Читать книгу Homo sapiens movere ~ gerettet - R. R. Alval - Страница 5
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Оглавление„Wer selbst nach nahezu einem Jahrhundert immer noch glaubt, an der Spitze der Nahrungskette zu stehen, wird spätestens dann eines Besseren belehrt, wenn er seinen Meister findet…“
Janet Weizmann,Abgeordnete des Bundestages,Fraktion der movere, 2122
2133, Anfang Juli
Rasselnd sog Roman Sauerstoff in seine Lunge, die sich erst langsam wieder an ihre Tätigkeit gewöhnen musste. Schmerzend hob und senkte sich sein Brustkorb. Anfangs flach und abgehackt; doch schon bald regelmäßiger. Sein Herz begann kräftiger zu schlagen. Das Blut pulsierte heiß und kraftvoll durch seine Adern. Getränkt mit uralter, unsterblicher, mächtiger Magie.
Romans Augen sahen Farben, die er vorher nie wahrgenommen hatte. Mit einer Schärfe, die ihn im Unglauben den Kopf schütteln ließ. Langsam hob er seine rechte Hand und betrachtete sie verwundert. Tief sog er die Gerüche des Raumes in sich auf. Er roch die Erde, den Stein, frische Luft, Bäume. Sein Gehör war feiner als vor seiner Metamorphose. Er konnte eine Spinne hören, die an der Decke über ihm ein Netz webte. Ein heiseres, leises Lachen entrang sich seiner Kehle, die staubtrocken war. Langsam richtete er sich auf. Selbst sein Tastsinn war hypersensibilisiert. Rein instinktiv versetzte er sich in eine leichte Trance, die ihm erlaubte, seine Sinne zu dämpfen.
Bewundernd stellte er seine Füße auf den Boden und streckte sich. Diese Kraft, die ihn durchflutete, erfüllte jede Faser seines Körpers. Roman kreiste seine Schultern, die kurz hörbar knackten. Seinen Kopf, der sich allmählich an die Veränderung gewöhnte, neigte er langsam von rechts nach links. „Ich bin ein Pir.“ Es klang seltsam. Es fühlte sich auch seltsam an. Doch das war er nun.
Ohne nachzudenken leitete er den Formwechsel ein, der ein kribbelndes Summen durch seinen nackten Körper jagte. Riesige Schwingen durchbrachen seinen Rücken, ein Stück versetzt neben den Schulterblättern. Er streckte sie einmal lang aus, faltete sie zusammen und streckte sie erneut. Mit der Kraft seiner Gedanken kleidete er sich an, wobei die Flügel kein Hindernis darstellten. Seine inzwischen bis weit über die Hüfte reichenden Haare flochten sich ohne sein Zutun. Grinsend wandte er sich zu dem einzigen Fenster, ging darauf zu, öffnete es, stellte ein Bein auf den Sims und spähte nach draußen in die Dämmerung.
Erneut tief einatmend ließ er die Umgebung auf sich wirken. Den Duft des Waldes. Das hektische Treiben der Tiere. Insekten, Vögel und kleinere Säugetiere. Sie alle spürten die Anwesenheit des Raubwesens und brachten sich in Sicherheit. Nur die Menschen nicht. Zwei. Ganz in seiner Nähe. Perfekt – sein Hunger war enorm. Roman stieß sich mit dem aufgestützten Bein ab und schwebte kreisend in die Lüfte. Während er sich immer weiter in die Höhe schraubte, formten sich seine Hände zu Klauen. Seine Fangzähne entblößt, stürzte er sich auf die nichts ahnenden Menschen, die kurz darauf in panischer Angst erstarrten.
Oh ja, wie er die Jagd liebte!
„Lauft.“, knurrte er mit brennendem Blick und lachte laut, als die zwei vor ihm flohen. Willkommen Bruder, hallte Stépans Stimme in seinem Kopf. Euphorisch lachend grüßte er zurück, während er den Menschen folgte, die keine Chance hatten. Nicht gegen einen Pir. Gleich recht nicht gegen einen hungrigen. Welch glücklicher Zufall, dass sie sich auf diesem Gebiet aufhielten, das sich im Privatbesitz der Pir befand. Sie dürften überhaupt nicht hier sein. Dummheit musste bestraft werden. Wer sich nicht an die Regeln hielt, musste die Konsequenzen tragen. Roman griff sich den ersten Mann, der sofort verstummte und in Romans Klauen hing wie eine Puppe. Ohne zu zögern, biss er zu, trank den für ihn lebensnotwendigen roten Saft, während das Leben aus seinem Opfer wich. Den zweiten Mann ereilte dasselbe Schicksal. Gesättigt ließ Roman ihn neben den leblosen Körper des ersten fallen. Mit einem einzigen Gedanken zerfielen sie zu Staub, den der Wind sofort verteilte. Schon viel besser. Roman dehnte seine Muskeln, schloss die Augen und ließ sich von Energie, Macht und Kraft durchfluten. Er war ein Pir. Das mächtigste, kälteste und gerissenste Wesen auf dem Erdball. Aber Roman war noch viel mehr. Ein Briam. Dem Blut der Ker-Lon gegenüber immun, da es selbst in ihm floss. Ausgestattet mit der Magie der Pir und der Magie der Ker-Lon, war er mächtiger als je ein Pir zuvor. Möglicherweise sogar mächtiger als Stépan, dem er großen Respekt entgegenbrachte. Obwohl… nein. Stépan war uralt. Wie alt genau, wusste wohl nur dieser selbst.
Sich erneut in die Lüfte schraubend, genoss Roman die neu erworbene Fähigkeit des Fliegens. Eine Weile. Dann besann er sich, landete sanft auf dem Boden, wandelte sich in sein ursprüngliches Selbst zurück und teleportierte sich zum Anwesen seines Vaters. Außer diesem wussten nur wenige, dass er die Order zum Pir erhalten hatte. Vielleicht wusste es Sam. Neugierig genug war sie. Sam. Er lächelte beim Gedanken an sie. Seine movere. Er liebte Sam. Und auch auf die Gefahr hin, dass sein alter Freund Alan mit der Frau, die Roman liebte, eine Beziehung eingegangen war, musste er ihr seine Liebe gestehen. Im selben Moment umwölkte sich sein Gesicht. Was sollte er tun, wenn Alan und Sam zueinandergefunden hatten? Schließlich wäre es selbstsüchtig von ihm glauben zu wollen, dass sie all die Jahre auf ihn gewartet hatte. Es waren 15 Jahre vergangen. 15 Jahre, in denen Alan durchaus seine Liebe zu Sam erkannt haben könnte. Würde sie sich trotzdem für ihn entscheiden? Jetzt, da er ein Pir war, könnte Roman ihr ewige Jugend schenken. Unsterblichkeit. An seiner Seite. Wenn sie es wollte. Und bei allen Göttern, er hoffte, dass es ihr Wunsch wäre.
Sowie sich Roman auf dem Anwesen seines Vaters einfand, suchte er den imaginären Kontakt zu diesem. Er konnte ihn nicht orten. Auch zu Sam konnte er keine Verbindung aufnehmen. Seltsam. Ach… wie dumm von ihm! Als Pir war die Verbindung zu seinem Vater erloschen. Ebenso die Bindung zu Sam. Aber müsste die nicht nach wie vor vorhanden sein? Roman schluckte. Was, wenn er seinen Status als Briam ebenso verloren hatte? Er horchte in sich. Die Magie der Ker-Lon lebte in ihm. Warum konnte er trotzdem keine Signale von Sam empfangen? „Vater?“
Völlig lautlos streifte Roman durch Stewards Anwesen. Ein paar Bedienstete huschten mit ehrfürchtigem Blick an ihm vorbei. Aber von seinem Vater weit und breit keine Spur. „Hey!“, sprach er einen Mann an, der eben an ihm vorbei flitzte. „Wo ist mein Vater?“ Der ältere Mann schluckte. „Sie meinen Herrn Bingham?“ Nein verdammt, er meinte den Wettermann! „Herr Bingham ist auf Geschäftsreise. Vor morgen Mittag erwarten wir ihn nicht zurück.“ Roman kniff die Augen zusammen.
