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Der Vorfall der vorletzten Nacht schwelte in meinem Kopf wie eine tickende Bombe. Nur mit großer Anstrengung gelang es mir, mich auf das bevorstehende Ritual einzupendeln. Vor einer Stunde war ich auf Alans Anwesen eingetroffen, hatte jedoch ein gemeinsames Essen abgelehnt. Nun lag ich in einer bis zum Rand gefüllten Wanne und wusch mich mit der nach Sandelholz duftenden Seife. Ich brächte beim Essen sowieso keinen Bissen hinunter.

Alan würde sofort wissen, dass etwas nicht stimmte.

Schließlich kannte er meinen gesunden Appetit.

Natürlich musste ich ihn in die Geschehnisse einweihen. Nach dem Ritual. Er sollte einen klaren Kopf behalten. Außerdem fürchtete ich ein wenig seine Reaktion, die nicht vorhersehbar war.

Er könnte wütend sein.

Oder besorgt.

Oder etwas Dummes, Impulsives tun.

Daher war es besser, meine Sorgen noch eine Weile zu verdrängen. In dem warmen Wasser mit dem angenehmen Duft fiel mir das ziemlich leicht.

Verdammt!

Was, wenn Humphrey während des Rituals angriff? Das käme einer Katastrophe gleich. Zutiefst beunruhigt tauchte ich in dem warmen Wasser unter und sofort wieder auf. Bunte Kringel tanzten vor meinen Augen, die ich weg blinzelte. Ich durfte nicht in Panik geraten. Noch viel weniger durfte ich darauf vertrauen, dass Humphrey in seiner Rachsucht klar dachte. Wäre es ihm egal, wenn die Wandler freikämen? Verzweifelt schüttelte ich meinen Kopf, in dem sämtliche Bedenken gegeneinanderprallten und eine Massenkarambolage verursachten.

Was sollte ich bloß tun?

Das Badewasser wurde allmählich kalt. Und ich fühlte mich immer mehr wie ein klitzekleiner Fisch, der im trüben Gewässer die Orientierung verloren hatte und sich nun vor dem Angriff eines Raubfischs fürchtete. Nach einem kurzen Klopfen an der Tür trat Alan in das Bad; ohne auch nur ansatzweise meine Antwort abzuwarten.

Scheiße, ich hätte nackt… oh verflucht, ich war nackt!

„Ich dachte, du bist in der Wanne eingeschlafen.“, meinte Alan mit einem Lächeln, was mich an dem Wahrheitsgehalt seiner Aussage zweifeln ließ. „Wie du siehst, bin ich es nicht.“ Er trat näher. Mein Herz hüpfte ihm fröhlich trällernd entgegen. Oder wohl eher meine verräterischen Hormone.

Mistviecher!

„Soll ich dir den Rücken schrubben?“ Lässig zog ich meine Augenbraue in die Höhe. „Danke, nein. Ich wollte eben das Wasser ablassen.“ Er nickte. Anstatt zu gehen, griff er nach der Handbrause und drehte diese auf; kurz nachdem er den Knopf betätigt hatte, der den Stöpsel anhob, um das Wasser abfließen zu lassen. „Ich kann das allein.“ Wieder nickte er. „Ich weiß.“ Nonchalant stand er da, während das abfließende Wasser immer mehr meines Körpers freilegte.

Schön.

Wie er wollte.

Augen rollend erhob ich mich und ließ mich von Alan abduschen. Dabei sah ich ihm direkt in die Augen und erkannte mit Genugtuung, dass er mich mit Blicken verschlang.

Kurz darauf drehte er die Brause ab und griff nach einem großen Handtuch, in das er mich einwickelte und aus der Wanne hob. Keinerlei Kraftanstrengung für ihn. Als wöge ich nicht mehr als ein Wollknäuel. Er hielt mich eine Spur zu lang fest, ehe er begann, mich mit kreisenden, sanften Bewegungen trocken zu rubbeln. Daran könnte ich mich durchaus gewöhnen.

