darauf argwöhnisch anzublinzeln. „Herr Bingham.“ Oh Gott, ob er hier war, um mich doch unter die Erde zu bringen? Diesmal war sein Sohn nämlich tatsächlich mausetot – toter ging es nicht. Auch wenn ich nicht dafür verantwortlich war. Beim letzten Mal war ich ebenso unschuldig gewesen. Hatte keinen der Andersweltler interessiert. „Du solltest mich Steward nennen, Samantha. Schon vergessen?“ Hatte ich. Zudem klemmte meine Zunge bedenklich.

Schön, dann hatte ich eben Angst.

Na und?

Jeder an meiner Stelle würde keinesfalls die lauschige Ansicht eines schnuckeligen – ok, anbetungswürdigen Vampirgesichtes – genießen, wenn sie vorher Bekanntschaft mit dessen spitzen Zähnen und den wirklich gruseligen Gestalten des Clans der Pir gemacht hatte. Es sei mir also verziehen, dass ich ihn nicht freudestrahlend begrüßte, sondern quasi mit dröhnendem Herzen anstarrte. Gut, er hatte mich schon einmal besucht – nach dem Zwischenfall mit den Zähnen – doch diesmal wäre seine Anschuldigung zumindest dahingehend begründet, dass Roman wirklich tot war.

„Geht es dir gut, Samantha?“ Ich nickte wortlos, da ich mich weder daran erinnerte, wie man einen Satz formulierte noch dass ich kein normaler Mensch war. Ich bräuchte nur seine Chakren manipulieren.

Oder ihn grillen.

Falls ich überhaupt dazu käme, bevor er mich mit einem einzigen Befehl aus dem Rennen nahm. Bloß gut, dass ich nicht in Versuchung kam, weil ich keinen einzigen Moment daran dachte.

Vermutlich passierte sowas, wenn man ständig mit Leuten zu tun hatte, die einen abmurksen wollen. Da durfte das Gehirn schon mal streiken. Persönlich fand ich allerdings, dass dies ein sehr ungünstiger Zeitpunkt war.

„Du siehst ganz blass aus, Samantha. Willst du dich lieber setzen?“ Warum, verflucht nochmal, las er nicht einfach meine Gedanken? Oh… vielleicht tat er das und machte sich über mich lustig. „Nein, danke. Es geht mir gut. Was verschafft mir die Ehre Ihres Besuchs?“ Hey, meine Stimme klang unerschütterlich professionell. Gedanklich klopfte ich mir für diese Meisterleistung auf die Schulter. „Du, sag bitte du. Ich wollte dich nur an meinen Antrag erinnern.“ Dabei setzte Bingham Senior ein tausend – ach was, zehntausend – Volt Lächeln auf, das es mir ganz schwummrig werden ließ. „Ihr… dein Antrag?“ Verwirrt blinzelnd kramte ich in meinem Kopf nach einer solchen Begebenheit.

Bingham hatte mir einen Antrag gemacht?

„Entschuldigung, ein freudscher Versprecher.“ Er neigte kaum merklich seinen Kopf und setzte erneut dieses – rrrh – Schmunzeln auf. „Ich meinte, mein Angebot dir die Ehre der Blutbindung zu erweisen.“ Oh… das!

Die Verwirrung musste mir geradezu aus dem Gesicht springen, denn Bingham lachte leise. „Ich will dich nicht drängen, Samantha. Nur erinnern, damit es nicht in Vergessenheit gerät.“ Ich bedankte mich mit einem gequälten Lächeln, erklärte ihm aber gleichzeitig, dass ich ablehnen musste. Wenn ich Binghams Blut annahm, würde Alan mich…

Ich wollte es weder aussprechen noch denken.