Er besaß wirklich ein wunderbares Timing, nicht wahr?
Warum hatte er sich eigentlich die Mühe gemacht den Mann zu fragen? Es wäre viel einfacher gewesen, in dessen Gedanken einzutauchen. Doch manchmal war es erträglicher, nicht von menschlichen Gefühlen und Gedanken überrannt zu werden.
Ohne ein weiteres Wort löste Roman sich auf und teleportierte sich zu seinem eigenen Anwesen. „Willkommen zurück.“ Ein Mann Mitte 60 blickte ihn gütig an. Roman brauchte einen Moment, um zu erkennen, dass es sich bei diesem um Edgar handelte. „Vielen Dank, Edgar. Wie ich sehe, geht es Ihnen gut.“ Er klopfte seinem Angestellten auf die Schulter, während er sein Heim musterte. Zumindest eins davon. Die anderen Häuser – nun, die kamen später. Immer schön eins nach dem anderen. Er hatte viel Zeit.
Nichts hatte sich verändert. Alles war ordentlich und sauber. So, wie er es verlassen hatte. Edgar räusperte sich. „Kann ich Ihnen etwas zu Essen bereiten?“ Kopfschüttelnd lehnte Roman ab. „Jetzt nicht. Ich habe noch einiges zu erledigen.“ Zielstrebig ging er in sein Arbeitszimmer, das ebenfalls tadellos sauber war. Kein Staubkrümelchen war zu entdecken. Er sollte Edgar eine Gehaltserhöhung geben.
Oder einen Bonus.
Oder beides.
Seinen Schreibtisch umrundend, nahm er auf dem schwarzen, ledernen Chefsessel Platz und griff zum Telefon. Er wollte Sam besuchen. Gleich danach Alan. Seine Vorahnung schien sich zu bewahrheiten, als Sam nicht an ihr Festnetztelefon ging. Und leider auch nicht an ihr Handy. Beide Nummern waren nicht vergeben. Entweder lebte sie mit Alan zusammen oder war umgezogen. Und hatte neue Telefonnummern. Also wählte er die Nummer seines Freundes. Wenigstens klingelte es, doch niemand hob ab. Ärgerlich. Nun, dann sollte er wohl seinem neuen Boss einen Besuch abstatten. Auch wenn ihm der Gedanke einen Chef zu haben, überhaupt nicht behagte. Vielleicht sollte er sich vorher einen Überblick beschaffen, was sich in den letzten 15 Jahren verändert hatte? Nein, entschied Roman, Stépan konnte ihm ganz sicher einen Crashkurs geben. Nicht, dass ihn Politik großartig interessierte. Aber technische Fortschritte verpasste er nur ungern. Anschließend musste er nach seinen eigenen Geschäften sehen.
Stépan schaffte es tatsächlich in kürzester Zeit, Roman die wichtigsten Dinge zu vermitteln. Politisch hatte sich nicht allzu viel getan. Technisch leider auch nicht. Aber er hatte einen Putschversuch der Hexen verpasst. Ebenso wie mehrere kleine Auseinandersetzungen mit verschiedenen Dämonengruppen und die Anerkennung der Naga als werähnliche Wesen durch Ribberts und Alans Rudel. Dabei hatten die Naga vom Evolutionsstandpunkt her mit Werwesen so viel gemein wie ein Fliegenpilz mit einer Fliege. Und – Überraschung – Alan hatte seinen Status als Alpha vor ein paar Jahren an den Nagel gehängt.
Den Grund verschwieg ihm Stépan, aber Roman konnte ihn sich denken. Mist! Er hatte Sam also unweigerlich an Alan verloren. Innerlich verfluchte er diesen Umstand. Äußerlich ließ er sich nichts anmerken, obwohl er ahnte, dass Stépan diesen Schwachpunkt längst erkannt hatte. Sein Herz bekam ein paar feine Risse. Eine junge Frau betrat den Raum, mit einem Lächeln auf den Lippen und ganz offensichtlich ohne jegliche Angst vor Stépan. Dabei war sie ein Mensch. Eine movere. Etwas an ihr kam Roman bekannt vor, doch er vermochte nicht den Finger drauf zu legen. Stumm verfolgte er den Blick von Stépan, der liebevoll über die zierliche Gestalt der Frau wanderte. Beinah wäre ihm die Kinnlade nach unten gefallen, als er begriff, dass diese Frau Stépans Ehefrau war. „Hallo Roman.“, grüßte sie und lachte schelmisch, als er sie irritiert ansah. Gut, solche Gemütsentgleisungen musste er noch unter Kontrolle bekommen. Beinah automatisch dämpfte er seine Sinne, so dass auch jegliche Gefühle abgemildert wurden. „Du erkennst sie nicht, hm? Darf ich dir vorstellen? Das ist Bethany, meine Frau. Die Nichte von…“ „…Sam.“, vollendete Roman Stépans Satz und neigte höflich seinen Kopf. „Du bist erwachsen geworden.“ Bethany lächelte. „Das soll vorkommen. Du hingegen hast dich gar nicht verändert. Äußerlich.“ Sie wandte sich an Stépan. Augenblicklich wusste Roman, dass die beiden sich gedanklich unterhielten, wovon er ausgeschlossen blieb. Bildete er sich das ein oder lag Bedauern in Stépans Augen? Er wusste, er durfte es nicht tun. Er sollte es nicht tun. Theoretisch konnte er es auch nicht. Aber zu groß war die Neugier, was die beiden vor ihm verheimlichten, und er las in Bethanys Gedanken. Ohne sich darüber im Klaren zu sein, dass es nicht möglich sein dürfte, da sie an Stépan gebunden war. Augenblicklich erstarrte Roman, noch ehe Stépan und Bethany ihn zurückhalten konnten. Oder warnen. Keuchend holte er Luft und taumelte rückwärts. Das war nicht wahr. Unmöglich. Das durfte nicht sein. Es war eine Lüge! „Roman, es tut mir leid.“ Stépans Worte drangen wie durch dicke Mauern in Romans Gehirn, während Bethany fürsorglich seinen Arm ergriff, um ihn zu stützen. Zornig schüttelte er sie ab. „Ihr lügt!“, schrie er und raufte sich die Haare. „Das… ist nicht wahr!“ Bethany tauschte einen kurzen Blick mit ihrem Mann aus. „Roman, es tut mir leid. Aber es ist die Wahrheit. Niemand konnte etwas tun.“ Seine Kehle verengte sich. Es fiel ihm schwer, zu atmen. Roman hatte immer gedacht, ein Pir könne nicht weinen. Jetzt wusste er es besser. Heiß und bitter brannten die Tränen in seinen Augen, während er versuchte, die Information zu verarbeiten. Samantha war tot. „Wann?“ Seine Stimme klang heiser. Gebrochen. Wie sein Herz; seine Träume und Hoffnungen. „Vor fast acht Jahren.“, sagte Bethany. „Die Energie, die sie als Saphi zu bewältigen hatte, war für ihren Organismus zu viel gewesen. Ihr Herz war nachhaltig geschädigt worden. Nur dank deines und dem Blut deines Vaters, hat sie es überhaupt so lange geschafft. Sie ist eines Morgens einfach nicht mehr aufgewacht. Hätte es Hinweise gegeben, hätten wir vielleicht etwas tun können. Aber so… Ohne die Obduktion hätten wir nicht mal gewusst, woran sie gestorben ist.“ Roman schluckte und dämpfte seine Sinne, die er durch den Schock zugelassen hatte. „Sie hat Kinder?“ Bethany nickte. „Eine Tochter, Sarah und einen Sohn, John. Er trägt als Beinamen nicht nur Alans, sondern auch deinen. Sie hat dich nicht vergessen, weißt du?“ Ein tröstlicher Gedanke, wenn auch bitter. Was würde Roman dafür geben, wenn er noch ein einziges Mal mit ihr reden könnte! Wenn er… Tief einatmend schaltete er seine Sinne vollkommen ab. Er brauchte einen klaren Kopf. Und Zeit. „Bevor ich meinen Platz in deinen Reihen einnehme, erlaube mir noch ein wenig Freiheit.“ Stépan nickte zustimmend. „So viel du brauchst, Bruder.“ Roman trat einen Schritt zurück und verschwand.