Ein zufriedenes Seufzen kroch aus meinem Mund.

Dann erinnerte ich mich jedoch, wo ich war, wer hinter mir stand und was ich ihm zu sagen hatte. „In einer halben Stunde ist es soweit.“ Ich nickte und griff nach dem kleinen Handtuch, das er wie einen Turban um meinen Kopf geschlungen hatte. Alan drehte mich zu sich herum, wobei er das große Handtuch von meinen Schultern gleiten ließ. Er streichelte meine Schultern und meine Arme, über die sofort eine Gänsehaut krabbelte.

Begleitet von winzigen Funken meiner Energie.

Schließlich umfing er meinen Nacken. Ganz langsam beugte er sich vor, strich sanft mit den Lippen über meine, und ich gab mich für den Moment dieser Zärtlichkeit hin. Wer weiß, wie viel Zeit uns noch blieb.

Warum sollte ich mich länger gegen diese Anziehungskraft wehren?

Ich mochte ihn.

Ein wenig.

Was er für mich empfand, wusste ich nicht.

Noch nicht.

Ich hoffte, dass mir genug Zeit blieb, es herauszufinden. Ziemlich schwachsinnig, oder?

Ich öffnete meine Lippen, die er mit seiner Zunge um Einlass bat und gab mich völlig dem Gefühl hin, welches mich dabei durchströmte. Alan küsste verdammt gut. Bisher hatte er mich jedes Mal verschlungen. Doch diesmal lag eine sanfte Intensität darin, die ich von ihm nicht gewohnt war. Schwer atmend löste er seine Lippen von meinem, zog mich enger an sich, so dass ich seine pulsierende Erregung deutlich spürte, vergrub sein Gesicht an meinem Hals, atmete tief meinen Duft ein und schob mich schließlich langsam von sich.

Sein Blick war vor Begierde verschleiert.

Seine Augen dunkel vor Verlangen.

„Du solltest dich anziehen.“, sagte er mit einer Stimme, die einige Nuancen tiefer als gewöhnlich war. Zögernd trat Alan einen Schritt zurück, schloss kurz die Augen, atmete angespannt aus, drehte sich um und verließ das Bad.

Ich fragte mich, ob er unter anderen Umständen diese Chance genutzt hätte. Wahrscheinlich. Das Ritual war jedoch wichtiger als sein Verlangen.

Oder meines.

Dass ich ihn ebenso wollte, konnte ich nicht abstreiten. Leider passte dieses Begehren überhaupt nicht in mein Konzept. Besonders nicht, weil er gedachte, mich zu heiraten. Dabei hatte er mir nicht mal einen Antrag gemacht, sondern holterdiepolter meinen Vater um meine Hand gebeten.

Sehr, sehr altmodisch.

Als hätte ich kein Wörtchen mitzureden.

Vermutlich hatte ich das in seinen Augen auch nicht. Tja, ich würde ihn eines Besseren belehren. Ich wollte meinen Spaß haben, mich aber keinesfalls binden.

Nicht sofort.

Und nicht an ihn.

Denn falls ich jemals heiratete, dann nur einen Mann, der mich nicht nur vor Leidenschaft glühen ließ, sondern dem ich vertrauen konnte.

Den ich liebte.

Der dasselbe für mich empfand.

Sofern ich überhaupt so lange lebte.

Nach dem Ritual, was ohne Zwischenfälle ablief, fühlte ich mich derart beschwingt und zufrieden, dass ich vergaß Alan, in das Geschehen der vorangegangenen Nacht einzuweihen. Erst als ich wieder daheim war, erinnerte ich mich an mein Vorhaben. Natürlich hätte ich bei Alan übernachten können. Ich wusste nur zu genau, dass dort eins zum anderen gekommen wäre. Doch da ich keinerlei Ambitionen verspürte an den Feierlichkeiten nach dem Fest teilzunehmen, war ich Alans Anziehungskraft entkommen.

Bevor es zu spät gewesen wäre.