„Meine liebe Samantha. Ich glaube, Alan ist im Moment eines deiner geringsten Probleme. Du solltest in Erwägung ziehen, seinen Zorn auf dich zu nehmen. Denke in Anbetracht der vor dir liegenden Ereignisse noch einmal gründlich darüber nach, bevor du dich endgültig festlegst.“ Er nickte knapp und verschwand. Ohne sich meine Antwort anzuhören, die ich ihm eh schuldig geblieben wäre.

Hieß dass, er wusste über Humphrey Bescheid?

Natürlich wusste er es.

Schließlich war sein Sohn unmittelbarer Bestandteil dieser tragischen Geschichte. Warum hatte er Roman eigentlich mit keinem Wort erwähnt? Müsste Bingham nicht wütend sein oder trauern oder so was in der Art?

Na toll, noch mehr Fragen.

Und wie immer keine Antworten.

Ungeduldig seufzend fuhr ich mir mit beiden Händen übers Gesicht, als könnte ich damit alle Befürchtungen vertreiben und alle Fragen vergessen. Es wäre wirklich zu schön gewesen, wenn es tatsächlich funktioniert hätte.

Das Klingeln des Telefons riss mich aus meinen melancholischen Grübeleien. Erst wollte ich es klingeln lassen, da mir das Display nicht mitteilte, wer mich anrief, entschied mich dann aber dagegen.

Ich war neugierig.

„Bricks.“, meldete ich mich, hörte ganz kurz das Atmen am anderen Ende der Leitung, bevor mir diese mit einen leisen Klick und einem schnellen Tuten mitteilte, dass aufgelegt worden war.

Sehr eigenartig.

Ich tröstete mich damit, dass sich jemand verwählt haben musste und hing weiter trüben Gedanken nach. Dabei schlurfte ich von einem Zimmer ins Nächste. Vergewisserte mich, dass alles seine Ordnung hatte. Als ich in meiner Schlafstube den Kleiderschrank inspizierte, aus dem mir die Sachen zuwinkten, die Humphrey mir gekauft hatte, war ich kurz davor in einen verzweifelten Heulkrampf auszubrechen.

Wie sollte ich jemanden töten, der mir so viel bedeutete?

Sollte ich mir einreden, dass die Bestie hinter dem vertrauten Aussehen nicht mehr die Person war, die ich gekannt hatte?

Ach was; einreden… es war so!

Nur konnte und wollte ich das nicht wahrhaben. Bisher war nichts passiert.

Vielleicht würde Humphrey mich nicht jagen.

Vielleicht würde alles gut werden.

Vielleicht waren ich und er eine Ausnahme, da wir nicht alle vier Stufen der Vereinigung vollzogen hatten.

Und vielleicht würde er jeden Moment zu meiner Tür hereinspaziert kommen, mich in den Arm nehmen und mir sagen, dass alles gut wurde.

Ebenso hätte ich mir vorstellen können, vielleicht die Königin von Großbritannien zu werden – wie ich nur 12 Stunden und 27 Minuten später feststellen musste. Und das auf nicht eben dezente Art und Weise…

Nach einem ereignislosen Tag war ich todmüde vom Grübeln zeitig ins Bett gegangen und fast augenblicklich eingeschlafen. Die Sache mit Humphrey machte mir zu schaffen. Ebenso die Gewissheit, dass ich mich in zwei Tagen bei Alan einfinden musste. Wegen des bevorstehenden Rituals: Die Seelen der uralten Wandler in einem Rubin bündeln. Damit sie weiterhin unter Verschluss gehalten wurden. Auf keinen Fall wollte ich die Schuld daran tragen, wenn diese übermächtigen, bösen Kreaturen wieder auf der Erde kreuchten und fleuchten.

Oder auch einfach nur herum standen.

Ich wusste nicht, wie ich Alan, der seinen besten Freund verloren hatte, gegenüber treten sollte. Gleich recht nicht, weil er vorher bei meinen Eltern um meine Hand angehalten hatte.

Irgendwie jedenfalls – ohne mein Einverständnis.