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1998, Mitte August
„Verfluchte Scheißkarre!“ Wütend schlug ich mit den Händen auf das Lenkrad der altersschwachen Klapperkiste, die mir mein Bruder besorgt hatte. Der läuft wie am Schnürchen… ha, von wegen! Das war jetzt das fünfte Mal in diesem Monat, dass das blöde Ding einfach stehen blieb. Kurz vor dem Abwürgen des Motors klang es dabei jedes Mal so, als ob ein Traktor an einer Magenkolik litt. Zornig stieg ich aus, schmiss die Tür krachend zu und trat mit dem Fuß gegen das Vorderrad. Das war schmerzhaft, linderte aber nicht meine Wut. Zornig trat ich auch mit dem anderen Fuß dagegen. Jetzt schmerzten beide. Schön blöd! Deftige Flüche ausstoßend, die zumeist mit menschlichen Exkrementen, Autos und Brüdern im Allgemeinen zu tun hatten, humpelte ich um die Schrottkiste herum, riss die Beifahrertür auf, kramte in meiner Handtasche nach meinem niegelnagelneuen Nokia 5110, fischte es heraus, drückte den Knopf der Verriegelung und warf schwungvoll krachend die Autotür zu. Zuallererst musste ich mich ein wenig beruhigen und Prioritäten setzen. Wen rief ich zuerst an? Benjamin? Nein, zuerst Anja. Dann Benjamin. Und danach den Abschleppdienst. Wozu war ein neun Jahre älterer Bruder gut, wenn er ein Auto nicht von einem Fahrrad unterscheiden konnte? Nach dem zweiten Klingelton nahm Anja ab. Abwartend hielt ich das Handy auf Armeslänge von mir gestreckt, bis sie ihre Schimpftirade wegen meiner ganz offensichtlichen Verspätung beendet hatte. „Schon wieder das Auto? Meine Güte, es wäre billiger, du würdest es auf den Schrottplatz schaffen.“ Diese Meinung teilte ich. Allerdings konnte ich mir kein neues Auto leisten und ohne Auto käme ich nicht zur Arbeit. Und ohne Arbeit… „Ja, wem sagst du das. Du hast nicht zufällig einen Geldesel auf deinem Balkon stehen? Meiner ist leider geflohen.“, witzelte ich, obwohl mir überhaupt nicht nach Scherzen zumute war. Aber ich konnte schlecht mitten auf der Straße in einen Heulkrampf ausbrechen. Noch dazu in voller Montur meiner mittelalterlichen Gewandung. Bloß gut, dass ich das Korsett noch nicht angelegt hatte. Dafür benötigte ich sowieso Anjas Hilfe. „Wie lange wird es dauern?“ Wie lange ich noch hier rum stünde? „Ich weiß es nicht. Ich ruf den Abschleppdienst an, sage denen, dass der Schlüssel steckt und dass sie das Auto… ach, ich weiß auch nicht. Dann muss ich Benjamin noch ordentlich die Meinung geigen. In der Zwischenzeit hoffe ich einfach, dass du kurzfristig umdisponieren und mich abholen kannst. Bitte?“ Erleichtert hörte ich ihre Zustimmung, beendete das Gespräch und wählte die Nummer des Abschleppdienstes, der mir bereits die letzten vier Mal geholfen hatte. Besetzt, schöner Mist. Über mir verdunkelte sich allmählich der Himmel. Das sah nicht gut aus. Nun ja, wenigstens hatte ich noch ein Dach… „Oh so eine riesengroße… Scheiße… Arrrgh!“ Mit der Erkenntnis, dass ich mich aus meinem Auto ausgesperrt hatte, fing es auch schon an zu tröpfeln. Und binnen weniger Sekunden goss es wie aus Kübeln. Mein Schirm lag im Auto. Ebenso wie das Mieder, mein Umhang und meine Tasche. Der Schlüssel steckte noch. Wie hatte ich nur beide Verriegelungsknöpfe nach unten drücken können, wenn der blöde Schlüssel noch steckte? Macht der Gewohnheit… vermutlich. Nur zog ich im Normalfall den Schlüssel ab, bevor ich ausstieg. Oh, toll, Hagel. Herr Gott nochmal, hatte ich denn heute das Pech gemietet? Vor lauter Regen und Hagel konnte ich kaum einen Meter weit sehen. Das, was ich sah, schien nicht im Entferntesten zum Einschlagen einer Autoscheibe geeignet zu sein. Noch nicht mal festes Schuhwerk hatte ich an. Lediglich ein paar grobe Leinenschuhe; passend für das Mittelalter. Sehr unpassend zum Einbrechen in das eigene Auto.
Der erste Blitz schlug keine zehn Meter von mir entfernt ein. Das ist jetzt nicht wahr! Nur kurz darauf folge ein ohrenbetäubender Krach, als würde sich die Erde spalten. Panisch schaute ich mich um. Ringsherum nur Wiese, ich und mein Auto. Angst vor Gewitter hatte ich keine. Aber ich war auch nicht so blöd zu glauben, dass ein Gewitter ungefährlich war. Im Auto wäre ich sicher, aber außerhalb? Anja, bitte, beeil dich. Ich will mich nicht in einen Straßengraben werfen, um vor den Blitzen sicher zu sein. In einem Graben konnte alles Mögliche sein. Tierkadaver, Schlamm, Morast, krabbelnde Insekten, Spinnen, ... Leichen. Mich schauderte. Mit dem Einschlagen des zweiten Blitzes stürzte ich mich ohne einen zweiten Gedanken in den Graben. Dann lieber war ich dreckig – und hatte morgen Ekelblasen – als tot. Theoretisch war auch das ein Fehler. Denn Nässe und Energie… Ich hatte Glück im Unglück.
Das nette kleine Sommergewitter dauerte gefühlt hundert Jahre. Grob geschätzt nicht mal zwanzig Minuten. Und von Anja weit und breit keine Spur. Ich gab ein wunderschönes Bild ab. Klatschnasse mit Grashalmen dekorierte Haare, die mir im Gesicht, auf dem Busen und auf dem Rücken klebten, ein braunes, feuchtes Kleid, das an meinen Beinen haftete, pitschnasse Schuhe, Wasser- und Schlammtropfen, die von meiner Nase liefen, fest zusammengekniffene Lippen und zu Fäusten geballte Hände, in denen mein Handy vermutlich seine letzten Atemzüge von sich gab. Ein Sommergewitter war erfrischend.
Sofern man es im Trockenen beobachten konnte.