Noch immer fühlte ich mich berauscht von den Vorgängen des Rituals. Das gemeinschaftliche Denken und Empfinden summte in mir wie ein nachhallendes Echo. Ein bisschen, als wäre ich beschwipst.

Seltsam, dass ich mich nicht erinnerte, dasselbe im Dezember gefühlt zu haben.

Vielleicht, weil ich damals zu bedrückt gewesen war.

Sowohl über Lauras Tod als auch wegen Alans Verrat. Freilich hatte ich damals nicht ansatzweise geahnt, wie weitreichend der tatsächlich war.

Mit einem verklärten Lächeln im Gesicht schwebte ich durch die untere Etage und bereitete mein verspätetes – sehr, sehr spätes – Abendbrot zu, das wenig kalorienarm ausfiel. Dann packte ich die riesige Portion Pommes samt Steak und Bohnen auf meinen Teller und trabte – immer noch das dümmliche Grinsen im Gesicht – in meine Wohnstube, in der ich es mir vor dem Fernseher bequem machte. Nachdem ich das Essen regelrecht verschlungen hatte, holte ich mir eine Flasche Rotwein, köpfte sie und befüllte ein Glas bis zum Rand. Im Fernsehen lief nichts Gescheites.

Wie so oft.

Kurzerhand warf ich eine DVD in den Player. Altmodisch, ich weiß. Klar verfügte ich auch über Video-Bild-Speicher-Chips, die mit jedem gängigen Fernsehgerät abgespielt werden konnten. Aber die meisten Filme für die ich schwärmte, gab es nicht auf VBSCs. Nun ja, gäbe es schon. Ich müsste sie lediglich auf den PC überspielen und von diesem auf die Chips. Doch insgeheim war ich stolz auf meine Sammlung alter DVDs und den alten Player, der gut und gerne 150 Jahre auf dem Buckel hatte. Dank meiner Fähigkeiten als movere lief er immer noch wie am Schnürchen. Und dank eines guten Bekannten – ebenfalls ein movere – blieben auch die DVDs intakt.

Warum also sollte ich mir die Mühe machen und die Daten übertragen?

Die Entspannung ließ nicht lange auf sich warten.

Tatsächlich war ich so entspannt, dass ich schon nach einer halben Stunde auf meiner Couch einschlief. Bestimmt hätte ich bis zum Morgen durchgeschlafen. Wären nicht gegen drei zwei meiner Scheiben zu Bruch gegangen.

Durch Ziegelsteine.

Hey, ich war schnell und sogar nahezu graziös für jemanden, der aus dem Tiefschlaf gerissen wurde!

Aber leider nicht schnell genug.

Ehe ich von der Couch aufgesprungen war, meinen Herzschlag in Schwung brachte, meine Augen dazu animierte aufzuklappen, dank meiner Gabe das Licht anmachte und mich vorsichtig zur Fensterfront bewegte, um auf keinen Splitter zu treten, war das Auto längst außer Sichtweite. Zu schade, dass ich weder fliegen noch teleportieren konnte. Ansonsten wäre ich jetzt der Beifahrer dieses dämlichen Steinewerfers und würde ihm, sobald er anhielt, die Scheiße aus dem Spatzenhirn prügeln.

Fassungslos fluchend besah ich das Schlamassel.

Was für ein Timing!

An jedem anderen beschissenen Tag waren mehrere Rudelleute abgestellt, um mein Haus im Auge zu behalten. Nur heute nicht.

Wegen des Rituals.

Entweder wusste der Steinewerfer das oder hatte abgewartet, bis niemand mich bewachte. Wozu hatte ich die Fenster neu einsetzen lassen?

Richtig!

Weil Holz nicht durchsichtig war.

Aber das war verdammt nochmal bruchsicher!

Schnaubend, fluchend und mir tausende Folterarten für diese blöde Arschgeige ausdenkend, die fremder Leute Eigentum zerstörte, machte ich mich daran das Chaos zu beseitigen. Die Steine entsorgte ich mit spitzen Fingern in eine Mülltüte, die ich mit Klebeband verschloss und anschließend in die Mülltonne verfrachtete.