Doch im Moment war das wohl eine meiner geringsten Sorgen. Meine Familie musste in Sicherheit gebracht werden. Auch wenn Humphrey sie möglicherweise nicht kannte. Vielleicht aber doch. Immerhin war er ein Informant.

Gewesen.

Jetzt war er ein bösartiger Dämon, dem ich um Himmels Willen aus dem Weg gehen sollte. Es gab nämlich nur zwei Optionen: Entweder er oder ich.

Keine von beiden gefiel mir.

Dementsprechend wirr und auslaugend waren meine Träume.

Umwendend wachte ich von einem lauten Scheppern auf, das furchtbar in meinen Ohren dröhnte. Gefolgt von einem bösartigen, hämischen Lachen, wie ich es noch nie gehört hatte. Es ließ mir das Blut in den Adern gefrieren.

Eventuell lag letzteres auch daran, dass ich augenblicklich erkannte, wo ich mich befand. Nämlich ganz sicher nicht in meinem Bett.

Das Dröhnen in meinen Ohren war die Kirchturmuhr, die Mitternacht verkündete und von der ich mich keine zehn Meter entfernt auf einem Baum befand.

Jawohl, auf einem Baum!

Nur bekleidet mit meinem Schlafshirt und dem absplitternden, violetten Nagellack auf meinen Fußnägeln. Panisch zitternd hielt ich mich mit aller Kraft an dem Baumstamm fest, der in dieser Höhe nicht annähernd so dick war wie am Boden, zu dem es grob geschätzt 15 Meter waren. Der Ast, auf dem ich stand, sah ebenfalls nicht sonderlich Vertrauen erweckend aus.

Hätte ich nicht immer noch das hämische, unmenschliche Lachen im Ohr, käme mir die Sache wie ein absurder Traum vor. Nur waren die Eindrücke täuschend echt. Ok, Sam, du schaffst das, redete ich mir gut zu, konnte meine zitternden Beine aber nicht dazu animieren sich zu bewegen. Ebenso wenig meine Arme, den sicheren Stamm loszulassen.

War das Humphreys Werk?

Falls ja, welchen Nutzen sollte das haben?

Dass jeder, der mich hier entdeckte, meinen blanken Hintern sah? Ich trug verdammt nochmal keinen Slip! Wollte er mich damit einschüchtern und mir zeigen, dass er mir jederzeit nah kommen konnte, ohne dass ich etwas bemerkte?

Das hatte er definitiv erreicht.

Plus mir eine gehörige Portion Angst einzujagen.

Sofort begleitet von mehr als genug Wut, um eine Kleinstadt in Brand zu setzen. „Jetzt bloß nicht austicken.“, murmelte ich leise. Ich konnte es mir nicht leisten, den Baum anzuzünden, der hier oben viel dünner und schwankender erschien als weiter unten. Wie sollte ich hinunter kommen, ohne der Lacher der Stadt zu werden?

Ich würde mich nie wieder in der Öffentlichkeit zeigen können!

Gott, war mir das peinlich.

Wenn ich nicht solche Angst gehabt hätte, von dem beschissenen, schwankenden Baum zu stürzen, wäre ich bestimmt dunkelrot geworden. So war ich zweifellos käseweiß, mein Puls flatterte, meine Hände schwitzten und fühlten sich gleichzeitig an, als wären sie aus weichem, labberigem Teig.

Ich wusste nicht, welche Aussicht schlimmer war: Mich durch Rufe bemerkbar zu machen – trotz meiner kaum vorhandenen Bekleidung – oder hier zu warten auf… ja, auf was eigentlich? Wer sollte zu meiner Rettung eilen? Humphrey?

Ein schnarrendes, leises Lachen quetschte sich in meine Kehle und wandelte sich dort in ein Schluchzen. Dieses versuchte ich durch tiefes Luftschnappen zu unterdrücken. Es nützte mir rein gar nichts hier oben zu flennen. Ich musste mich konzentrieren und nachdenken. Dazu brauchte ich weder eine laufende Nase noch verschmierte Augen. Es sei denn, ich hätte ein zweites Paar Arme und ein Taschentuch. Dann wäre es mir egal. Hatte ich aber nicht.