Das Regenwasser jedoch zu fühlen, glich dem Bad in einem Kübel voll Eiswasser. Obendrein gespickt mit Hagelkörnern, die sich wie Peitschenhiebe angefühlt hatten. Ich zitterte so heftig, dass ich mir auf die mit Schlamm und Grashalmen verunzierten Lippen biss. Mir den Schmutz aus dem Gesicht zu wischen, war sinnlos. Ich bestand quasi nur noch aus Dreck. Anja würde sich freuen.
Ich stand noch gut eine viertel Stunde wie ein begossener Pudel mitten in der Botanik und fragte mich, ob ich in letzter Zeit irgendeiner Schicksalsgöttin auf die schicken Treter gekotzt hatte. Bloß gut, dass seit meinem unfreiwilligem Zwischenstopp niemand an mir vorbei gefahren war. Ich war mir tausendprozentig sicher, diejenigen hätten bloß gegafft anstatt mir zu helfen. Und sich dann vor lauter Lachen in die Hosen gepisst.
Endlich sah ich Anjas Wagen, der kurz darauf hinter meinem stoppte. Mit hochgezogenen Augenbrauen und einer Miene, als wüsste sie nicht, ob sie lachen, mich tadeln oder lieber gar nichts sagen sollte, stieg sie aus. „War das Kleid nicht letztens noch grün?“ Hmhm, war es. Vor meinem unfreiwilligen Schlammbad war es definitiv ein sehr schönes Lindgrün gewesen. „Wieso bist du denn nicht ins Auto?“ Ich schnaubte mir einen Grashalm von der Nase. „Hab mich ausgesperrt.“ Fürsorglich legte Anja mir eine Decke um die Schultern, die sie immer in ihrem Kofferraum mitführte. Dadurch fühlte ich mich weder sauberer noch schicker, aber wenigstens hörte das Zittern auf. „Wann kommt der Abschleppdienst?“ Mit einem schwachen Lächeln erklärte ich ihr, dass ich den noch nicht erreicht hatte und die Nummer zusammen mit dem Handy wahrscheinlich abgesoffen war. Ohne zu Zögern schritt Anja hoch erhobenen Hauptes zu ihrem Wagen, schnappte sich den Wagenheber, wartete auf mein Nicken und schlug die Beifahrerscheibe ein. Mit wenigen Handgriffen war die Tür entriegelt, das Glas notdürftig beseitigt und meine Besitztümer in Anjas Auto verstaut. „Na los. Besser wird’s nicht. Wir fahren zu mir, dort werfe ich dich in die Wanne und solange du einweichst, kümmere ich mich um die Telefonate.“ Ich brachte ein schwaches Nicken zustande, plumpste mit einem erleichterten Seufzen auf den Beifahrersitz, schnallte mich an und war froh, dass mir inmitten dieses Alptraums von einem Nachmittag wenigstens ein Lichtblick vergönnt war.
Zwei Stunden später war ich sauber, mir war warm und dank des Rotweins, den Anja kredenzte, kam mir der Nachmittag nicht mehr allzu schrecklich vor. Mein Auto stand jetzt wahrscheinlich schon auf dem Hof einer Werkstatt, obwohl ich mir unsicher war, ob sich eine Reparatur überhaupt noch lohnte.
‚Autos sind Fässer ohne Boden, Schatz. Genauso gut kannst du dein Geld auch gleich zum Fenster rauswerfen.’, hatte meine Mutter treffend bemerkt, als Benjamin mir den Wagen schmackhaft gemacht hatte.
Dass ich für das gebrauchte Auto fast mein gesamtes Erspartes von mickrigen tausend D-Mark zusammen gekratzt hatte, ärgerte mich am meisten. Der Rest davon steckte inzwischen in den Reparaturen, zusammen mit einem großen Teil meines Einkommens. Kurzum: Ich war arm wie eine Kirchenmaus; keinerlei Rücklagen. Und jetzt auch noch ohne Auto. Mindestens für eine Woche, solange es überhaupt wieder instand gesetzt werden konnte, ohne dass ich mich dafür verschulden musste. „Na komm schon, Kleine. Mach nicht so ein zerknautschtes Gesicht.“, versuchte Anja mich aufzumuntern. Kleine – so nannte sie mich immer, obwohl ich gut zehn Zentimeter größer war. Aber sie war 10 Jahre älter. „Hmm.“, murmelte ich in mein Weinglas, in dem der Wein langsam warm wurde. „Ich probier’s, ok? Aber ich weiß nicht, wie es weitergehen soll. Wenn ich an die Kosten für die Werkstatt denke, wird mir kotzübel.“ Anja nickte verständnisvoll. „Und ohne Auto kommst du nicht zur Arbeit. Ich verstehe schon.“
Fast hätte ich mit dem Wein schwungvoll ihre Tapete dekoriert, als Anja nach etwa fünf Minuten anhaltendem Schweigen triumphierend ein ‚Ich hab’s!’ verkündete. Ihre rostroten Locken wippten fröhlich auf und ab, während sie ihre Aussage mit einem kräftigen Nicken unterstützte, mit der Zunge schnalzte und mit den Fingern schnippte. „Du ziehst zu mir. Bis du hier in der Stadt eine bezahlbare Wohnung findest. Was hältst du davon?“ Der Gedanke war mir auch schon ein- oder zweimal gekommen. Nur hatte ich nicht mit der Tür ins Haus fallen wollen. „Das ist… wow! Ich weiß nicht, was ich sagen soll.“ Anja legte den Kopf schräg. „Heißt das ja?“ Ich nickte, wobei sich ein breites Lächeln in meinem Gesicht ausbreitete. „Und ob!“
Nur zwei Tage später war ein Teil meiner Habseligkeiten in Anjas Wohnung verstaut. Ich selbst hatte ihr Gästezimmer bezogen, das Anja zu meinem eigenen Reich erklärte.
Meine Eltern waren nicht sonderlich begeistert, ihre Tochter an die Großstadt zu verlieren. Man, ich zog schließlich nicht außer Landes!
Kein Grund für sie, einen Aufstand zu proben.
Natürlich würde ich einen Teil von Anjas Miete übernehmen, die ich bei meinen Eltern nicht hatte zahlen müssen. Aber dafür musste ich weder Benzin noch die Versicherung fürs Auto zahlen. Ganz zu schweigen von den ständigen Reparaturkosten. Außerdem wohnte Anja so nah an meiner Arbeitsstelle, dass ich bequem zu Fuß gehen konnte. „Papperlapapp!“, erwiderte Anja auf diesen Vorschlag mit einem Abwinken ihrer Hand. „Wir machen das ganz anders. Du kümmerst dich ab sofort um die Einkäufe und erledigst einen Teil im Haushalt mit. Die Miete und Nebenkosten überlässt du mir. Ok?“ Von mir aus! Selbst damit würde ich noch eine ganze Menge sparen. Also nickte ich nur, zog sie an mich und drückte sie ganz fest. „Danke. Was würde ich nur ohne dich tun?“ Anja schnalzte mit der Zunge. „Dein Auto reparieren lassen und dich in Schulden stürzen?“ Vermutlich. „Das wäre schön blöd. Dann würde dein Geburtstag im Oktober ausfallen müssen. Man, dabei wirst du doch nur einmal 21.“ Absolut ernst sah sie mich an, wobei sie nicht einmal blinzelte. Ich kapierte erst, dass sie mich aufzog, als ihre Mundwinkel amüsiert zuckten. „Du hast Recht. Das wäre ein Skandal. Ich müsste auf alle Geschenke verzichten, weil ich keine Party ausrichten kann.“
Anja nickte grimmig und entschlossen, bis wir beide in Gelächter ausbrachen. „Wann musst du wieder arbeiten?“, schlug Anja ein anderes Thema an. Oh, eigentlich wollte ich nicht daran denken, obwohl mit der Job riesigen Spaß machte. Aber mein Urlaub konnte schließlich nicht ewig dauern. „Nächsten Montag. Und dann gleich bis Samstag.“ Sie grinste und ließ ihre Augenbrauen hüpfen. „Dann können wir am Wochenende also doch noch auf das Burgtreffen?“ Auf jeden Fall! Doch diesmal würde mir kein dämliches Auto das Vorhaben durchkreuzen.