Wer zum Henker musste ständig meine Scheiben einwerfen? Noch dazu mit Ziegelsteinen, die in Metha getränkt waren und Alan so richtig durchdrehen lassen würden? Diesmal würde ich darauf verzichten, ihn oder einen anderen Wer daran schnüffeln zu lassen. Ich ging davon aus, dass sich – wie schon bei den letzten Malen – die Droge an den Steinen befand.

Zumindest konnte ich die Ker-Lon ausschließen.

Sowohl die Frau als auch Humphrey.

Die hatten ganz andere Möglichkeiten. Scheiben einzuwerfen rangierte überhaupt nicht in deren Repertoire. Zudem war es viel zu bekloppt, als es irgendeinem Andersweltler in die Schuhe zu schieben. Nein, ich ging davon aus, dass es sich um einen Menschen handelte. Jemandem, der sowohl mit mir als auch mit Alan ein Hühnchen zu rupfen hatte.

Warum dann aber immer mein Haus?

Und warum nur, wenn Alan nicht anwesend war?

Sehr, sehr suspekt.

Zerknirscht ging ich nach oben in den Speicher und beförderte von dort – mit sehr kreativen Flüchen und angestrengtem Ächzen – nacheinander zwei Schranktüren nach unten, mit denen ich provisorisch die gähnenden Fensterlöcher vernagelte. Allmählich fragte ich mich, ob es überhaupt Sinn machte die Scheiben zu ersetzen. Zumindest solange der dafür Verantwortliche nicht gefasst und verhört – gefoltert, geteert und gefedert – war. Außerdem fragte ich mich, warum Gestaltwandler schon auf den Geruch von Metha reagierten, während Menschen diese Droge einnehmen mussten, um eine Wirkung zu erzielen.

Ob man darüber den Täter finden konnte?

Unwahrscheinlich.

Nur ein Idiot gab seinen Namen an, wenn er Metha kaufte. So viel Grips gedachte ich dem Werfer zu. Obwohl allein die Aktion hirnrissig war.

Eigentlich war der Wein, der noch immer auf dem Tisch stand, viel zu gut, um damit meinen Ärger hinunterzuspülen. Das hielt mich jedoch nicht davon ab, die Flasche anzusetzen und genau das zu tun. Davon wurde ich zwar nicht betrunken, aber es ging mir hinterher verdammt nochmal viel besser. Die Wärme, die sich in meinem Bauch ausbreitete, war sogar recht angenehm, so dass ich – meine Wut in der Wohnstube lassend – die Treppe nach oben schlurfte, mich in mein Bett warf und augenblicklich wieder einschlief.

Leider nicht lange.

Laut meinem Wecker war es noch nicht mal sechs, als ich beinah sanft von Josh geweckt wurde.

Also… für seine Verhältnisse sanft.

Abrupt saß ich im Bett und sah ihn mit riesengroßen Augen an, die aber sofort winzig klein wurden. Herr Gott, war ich müde. „Bei dir alles ok?“ Es war 5.24 Uhr; und er fragte mich, ob alles ok war?

Konnte das nicht bis um acht warten?

Oder bis um zehn?

Ich nickte, weil meine Stimmbänder noch schliefen und ich kaum mehr als ein Krächzen zustande gebracht hätte. „Gut. Deine Fenster sind wieder kaputt.“ Nein sowas! Das wusste ich schon.

Hatte er mich deswegen geweckt?

Ich wollte eben meine Stimme wecken und ihn empört fragen, weswegen er mich nicht einfach schlafen ließ, als er mir erklärte, dass das Rudel angegriffen worden war.