Hey!

Eine Leiter wäre auch super.

Oder ein Seil.

Und wenn ich schon mal dabei war, dann könnte ich auch noch an einen Slip appellieren.

Nachdenken, Sam. Nachdenken! Verflixt, ich zitterte! Es ist nur ein Baum. Bei deinen Jobs warst du oft genug auf Bäumen. Du bist bloß geschockt, weil du keine Ahnung hast, wie du hier hochgekommen bist. Also: Mach dich auf den Weg nach unten. Nun ja, mit festen Schuhen wäre es ein Klacks. Zumindest einfacher. Aber ich könnte es schaffen; sofern mich die Äste trugen. Ich musste es schaffen. Die andere Möglichkeit wäre ein am Boden liegender, zerschmetterter Körper. Und da es meiner wäre, war das überhaupt keine Option.

Oh verdammte Scheiße, ich würde mir die Beine aufschürfen.

Die Arme.

Die Hände.

Ah, das würde verflixt wehtun.

Außerdem war es, selbst für Juni, ziemlich frisch. Beinah unangenehm kühl.

Ich holte tief Luft, ging in die Hocke, wobei ich meine Hände langsam am Stamm nach unten gleiten ließ, sah mich nach dem nächsten, einigermaßen fest aussehenden Ast um, hangelte ein Bein hinunter, fasste mit den Händen nach dem Ast, von dem ich nun auch den zweiten Fuß löste und ließ meinen Körper langsam nach unten gleiten. Bis ich etwa zehn Zentimeter über meinem Ziel baumelte. Das Holz knarzte verdächtig, mein Herz schlug bis zum Hals, als ich losließ, mit den Füßen auf dem eine Etage tiefer befindlichen Ast landete und sofort meine Hände um den Stamm warf.

Puh – dem Boden ein Stück näher.

War ich froh, dass niemand unterwegs war und meinen blanken Hintern sowie andere Teile meiner Anatomie bewundern konnte.

Fest biss ich die Zähne zusammen, damit ich nicht anhaltend fluchte und machte weiter. Ast für Ast arbeitete ich mich nach unten. Dabei fand ich mich trotz ängstlich pochendem Herzen und nacktem Hintern sehr behände. Fast schon anmutig. Die Haut riss ich mir trotzdem auf.

Endlich trennten mich nur noch knapp fünf Meter vom Boden, die ich mit einem Sprung überwand.

Wie gut, dass ich zu den movere gehörte. Sonst hätte ich mir sämtliche Knochen gebrochen.

Zischend atmete ich aus, wobei ich versuchte, das zwickende, ziepende Brennen der Schürfwunden zu ignorieren.

Schön und gut; ich war unten. Das hieß nur blöderweise nicht, dass ich daheim war. Schlimmer noch: Von oben hatte ich gedacht, es läge an meiner kurzzeitigen Panik, dass mir die Umgebung unvertraut war. Selbst der Kirchturm war nicht in meinem Gedächtnis gespeichert. Das hatte ich alles dem vorübergehenden Schock zugeordnet.

Tja, leider hatte ich falsch gelegen.

Ich hatte verflucht nochmal keine Ahnung, wo ich mich befand. Jedenfalls nicht in meiner Stadt!

Schnell verteilte ich imaginäre Ohrfeigen, damit ich bloß nicht anfing zu hyperventilieren.

Oder durchzudrehen.

Ich war ein movere, verdammt nochmal! Einbruchsspezialistin! Ein Klacks für mich, ins nächste Kaufhaus zu spazieren und mir ein paar… äh… dezentere Klamotten zu besorgen. Schließlich war das ein Notfall. Jetzt müsste ich nur noch herausfinden, wo sich das nächste Kaufhaus befand.