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Juli, 2133
Sein Freund mochte sich äußerlich kaum verändert haben, doch Roman blickte tiefer. Was er sah, erschreckte ihn mehr, als er sich anmerken ließ. Vampire und Pir waren Meister im Beherrschen von Gefühlen. Aber seinen Freund derart müde zu sehen, bestürzte Roman. Es hatte ihn nicht verwundert, dass Alan seinen Job an den Nagel gehängt hatte. Allerdings war die Vermutung nahe liegend gewesen, dass er es wegen Sam getan hatte.
Im weitesten Sinne war sie der Grund. Wenn auch wegen ihres Todes. Jetzt erst erkannte er das Ausmaß der Trauer, die sich unwiderruflich in Alans Augen eingegraben hatte. Es schmerzte ihn, zu wissen, dass er für seinen Freund nicht da gewesen war. Oder für Sam. Aber bei weitem nicht so sehr, wie seine vertane Chance, Sam seine Liebe zu gestehen. Ohne Hoffnung auf die Erwiderung seiner Gefühle. Ohne ihr und Alan alles Glück der Welt zu wünschen, auch wenn es ihm dabei vermutlich das Herz zerrissen hätte.
Wie jetzt auch.
Wäre es möglich gewesen, Sams Tod aufzuhalten? Vielleicht. Diese Frage ließ sich nicht mehr klären.
Stumm standen sich die beiden Männer gegenüber.
Eine Minute.
Zwei.
Fünf.
Bis Roman sich einen Schubs gab, seinen gut zehn Zentimeter größeren Freund freundschaftlich in den Arm nahm und ihm auf den Rücken klopfte. Eine Geste, die alles sagte, was nicht gesagt werden konnte. Noch nicht. „Wie geht’s dir, mein Freund?“ Alans Oberarme fest umfassend, sah er ihm direkt bis in die Seele. „Ich lebe.“ Roman nickte. „Hm, dein Körper lebt, das sehe ich.“ Die teilnahmslose Akzeptanz Alans bohrte einen spitzen Pfeil in Romans Herz. „Ich weiß, die Frage kommt zu spät, aber… kann ich dir helfen?“ Alan, dessen Beine sein Gewicht kaum zu tragen schienen, obwohl er muskulös wie eh und je wirkte, sank leise seufzend in den großen Sessel. Roman kannte die Antwort, noch bevor Alan den Mund öffnete. Er wünschte sich sofort, nicht gefragt zu haben.
„Du verlangst sehr viel von mir, mein Freund. Könntest du es an meiner Stelle?“ Alan zuckte antriebslos mit den Schultern. „Weiß nicht. Aber du bist jetzt ein Pir. Du kannst deine Gefühle abstellen. Ich nicht. Versprich es mir.“ Roman nickte. „Ich verspreche es dir, mein Freund. Aber verlange nicht von mir, dass ich dabei nichts fühle.“ Alan verzog seinen Mund zu einem verkrampften Lächeln, was seine Augen nicht erreichte.
Innerlich war sein Freund bereits tot.
Roman hoffte, dass Alan noch lang genug aushielt, bis seine – und Sams – Kinder volljährig waren. Auch wenn er ihm zugesagt hatte, sich um die Kinder zu kümmern. Wenigstens verlangte Alan nicht von ihm, dessen Leben sofort zu beenden. Wenn er ihm nur anders helfen könnte.
Wenn er nur Sam hätte helfen können!
Scheiße!
Wäre es ihm möglich gewesen ihr Leiden zu erkennen, wenn er nicht in dem todesähnlichen Schlaf gelegen hätte, der ihn zum Pir transformierte? Warum hatte Stépan nichts bemerkt? Er hätte die Veränderungen in Sams Inneren doch sehen müssen! Wenn dieser einen Grund gehabt hätte, danach zu schauen. Romans Gedanken drehten sich im Kreis, während er stumm seinen Freund ansah, der ihn nicht mehr an den arroganten, unverwüstlichen, erhabenen Wer erinnerte, der er früher gewesen war. Verflucht nochmal! Sogar er fühlte sich verwundbar und schwach, wenn er an Sam dachte. Und daran, dass er nie wieder mit ihr sprechen konnte. Oder ihre Energie in sich aufnehmen.
In seiner Verzweiflung, weil er weder seinem Freund helfen, noch die Frau, die er liebte, wieder zum Leben erwecken konnte, dämpfte er alle seine Empfindungen, bis er die Ausstrahlung eines Felsblocks erreichte. Viel besser.
Gefühle waren nur dafür da, einen von den wichtigen Dingen abzulenken.
Das Problem war nur, dass die einst wichtigen Aspekte ihre Dringlichkeit verloren hatten. Die Frau, der er damit zur Unsterblichkeit verholfen hätte, gab es nicht mehr. Und selbst wenn es sie noch gäbe, wäre sie unabänderlich an Alan gebunden.
„Gibt es sonst noch etwas, was ich für dich tun kann?“ Alan sah ihn mit seinen bernsteinfarbenen Augen an, die früher mit einer Intensität zu glühen vermochten, als wären sie von innen beleuchtet. Jetzt allerdings waren sie völlig stumpf. „Ja. Das könntest du tatsächlich. Ich mag zwar nicht mehr der Alte sein, aber bei einem guten Kampf könnte ich eine Weile abschalten. Würdest du…?“ Roman lachte schnaubend. „Als ob ich einem guten Kampf etwas entgegenzusetzen hätte.“ Er nahm sich vor, sich zurückzuhalten. Vielleicht hoffte Alan darauf, dass Roman einen Fehler beging und ihn aus Versehen tötete. Das würde nicht passieren. Roman war zwar noch ein junger Pir, doch er war lange genug Vampir gewesen, um seine Kräfte einschätzen zu können. Als Pir war er um einiges schneller und stärker, also musste er noch vorsichtiger sein. Es wäre nicht gut, alle Sinne zu dämpfen, wenn er gegen seinen Freund anträte. Allerdings würde er Alan nicht vermitteln, dass er sich zurückhielt. Das würde diesen zusätzlich verletzen.
In diesem Moment sprang jedoch die Tür auf und ein süßes, kleines Ding von einem Mädchen, mit schulterlangen, braunen Locken und Alans bernsteinfarbenen Augen rannte quietschend auf Alan zu. „Papa, John ärgert mich schon wieder. Ich hasse ihn!“ Schmollend kletterte sie auf den Schoß ihres Vaters und schlang ihre dünnen Ärmchen um dessen Nacken. Nur wenig später preschte ein kleiner Bengel durch die Tür, ein Grinsen im Gesicht und seiner Schwester die Zunge herausstreckend. „Petze!“, höhnte er, hielt mitten im Rennen inne, legte die Hände auf den Rücken und betrachtete den fremden Mann, der im Arbeitszimmer seines Vaters stand.
Alan seufzte, während er seine Tochter von seinem Hals pflückte. „Ihr zwei bringt mich noch um den Verstand. Was habe ich euch eigentlich beigebracht? Verhält man sich so, wenn wir Besuch haben?“ Roman studierte die Kinder eingehend. Der Junge hatte blaue Augen und schwarze Haare – beides weder von Sam noch Alan geerbt. Mit Sicherheit ein Attribut von einem Vorfahren. Ansonsten war er ebenso dünn und schlaksig wie seine Schwester. Im Moment murmelte er eine schwache Entschuldigung und betrachtete seine Schuhspitzen, während das Mädchen ziemlich kokett mit den Wimpern klimperte und Roman offen anschmachtete. Herrje, wie alt war sie? Zehn? Neun?