Meine nächste Frage blieb mir im Hals stecken. Warum mich das interessieren sollte, wurde nämlich durch zwei klitzekleine, tonnenschwere Worte aufgeklärt. „Der Briam.“

Ob es auffiel, wenn ich mich unter der Bettdecke versteckte und so tat, als wäre ich gar nicht da? „Das… tut mir leid.“, krächzte ich. „Gab es Verletzte?“ Josh nickte. „Alan möchte, dass du zum Anwesen kommst. Wegen der Heilungszeremonie.“ Ich war noch nicht wirklich munter, als ich in frische Klamotten schlüpfte. Aber genug desillusioniert, um zu begreifen, dass Humphrey jetzt ernst machte.

Ich kapierte bloß nicht, warum er sich zuerst das Rudel vornahm.

Gleichzeitig durchfuhr mich der Schrecken, dass er schon bei meiner Familie gewesen sein könnte. Deshalb bat ich Josh, kurz am Haus meiner Eltern vorbeizufahren. Das Vorhaben blies ich schnell wieder ab. Ich würde von außen nichts sehen. Andererseits könnte ich klingeln. Aber wenn es ihnen gut ging, würden sie sich nur Sorgen machen.

Himmel, Arsch und Wolkenbruch, das war so verkehrt! Zitternd folgte ich Josh zum Auto, stieg ein, schnallte mich an und krallte meine Nägel in den Sitz, als Josh wie der Teufel persönlich zum Garuschen Anwesen fuhr.

Ich überlegte, ob ich eine Lebensversicherung abschließen sollte oder ob es dafür schon ein bisschen zu spät war.

Niemand erwartete uns am Anwesen oder hielt uns auf, als Josh durch das Tor brauste, das wie von Geisterhand geöffnet und hinter uns wieder verschlossen wurde. Er bremste scharf. Schlitternd brachte er das Auto direkt vor dem Eingang zum Stehen. Ich zitterte jetzt noch ein wenig mehr und brauchte etwas länger als Josh, um den vermaledeiten Gurt zu öffnen. Doch so wie ich ihn offen hatte, eilte ich Josh hinterher ins Haus.

Was mich dort erwartete, traf mich wie ein Schlag ins Gesicht.

Mit einer Keule.

Einer verdammt riesigen Keule!

Überall lagen Verletzte. Das waren nicht nur ein paar Schürfwunden oder Prellungen. Das war weitaus schlimmer. Aufgerissene Bäuche.

Abgerissene Gliedmaßen.

Blut.

So viel Blut.

Stöhnen.

Schreie.

Ich hatte Mühe, den Inhalt meines Magens bei mir zu behalten. Mühsam folgte ich Josh in den Salon, darauf bedacht, weder auf einen der Verletzten zu treten noch auf dem Blut auszurutschen. Drinnen ging es weiter.

Mein Gott!

Wie viele waren das? Und warum waren sie alle in ihrer menschlichen Gestalt?

Alan.

Mein Herz setzte einen Moment aus, als ich ihn sah. Er presste seinen rechten Arm auf eine tiefe Bauchwunde, aus der seine Gedärme hervorquollen. Sein linker Arm sah aus, als wären ihm sämtliche Knochen abhanden gekommen. Blut lief ihm übers Gesicht. Seine linke Kopfhälfte ließ vermuten, dass jemand versucht hatte ihn zu skalpieren. Seine Augen bohrten sich in meine.

Nicht bernsteinfarben.

Nicht dunkel.

Sondern vollkommen schwarz. In ihnen erkannte ich keinen Schmerz, sondern Wut.

Ungläubigkeit.

Den Wunsch nach Rache.

Mein Gewissen schlug mir geifernd ins Gesicht. Hätte ich ihm nur gesagt, dass ich auf einem Baum aufgewacht war. Vielleicht… Nein, dafür war es zu spät. „Was kann ich tun?“ Josh führte mich in den kleinen Salon. Weg von den verletzten, halb toten Gestaltwandlern. Hin zu einer kleinen Gruppe, die ihm Kreis saß. Die Füße untergeschlagen, sich an den Händen haltend, die Augen geschlossen und leise meditierend. Unaufgefordert schloss ich mich ihnen an, öffnete ihnen mein Bewusstsein und wurde eins mit den magischen Kräften, die jetzt ihre Arbeit verrichteten.