Normalerweise nahm ich meine Umgebung sehr deutlich wahr. Gut, normalerweise befand ich mich auch nicht in einer wildfremden Stadt vor einem Baum, von dem ich eben erst heruntergeklettert war. Kein Wunder, dass ich nicht hörte, wie sich zwei Personen näherten. „Guten Abend. Können Sie sich ausweisen?“

Mich… ausweisen?

Abrupt schlief mir das Gesicht ein. Mein Herz hörte kurz auf zu klopfen, bevor es mit Anlauf davon stürmen wollte. Langsam schluckend drehte ich mich um. Zwei Uniformierte. Super, das hatte mir gerade noch gefehlt. Der größere der beiden musterte mich mit einem schiefen Lächeln, wobei er einen abgebrochen Vorderzahn offenbarte. Der Blick des kleineren war wesentlich strenger. Ich kam mir wie eine Aussätzige vor.

Eine halbnackte Aussätzige.

„Wohl eher nicht.“ Er schnalzte mit der Zunge, während er meine Verletzungen betrachtete. „Können Sie uns erklären, was Sie mitten in der Nacht in diesem Aufzug planen?“ Schluckend schüttelte ich den Kopf. Es wäre toll, könnte ich auf Kommando in Tränen ausbrechen. Aber ich war keine allzu überzeugende Schauspielerin. Natürlich könnte ich den Typen entkommen, aber wozu? Bei meinem Glück stuften sie mich als gefährlich ein und schossen auf mich.

Ich war vieles, aber nicht kugelfest.

Und ihre Chakren zu beeinflussen bedeutete ohnmächtig zu werden.

„Dann ist es das Beste, wenn Sie uns begleiten.“ Ich nickte langsam und setzte einen Fuß vor den anderen, direkt auf das schicke Polizeifahrzeug zu, das nur ein paar Meter entfernt parkte.

Oh heilige Maria Mutter Gottes in Hotpants!

Hatten die etwa gesehen, wie ich vom Baum geklettert war? Kein Wunder, dass sie mir keine Decke anboten oder mich – tendenziell – für ein Gewaltopfer hielten. Fast hätte ich die beiden um einen Spaten gebeten, um mir ein tiefes Loch zu graben. Gott sei Dank fehlte mir dazu im Moment der nötige Biss. Womöglich hielten die mich dann ernsthaft für bekloppt und lieferten mich in die nächste Heil- und Nervenanstalt ein.

Es war fünf Uhr am Nachmittag, als ich endlich wieder daheim war. Wenigstens hatten sie mir eine Jogginghose gegeben, auch wenn es mich einige Überwindung gekostet hatte, diese anzuziehen. Eine Stunde lang war ich befragt worden, was ich auf dem Baum zu suchen hatte; noch dazu in meiner spärlichen Bekleidung. Ich hatte keine Erklärung liefern können.

Zumindest keine, die sie mir abkauften. Mal ehrlich: Mich wollte ein Dämon einschüchtern, wäre zwar die Wahrheit, würde mir aber keiner der beiden abkaufen. Selbst wenn die Gegenwart von Dämonen schon seit über einem halben Jahrhundert keine Neuigkeit mehr war.

Nachdem sie meine Daten überprüft hatten, wurde ich in ein kleines Zimmer mit einer Pritsche gebracht. Auf der hatte ich bis zum Morgen mehr recht als schlecht geschlafen. Da ich mich weigerte jemanden anzurufen, wurde ich am Nachmittag endlich heim chauffiert. Die Rechnung würde man mir demnächst zuschicken.

Haha.

Die war wohl mein geringstes Problem.

Ich musste dringend etwas unternehmen. Sowas durfte kein zweites Mal passieren. Ich musste meine Familie davon in Kenntnis setzen, dass sie zur Zielscheibe eines Irren werden könnten. Mit einer Wahrscheinlichkeit von… sagen wir 179 Prozent. Ich hatte nur noch keinen Plan, wie ich das Thema auf den Tisch bringen sollte. Humphrey hatte die Jagd offiziell eröffnet: Indem er mir zeigte, dass er mir überall auflauern und tun konnte, wonach ihm beliebte.