Roman konnte nur raten
Von Kindern hatte er so viel Ahnung wie vom Ziegen melken. „Das sind Sarah und John.“, stellte Alan seine Kinder vor. „Wenn sie sich nicht gerade gegen mich verschwören, bringen sie mich beide zur Weißglut.“ Roman nickte lächelnd, was im Moment jedoch nichts war außer einer Fassade. „Und das ist mein Freund Roman.“, stellte Alan seinen Besuch vor. Sofort klappte der Mund des Jungen auf. „Du heißt ja so wie ich! Also… mein dritter Vorname.“ Die Kleine fiel ihm ins Wort. „Du kannst ihn doch nicht einfach duzen!“ Der Bursche warf seiner Schwester einen Blick zu, der Roman amüsiert hätte, wenn er im Moment dazu fähig gewesen wäre.
Doch noch erlaubte er sich nicht, etwas zu fühlen.
Zu sehr spiegelte sich Sam in ihren Kindern wider.
„Vielen Dank, Sarah. John, entschuldige dich!“ Roman stellte sein unechtes Lächeln ein und bedachte den Kleinen mit einem unbewegten Blick, der den Jungen schlucken ließ. „Entschuldigung.“, stammelte er, wobei seine kleinen Hände nervös an der Hose herum zupften. „Entschuldigung angenommen, Namensvetter beim dritten Namen.“, sagte Roman, ehe er sein Lächeln wieder aufsetzte. „Wie alt bist du?“, fragte er und ging vor dem Jungen in die Hocke. „Zehn.“ Der Pir nickte und schaute zu dem Mädchen, das offensichtlich ganz begeistert von ihm war. „Ich bin schon dreizehn.“, antwortete sie, ohne dass er fragen musste. Im Moment schien sie sich in der Rolle der älteren Schwester wohl zu fühlen. Aber Roman könnte Stein und Bein schwören, dass es ihr sonst weniger behagte. Nörgelnd gaben die beiden nach einer halben Stunde klein bei und ließen die zwei Freunde allein.
„Sind sie immer so?“ Alan seufzte leise und fuhr sich mit den Händen über sein müde wirkendes Gesicht. „Nein. Im Normalfall sind sie schlimmer.“ Roman nahm die Aussage regungslos zur Kenntnis, obwohl er einen Teil seiner Gefühle zuließ.
„Komm mit in mein Arbeitszimmer. Sam hat dir etwas hinterlassen.“
„Mir?“ Alan erwiderte nichts, sondern schlurfte – gehen konnte Roman den gebrochenen Gang seines Freundes beim besten Willen nicht nennen – voran in das Arbeitszimmer. In diesem ging er zielstrebig zum Safe, den er öffnete und einen Brief an Roman reichte. Roman runzelte die Stirn. „Lies ihn. Sie hat ihn kurz nach deiner Berufung verfasst. Ich weiß nicht, was drin steht. Das hat sie mir nie verraten.“ Alan blickte ihn mit matten Augen an und wartete ab, während Roman den Brief öffnete und las. Er schmunzelte, weil sie ihm mit ihren geschriebenen Worten gehörig die Leviten las. Weil er ihr seine Berufung zum Pir verschwiegen hatte. Er wurde wehmütig, bei den Zeilen, in denen sie ihrer Liebe zu ihm schrieb und dass sie ihn vermissen würde. Traurig bei den Worten, dass sie mit Alan glücklich war und dass diese Liebe eine andere wäre als die zu ihm. Und sie schrieb von ihrer Ururgroßtante. Die hatte sie ihm gegenüber in einem Gespräch erwähnt. Sie schrieb, dass die Zeilen eine Erinnerung für sie wären. Sie wollte nicht, dass sie es wieder vergaß. Roman erinnerte sich daran. Jedenfalls jetzt, nachdem er es gelesen hatte. Er könnte es tun. In die Vergangenheit reisen und klären, was mit der Frau passiert war. Sollte er? Sam würde es nie erfahren. Er holte tief Luft und sah Alan an. Wenn er diese Frau in der Vergangenheit besuchen wollte, brauchte er Informationen. Sam konnte sie ihm nicht mehr geben. „Während dem Zwischenfall mit den Feen hatte ich ein Gespräch mit Sam, bei dem es um ihre Ururgroßtante ging, die vor etwa 140 Jahren spurlos verschwunden ist. Weißt du etwas darüber?“ Alan schüttelte nach kurzem Überlegen den Kopf. „Nicht sehr viel. Warum?“ Roman klärte Alan auf. Mit allem, was diese Bitte beinhaltete. „Du solltest meine Schwiegermutter danach fragen.“ Alan runzelte die Stirn, schluckte und für einen Moment glaubte Roman, ein schwaches Leuchten in dessen Augen zu erkennen. „Wenn du vorhast, dieses Versprechen trotz allem einzulösen…“ Alan brach ab, während er sich auf die Unterlippe biss, was Roman argwöhnisch beobachtete. „Komm vorher einfach nochmal vorbei, ok? Versprich es mir!“ Ohne Umschweife sagte Roman zu. Wieso sollte er Alan nicht wenigstens verabschieden, wenn er tatsächlich in die Vergangenheit reiste? Schließlich war er sich nicht mal sicher, ob es funktionierte; ob er überhaupt in der Lage wäre zurückzukommen. In ihm reifte ferner ein Plan, den er Alan noch nicht unterbreiten wollte.
Vielleicht gar nicht.
Weil er schlichtweg keine Ahnung hatte, ob es funktionierte. Aber auf einen Versuch käme es an.
Es war nur eine winzige Chance, doch die musste er nutzen!
Wie auch immer: Wenn er diesen Plan in die Tat umsetzen wollte, musste er Stépan einweihen. Nicht nur wegen der dringend benötigten Informationen über das vergangene Jahrhundert. Roman war kaum jünger. Doch damals hatte die Technik weit größere, schnellere Sprünge in wenigen Jahren geschafft, als es heute der Fall war. Zudem war er trotz allem zu jung, um sich an die Jahrtausendwende zu erinnern – er war erst ein Jahr danach geboren. Stépan jedoch hatte definitiv Erfahrung aus erster Hand, was diese Zeit betraf. Und wenn Roman sich nicht täuschte, war der auch damals schon das Oberhaupt der Pir gewesen.
Roman verlor keine Zeit, obwohl Zeit etwas war, was ihm ausreichend zur Verfügung stand. Welchen Unterschied machte es schon, ob er heute oder in zwanzig Jahren in die Vergangenheit reiste? Für ihn einen großen, auch wenn das Ergebnis dasselbe wäre.
Stépan hingegen bremste seinen Tatendrang. „Lass uns reden, Bruder.“ Roman fügte sich dessen Willen.
In dem einen Moment standen sie in der Residenz der Pir, im nächsten mitten in der Stadt in einem der vielen Parks. Es hatte sich nichts verändert. Die Menschen sahen nach wie vor ängstlich zu einem wie ihm, um dann schnell ihre Blicke zu senken. Viele jedoch sahen Roman an, als überlegten sie, wie sie ihm nahe kommen könnten, nicht nur Frauen. Vampire fielen auf, wenn sie es darauf anlegten. Pir hingegen konnten sich, wenn sie wollten, nahezu unbemerkt unter Menschen bewegen.
Roman runzelte die Stirn, denn die Menschen um ihn herum schienen Stépan überhaupt nicht wahrzunehmen. „Du musst einige fundamentale Dinge lernen, bevor du gehen kannst.“
Roman schwieg und hörte zu.