Es war anders als die Vereinigung während des Bannrituals. Vielleicht, weil ich mich immer noch als eigenständige Person fühlte. Andererseits war es gar nicht so verschieden. Ich spürte, wie wir unsere Energien bündelten. Als Saphi hatte ich glücklicherweise mehr als genug davon.

Die teils gesprochenen, teils gesummten Worte, die aus mir sprudelten – wenn ich sie auch weder verstand noch auch nur die leiseste Ahnung hatte, woher ich sie eigentlich wusste – stärkten die Magie. Ließen sie potentiell anschwellen, bis sie wie ein großer, blaugrüner Teppich waberte und sich über den kleinen Salon auszustrecken begann.

Durch dessen Wände hindurch.

Ich spürte, wie weitreichend, wie groß, wie mächtig diese Heilenergie war. Dadurch fühlte ich mich unendlich viel kleiner. Allmählich verebbten die Schreie. Oder ich hörte sie einfach nicht mehr.

Aber ich sah!

Arterien und Venen, die sich verbanden. Muskelstränge und Haut, die zusammenwuchsen. Knochen, die sich zusammensetzten. Nervenbahnen und Sehnen, die zueinanderfanden. Nägel, Haut und Haare, die sich neu bildeten. Blut, dass rasend schnell erneuert wurde. Ich sah jeden mühsam gewonnen Herzschlag, der sich stetig normalisierte. Sah jedes Ausdehnen eines Lungenflügels, das Füllen der Lunge mit Sauerstoff, die Anreicherung des Blutes mit demselben. Ich sah Chakren, die aufflammten und zu dem Sternennetz wurden, dass ich kannte.

Nach einer gefühlten Ewigkeit war es vollbracht.

Schwerfällig öffnete ich meine Augen und wurde geblendet von strahlendem Sonnenschein. Obwohl ich wissen wollte, ob die anderen tatsächlich geheilt und über dem Berg waren, kippte ich nach hinten und holte den Schlaf nach, den ich dringend brauchte. Dieses Wunder, sofern es denn vollbracht war und nicht nur in meiner Einbildung existierte, hatte mich meine ganzen Kraftreserven gekostet.

In einem großen, weichen Bett wachte ich auf. Ich brauchte nicht lange, um zu wissen, wo ich war. Jedoch hätte ich nicht erwartet, je wieder in diesem Zimmer zu sein.

Diesem Bett.

Oder besser ausgedrückt: So schnell.

Starke Arme umfingen mich und hielten mich fester, als notwendig war. „Alles gut, Baby?“ Alan nannte mich Baby? Hatte er eine Kopfverletzung gehabt? Erinnere dich, los! Seine Kopfhaut war auf der linken Seite abgerissen gewesen und hatte wie ein Lappen heruntergehangen. Sein Schädel an sich war jedoch intakt gewesen.

Glaubte ich.

Himmel hilf, ich wollte mich nicht umdrehen und ihn ansehen. Wer weiß, was mich erwartete. Mein Magen schlingerte schon bei der Erinnerung daran verdächtig genug.

Krächzend brachte ich ein ‚Hm, denke schon.’ zustande, woraufhin er mich noch fester an sich drückte. „Luft!“, keuchte ich, während ich besorgt lauschte, ob meine Rippen knackten. Er lockerte seine Umarmung ein wenig. „Ich hatte Angst, dass er sich nach dem Überfall auf das Rudel an dich heranmacht. Geht es dir wirklich gut?“ Ich nickte, auch wenn ich mir dessen nicht ganz sicher war.

Humphrey hatte all diese Were verletzt.

Anscheinend sehr schnell und ohne selbst dabei Schaden zu nehmen. Bloß gut, dass Ribberts Leute nicht ebenfalls in Mitleidenschaft gezogen waren. Die waren zu dem Zeitpunkt wohl schon alle weg gewesen. Zumindest hatte ich keinen von Ribberts Rudel entdecken können… zwischen all dem Blut… und anderen Dingen.