Unter anderem mich mitten in der Nacht halbnackt auf Bäumen abzusetzen.

Er wollte mich nicht sofort töten. Das hatte ich begriffen, da er mich absichtlich in eine Lage gebracht hatte, die an meinem Selbstbewusstsein kratzte. Natürlich hatte er gewusst, dass ich vom Baum herunterkäme. Doch der richtige Ärger begann ja auch erst, als ich unten angekommen war.

Würde er jedoch meine Mutter oder meinen Vater oder sonst wen aus meiner Familie auf einem Baum absetzen… ich wollte gar nicht daran denken.

Vor Wut kochend ballte ich meine Hände zu Fäusten. Was, wenn er es zuerst auf die Kinder abgesehen hatte? Wie konnte ich sie aus seiner Reichweite bringen? Spline? Ich bezweifelte, dass meine Familie freiwillig dorthin ginge. Aber dort wäre sie sicher – hatte mir der damals noch nicht durchgeknallte Humphrey gesagt.

Einigermaßen sicher!

Abgesehen von ein paar Gebäuden, die sie als Happen zwischendurch ansahen. Doch sicher vor Humphrey. Würden sie mir überhaupt glauben? Viel wichtiger waren andere Fragen. Wäre Humphrey wirklich nicht in der Lage, ihnen dahin zu folgen? Wurden – im Gegensatz zu mir – seine Energie und Magie dort gedämpft? Gott, ich musste auch Alan informieren. Und der würde keinen Fuß nach Spline setzen.

Noch nicht mal eine klitzekleine Kralle.

Sollte ich mit Maya reden? Auch sie war mir wichtig. Wenn auch nicht annähernd so wichtig wie einst Laura.

Noch schlimmer war, dass ich besser nicht mit Alan zusammen war. Schließlich war nach wie vor nicht geklärt, wer sich an meinem Haus zu schaffen machte und aus welchem Grund. Die Ker-Lon schloss ich aus einem Bauchgefühl heraus aus. Die würde keinesfalls, selbst wenn sie nicht inzwischen die Blumenzwiebeln von unten ansähe, mit Metha getränkten Ziegelsteinen meine Scheiben einwerfen.

Metha war eine Designerdroge, die Menschen dermaßen glücklich sein ließ, dass sie sich vor Lachen kringelten. Bei Gestaltwandlern hingegen löste sie reinste Raserei aus.

Nein, die Ker-Lon sänke nie so tief, dass sie dieses Mittel hätte einsetzen müssen. Da steckte jemand anderes dahinter.

Prima.

Also nicht nur zwei oder drei Probleme, sondern vier oder fünf.

Wozu zählte ich die überhaupt? Ich wusste nicht, wie ich eins davon lösen konnte; geschweige denn alle zusammen.

Die Wut in mir entlud sich nicht wie erwartet mit einem lauten Schrei, sondern mit einem leisen Wimmern, was mich kraftlos in die Knie sinken ließ. Vielleicht sollte ich mich einfach auf die Straße stellen und von einem Bus überfahren lassen.

Dann würde Humphrey die Lust an der Jagd vergehen.

Aber ich hing verdammt nochmal an meinem Leben!

Doch wie sollte ich mit dem Wissen umgehen, dass Leute meinetwegen sterben würden? Menschen, die ich liebte. Meine Familie möglicherweise sogar zuerst. Das hier war erst der Anfang. Es würde schlimmer kommen.

Viel schlimmer.

Ich hatte ehrlich keine Ahnung, was ich dagegen unternehmen sollte. Verflucht, ich mochte es ganz und gar nicht, dermaßen hilflos zu sein!

Homo sapiens movere ~ gejagt

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