Je mehr Stépan ihm erklärte und zeigte, umso deutlicher wurde Roman bewusst, dass er nur einen Bruchteil dessen wusste, was die Pir wirklich darstellten. Wie grundlegend sie sich von den Vampiren unterschieden. Wie gefährlich sie tatsächlich waren. Wie unberechenbar. Roman musste lernen, seine Sinne und Gefühle rechtzeitig zu dämpfen. Stets musste er auf der Hut sein. Wenn er zu spät handelte, kämen die Auswirkungen einer Apokalypse gleich.
„Du musst dich häufiger nähren, als zu deiner Zeit als Vampir. Es ist jedoch nicht zwingend notwendig, den Menschen dafür nahe zu kommen. Du kannst kleine Mengen ihres Blutes im Vorbeigehen zu dir nehmen. Wir Pir wirken wie ein Magnet auf das Blut der Menschen. Du solltest in Friedenszeiten nur aufpassen, nicht zu viel zu nehmen, wenn du nicht vorhast zu töten. All das kannst du mit der Zeit bewusst kontrollieren. Es sei denn, du bist verletzt. Dann ist es schwieriger, wenn auch nicht gänzlich unmöglich.“
Stépan zwinkerte verschmitzt. „Wir töten. Es ist unsere Natur. Vergiss das nicht. Außerdem wirst du als Single das Grundlegende viel öfter miteinander verbinden.“ Sex und Blut. Roman verstand, was Stépan ihm sagte. Mehr als ihm lieb war. Die Menschen auf dem Gebiet der Pir hatte er getötet. Himmel, er war hungrig gewesen! Ohne zu zögern, war er seiner Natur nachgekommen. Ab sofort musste er besser aufpassen. Nicht, dass er als Vampir nicht auch ab und an ein Leben genommen hatte. Meist im Rausch der Lust oder im Rausch des Blutes, aber auch, wenn es das Geschäft verlangte. Sein Beruf, oder vielmehr seine Berufung.
Doch die Auswirkungen eines Pir waren weitaus gefährlicher. Roman erkannte, dass ein Pir nichts – oder nicht viel – mit einem Vampir gemein hatte. Vielmehr glichen sie den Dämonen. Und da er obendrein ein Briam war, dürften seine Kräfte noch gravierendere Einschnitte bewirken. „Ab und an musst du dich deinen Gefühlen und Trieben überlassen. Wenn du das tust, ist deine Kraft uneingeschränkt. Zumindest wäre es nicht ratsam, sie einzuschränken.“ Roman verstand. Seltsamerweise machte ihm das nichts aus. Er war ein Pir. Von jetzt an bis in alle Ewigkeit. Das gefährlichste auf der Erde wandelnde Wesen.
Es gefiel ihm!
„Komm, lass uns ein wenig… Spaß haben.“, grinste Stépan mit einem Blick, der Roman als Vampir hätte das Blut in den Adern gefrieren lassen. Jetzt jedoch brachte dieser Romans Blut in Wallung und ließ ihn vorfreudig zittern.
Seine zu einem Zopf geflochtenen Haare wehten in einem Wind, der ihn und den anderen Pir umgab, während sie sich wie Schatten zwischen den Menschen bewegten. Schneller als für deren Augen sichtbar. Mit einem Kreischen reagierten die Menschen auf das plötzliche Sichtbarwerden der Männer, durch deren Rücken im selben Moment riesige Schwingen brachen, mit denen sie sich anmutig in die Höhe schraubten. Bring sie zum Schweigen, mein Bruder!, wies Stépan ihn an. Roman verharrte mitten in der Luft, bildete ein flimmerndes Magiefeld und schickte es über die Menschen, die daraufhin zu Boden sackten. Er wusste, wenn er dieses verstärkte, würde keiner der Menschen wieder aufstehen. Doch die momentane Energiemenge reichte aus, um jeden der Anwesenden vergessen zu lassen, was in den letzten Minuten geschehen war.
Anerkennend nickte Stépan und wies ihm mit dem Kopf in die Richtung, in die sie sich begeben würden.
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1998, 31. Dezember
„Dieser Arsch hat was?“ Ungläubig schaute mich meine Kollegin an, die gleichzeitig auch eine Freundin war. Ich seufzte. „Du hast schon richtig gehört.“ Rita schüttelte ihren Kopf. „So ein Blödmann. Ich hoffe, du hast ihm den Laufpass gegeben.“ Das hatte ich. Auch wenn ich mir nicht sicher war, ob es die richtige Entscheidung gewesen war. Sven war genau der Typ Mann, den ich mir als Freund immer gewünscht hatte.
Na ja, fast.
Die Untreue gehörte nicht dazu. Ebenso wenig seine einschmeichelnden Lügen. Bloß gut, dass ich es schon jetzt herausgefunden hatte; nicht erst nach ein paar Jahren. Zwei Monate waren keine lange Zeit für eine Beziehung – sie zu beenden tat trotzdem weh. „Na komm, Rita, die Pause ist vorbei. Nur noch zwei Stunden. Dann können wir uns auf heute Abend freuen.“ Rita holte tief Luft. „Du sagst es! Party klingt so viel besser als Arbeit.“, grinste sie. „Soll ich dich abholen oder macht das Anja?“ Seitdem ich eine eigene kleine Wohnung in der Stadt bewohnte, sah ich Anja viel öfter. Nicht ganz so oft, wie zu der Zeit, als ich bei ihr wohnte – klar. Wenn es nach ihr gegangen wäre, würde ich immer noch bei ihr wohnen. Natürlich würde sie mich auch mit zur Party nehmen. Ich erinnerte mich kurz, dass ich mit meinen Eltern hätte feiern sollen. Doch ich hatte mich entschlossen, nicht heimzufahren. Mal ehrlich, was sollte ich dort? Schunkeln vorm Fernseher? Das konnte ich tun, wenn ich fünfzig war. Oder sechzig. Benjamin feierte mit seiner Freundin, nebst einigen Freunden. Seitdem mein Bruder mit Simone liiert war, war er viel ruhiger geworden. Kaum zu glauben, dass die zwei sich erst fünf Wochen kannten. Dennoch hatte ich das Gefühl, dass sie zusammen blieben.
Sie schienen füreinander gemacht zu sein.
Tja, dasselbe hatte ich bei Sven und mir angenommen.
Während ich an der Kasse saß, verdrängte ich alle anderen Gedanken. Das Eintippen der Preise konnte zermürbend sein, aber heute fühlte ich mich dadurch lebendig. Vielleicht, weil ich mich auf den Feierabend und die Silvesterparty freute und jedes Klicken einen Countdown einleitete. Würde ich in einem anderen Markt arbeiten, säße ich an einer Scannerkasse. Aber Aldi ließ sich damit Zeit. Angeblich war das Eintippen schneller als das Lesen des Codes. Klick, klick, klick… Abkassieren, freundlich lächeln, einen guten Rutsch wünschen. Fast alle Kunden wünschten mir dasselbe. Genau wie an Weihnachten, an dem einen so gut wie jeder Einkäufer ein frohes Fest wünschte.
Das liebte ich am Dezember.
Genau wie den Schnee, der seinen weißen, glitzernden Schleier über die Stadt gelegt hatte und den Kundenandrang sichtlich verebben ließ.
Wir schlossen pünktlich um zwei. Doch ehe ich das Geschäft verließ und in meiner nur zwei Straßen entfernten Wohnung eintrudelte, war es bereits kurz nach vier. Schnell wärmte ich mir den Rest des gestrigen Mittags in der Mikrowelle auf und entschied mich für ein entspannendes Bad. Am Abend bliebe keine Zeit dafür.