Alan musste zu Recht vermuten, dass Humphrey anschließend mich heimsuchte. Ich sollte anfangen, von Humphrey mit seinem richtigen Namen zu sprechen. Sael, so hatte ihn die Ker-Lon genannt. Vielleicht fiel es mir dadurch leichter, ihn als Monster zu betrachten. Als Humphrey hatte er nicht dazu tendiert, solche Scheiße zu veranstalten. Sael – ein Name, der in mir keinerlei Gefühle hervorrief – war sozusagen die andere Seite der Medaille. „Ich habe gehört, deine Fenster sind wieder kaputt.“ Eine Feststellung; keine Frage. Trotzdem nickte ich. „Ich bin froh, dass du unverletzt bist. Er hat über hundert meiner Leute erwischt, Sam. Und nochmal genau so viele verletzt. Wir haben ihn kaum richtig sehen können. Oder hören. Er war wie ein Schatten. Eingehüllt in Dunkelheit. Ich denke, er ist nicht mal ins Schwitzen gekommen. Und dieses Lachen…“

Ich spürte, wie Alan schauderte.

„Die Zeit, bis Josh mit dir hier war, war die Hölle für mich.“ Ich erfuhr, dass Josh zum Zeitpunkt des Angriffs im Keller gewesen war. Schwein gehabt… sozusagen.

„Tut mir leid. Ich wollte das alles nicht. Es ist alles meine Schuld.“ Alan strich sanft über meine Haare und begann mich in seinen Armen zu wiegen wie ein ängstliches Kind. „Schh, nein. Sag sowas nicht. Ich hätte ihn vernichten sollen, als ich die Möglichkeit dazu hatte. Aber ich habe gezögert, weil er mein bester Freund war.“ Ha, bloß gut, dass Alan mein Stirnrunzeln nicht sah. Das waren schon keine Furchen mehr, das waren Gräben!

Hatte Humphrey ihn verzaubert, so wie er mit Hilfe von Magie meine Gefühle verändert hatte?

Oder hatte ich etwas vergessen?

„Ich habe zwar etwas gegen Fiats Nest, aber ich denke, ich sollte meine Leute dorthin bringen. Zumindest den Großteil von ihnen. Er kann ihnen nicht nach Spline folgen. Nur ein paar werden noch hierbleiben und sich um das Notwendigste kümmern. Du solltest auch mitgehen.“

Wie kam Alan auf die Idee, nach Spline zu gehen?

Humphrey hatte es mir so leise mitgeteilt, dass Alan das unmöglich gehört haben konnte. Oder doch? Und was war mit meiner Familie? Sollte sie etwa hier bleiben? „Warum denkst du, er folgt uns nicht?“ Alan lachte schwach. „Vampire gehen nicht nach Spline.“ Das mochte sein, aber Humphrey war keiner.

Alan müsste das wissen!

„Humphrey ist ein Ker-Lon, Alan. Ich bin mir nicht sicher, ob für ihn dasselbe…“ Alan versteifte sich spürbar hinter mir, als hätte ich ihn geschlagen. „Sam? Ich rede nicht von deinem Briam. Ich rede von Roman.“ Ach du Scheiße! Hieß das, hinter uns waren zwei wütende Briam her? Wütend – haha… Ich meinte natürlich völlig ausgetickte, unberechenbare, mörderische Kreaturen. „Wir haben es mit zweien dieser Sorte zu tun?“ Alan bat mich eindringlich, ihn anzusehen, wobei er mich weiterhin versuchte durch Streicheln meiner Haare, meiner Arme und meines Kopfes zu beruhigen. Vermutlich hätte noch nicht mal eine LKW-Ladung Baldrian geholfen.

Auf alles gefasst, drehte ich mich zu ihm um.

Sein Kopf und sein Gesicht schienen erstaunlich normal. Nur seine Haare waren sehr kurz geschoren. „Sam. Du musst mich vorige Woche falsch verstanden haben. Uns jagt nur ein Briam. Und das ist Roman.“

Wenn Roman uns jagt, bedeutet das ...

Jegliche Farbe floh aus meinem Gesicht. Ich musste blinzeln, um die Tränen zurückzuhalten. Ich wusste nicht, was schlimmer war: Zu fürchten, von Humphrey gejagt zu werden und diesen töten zu müssen oder zu wissen, dass er längst tot war.

Humphrey.

War.

Tot.

Diese Erkenntnis hatte den Effekt eines riesigen Mühlsteins, der mir erst auf den Kopf schlug und dann auf meinem Brustkorb liegen blieb. Das Zimmer schien auf einmal viel zu wenig Sauerstoff zu haben.

Und definitiv keine Heizung.

Ich schnappte zitternd nach Luft, aber verlor den Kampf gegen die plötzlich ausbrechende Trauer. Alan hielt mich fest, während ich sein Shirt mit Tränen ertränkte und er mir immer wieder zuflüsterte, wie leid es ihm tat und wie sehr er bedauerte, dass ich es erst jetzt verstand.

Ich brauchte eine ganze Weile, um mich – zumindest äußerlich – zu beruhigen. Tief in mir drinnen würde ich jedoch noch einige Zeit brauchen, um den Verlust zu verstehen und zu verarbeiten. Denn unmittelbar nach meinem letzten Schluchzer wurde mir klar, dass nicht Humphrey mich auf einem Baum abgeladen hatte, sondern Roman.

Aber wenn er Alan wehtun wollte, warum hatte er mich dann verschont?

„Oh Gott…“ Ich vergrub mein Gesicht an Alans nassem Shirt und erzählte ihm stockend von meinem Erlebnis. Gleichzeitig entschuldigte ich mich, dass ich ihm nichts gesagt hatte. „Es hätte nichts geändert, Sam. Du kennst mich doch. Ich hätte mein Rudel nicht nach Spline beordert.“ Ja, das stimmte. Erst wenn Alan sich mit eigenen Augen davon überzeugte, dass er keine Chance hatte, wäre er bereit, diese Möglichkeit zu ergreifen.

Verfluchter Mist!

Wenn Alan aufgab, wie sollten wir Roman bezwingen?

Waren uns wirklich die Hände gebunden oder brauchte Alan nur etwas Zeit, um einen Plan zu schmieden? „Du lässt dir doch etwas einfallen, oder?“ Alan schloss gequält die Augen. „Wenn er Magie wirkt – und glaub mir, das kann er – weiß ich nicht, was wir tun können. Er hat uns einfach überrollt. Als wären wir nichts weiter als Fliegen, derer man mit Insektenspray Herr wird.“ Darum hatten sie also keine Tiergestalt oder Zwischenform angenommen. Es war viel zu schnell passiert.

Ich hatte die Auswirkungen mit eigenen Augen gesehen, sonst würde ich es nicht glauben.

Doch ich war weit davon entfernt, kampflos aufzugeben. „Er kann Magie wirken, sagst du. Hat er auch mit Energie um sich geworfen? So wie ich?“ Alan verneinte, was ich für ein gutes Zeichen hielt. Entweder das oder Roman hatte keinen Grund gesehen, etwas anderes als Magie zu verwenden, da die Gestaltwandler ihm so oder so unterlegen waren.

Ich für meinen selbstsüchtigen, bescheidenen Teil hoffte jedoch, dass er es nicht konnte. So wie Ker-Lon nur magische Energie absorbierten, aber keine elektrische. Wäre es durch die Biologie eines Vampirs überhaupt möglich, Energie zu speichern und diese zu benutzen?

Wir würden Bingham Senior fragen müssen.

Erst jetzt begriff ich, warum der mir die Blutbindung angeboten hatte.

Zum zweiten Mal.

Aber ich wollte dem Rudel – obwohl ich mich nicht mit ihm identifizierte – nicht vor den Kopf schlagen. Nicht nach diesem verheerenden Ereignis.

Homo sapiens movere ~ gejagt

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