Nachdem ich meine langen Haare geföhnt und meine durch die kalte Jahreszeit trockene Haut mit Bodylotion eingecremt hatte, schlüpfte ich in eine alte Jogginghose und einen kuscheligen, rostroten Pullover. Eigentlich wollte ich anschließend nur fünf Minuten auf meiner Couch die Augen schließen, doch als ich wieder aufwachte, war es fast acht. Himmel, Arsch und Wolkenbruch! Anja würde in ein paar Minuten da sein, und ich war nicht fertig. Rasend schnell sprang ich auf, sprintete in mein Schlafzimmer und zog mich in Windeseile um. Ein paar ausgewaschene Jeans - auf die ich ein paar Strasssteine geklebt hatte, um sie ein wenig aufzupeppen - und ein beigefarbener, dünner Rollkragenpullover, schienen mir passend zu sein. Ein ordentliches Make-up und schnell noch die Haare hochstecken, etwas Parfum – Chaos, mein momentaner Lieblingsduft, obwohl es ein Geschenk von Sven war – und fertig.
Jepp, so konnte ich mich sehen lassen. Ich hatte zwar ein paar Kilos zu viel auf den Rippen, aber ein ziemlich hübsches Gesicht. Außerdem lag das Hauptaugenmerk der meisten Männer sowieso auf meinem Busen, der recht üppig war.
Zum hundertsten Mal fragte ich mich beim Blick in den Spiegel, ob ich meine Haare blondieren sollte. Es würde zu meinen graublauen Augen passen. Andererseits würden es ein paar Strähnen vielleicht auch tun. Seufzend zupfte ich eine Locke zurecht, die sich aus meiner Frisur gelöst hatte, zwirbelte sie zwischen meinen Fingern und steckte sie schließlich doch hinters Ohr.
Blond, nun ja, vielleicht in einem anderen Leben.
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September, 2133
Roman materialisierte sich neben Stépan in dessen großräumigem Büro. In der Mitte des riesigen Raumes befand sich ein Hologramm, das einen detaillierten Überblick über die Stadt lieferte und welches der Pir mit wenigen Handgriffen näher zoomen und somit einzelne Ausschnitte vergrößern konnte. „Nett.“, kommentierte Roman die kleine Spielerei, was Stépan mit einem Achselzucken hinnahm. „Kann ich dir etwas anbieten?“ Roman lehnte das Angebot des Clanvorsitzenden dankend ab. In den letzten Wochen hatte er viel von Stépan gelernt und sich dadurch größtenteils im Griff.
Dennoch war er jetzt aufgewühlt und wusste nicht, wie Stépan auf seine Frage reagieren würde. Tagelang hatte Roman gegrübelt und überlegt, wie er diese Angelegenheit vortragen sollte. Hatte nachgedacht, Ideen verworfen und von vorn angefangen.
Er wollte Samantha retten.
Er wollte Alan helfen.
Sein erster Gedanke war gewesen, sich an Humphrey zu wenden und diesen davon zu überzeugen, in etwa hundertzwanzig Jahren seine Saphi nicht unter den movere zu suchen. Doch erstens wusste Roman nicht, wo sich der Ker-Lon 1999 aufhielt, ob er damals bereits lebte und ob der seinen Rat befolgte. Ganz zu schweigen davon, welche Konsequenzen es für Sam hätte.
Ohne das Blut des Ker-Lon wäre sie dem Clan der Pir ausgeliefert gewesen, als dieser annahm, dass sie ihn getötet hatte. Sie wäre außerdem nicht in der Lage, bei dem leidlichen Problem mit den Elfen und Gargoyle zu helfen. Alan konnte er ebenfalls nicht informieren, da der erst ein paar Jahre später geboren werden würde und Roman bezweifelte, dass er mit Alans Vater sprechen konnte.
Oder sollte.
Sich selbst schloss er ebenfalls aus, da er zu dem Zeitpunkt von Sams Tod im Transformationsschlaf lag. Freilich könnte er Alan vorher davon überzeugen, aber dafür müsste Roman unweigerlich mit seinem eigenen Vater in Kontakt treten, der zu diesem Zeitpunkt noch gar keinen Sohn hatte.
Um ehrlich zu sein, fürchtete er sich vor den Konsequenzen, seinem Vater gegenüber zu stehen. Wenngleich er seine Mutter gern sehen würde, denn er konnte sich nicht an sie erinnern. Also blieb ihm nur übrig, eine Nachricht an Stépan zu übergeben. Vorher wollte er dem jetzigen Stépan jedoch die Frage stellen, ob der sie auch weiterleiten würde oder ob er Romans Eingreifen in die Zeit für einen frevelhaften Versuch hielt.
„Sprich, mein Bruder.“, forderte Stépan ihn auf und lehnte sich galant in seinem Sessel zurück, die Hände auf dem Schoß gefaltet und seine durchdringenden Augen auf Roman gerichtet. Geradeheraus offenbarte Roman dem alten Pir sein Anliegen und wartete geduldig auf eine Reaktion. „Das werde ich sehr gern für Sam tun. Bethany vermisst ihre Tante.“ Roman hakte nach, ob auch dessen damaliges Ich tun würde, worum Roman ihn heute bat. Stépan runzelte die Stirn, überlegte kurz und nickte dann langsam. „Ja, ich glaube, das werde ich. Du solltest jedoch einige Dinge wissen.“
Roman hörte zu und notierte sich das Wichtigste im Kopf. Vor allem musste er sich daran erinnern, dass damals die Revolutionen noch nicht stattgefunden hatten und die Pir ziemlich abgelegen außerhalb der Stadt residierten. Stépan überreichte ihm eine aufwendig gearbeitete Kette, an der ein fünfzackiges Amulett hing. Auf dieses waren verschiedene Symbole eingearbeitet, deren Bedeutung Roman sich von Stépan erklären ließ. „Sobald du sie mir zeigst, werde ich wissen, ob du vertrauenswürdig bist.“ Roman nickte und hängte sie sich um den Hals, damit sie ihm nicht abhandenkam.
Dann lehnten sich beide entspannt zurück, und Stépan begann zu erzählen, was Roman über das Jahr 1999 wissen musste. Wie er damals an Geld kam, wie die Autos funktionierten, die Handys, wo sich eine Unterkunft befand, die von Vampiren geleitet wurde und diverse andere Umstände, auf die er sich vorbereiten musste. Vor allem legte ihm Stépan ans Herz, dass er sich gründlich mit Brionys Leben auseinandersetzte, sofern ihm das irgendwie möglich war.
Abermals nahm Roman sich vor, Sams Eltern zu besuchen. Die Familienchronik befand sich laut Alan auf deren Dachboden. Es würde nicht schaden, wenn er mehr Informationen bekäme.
Nach gut drei Stunden bei Stépan teleportierte sich Roman auf das Anwesen seines Vaters, den er schon seit Wochen besuchen wollte. Ebenso sein Büro im geschäftigsten Teil der Innenstadt. Doch jedes Mal war ihm etwas dazwischen gekommen. Hauptsächlich sein neues, teils unkontrollierbares Temperament als Pir. Stépan hatte Jahrzehnte… nein… Jahrhunderte… oder gar mehr gehabt, um sich daran zu gewöhnen. Roman hatte die Launen als Pir innerhalb von nicht mal zwei Monaten überwiegend gemeistert, was Stépan mit großer Anerkennung zollte. Sobald Roman spürte, dass seine Triebe mit ihm durchgingen, zog er sofort seine geistigen Schilde hoch und dämpfte seine Empfindungen. Möglicherweise war das schnelle Begreifen ein Nebeneffekt seines Wesens als Briam.
So oder so hatte er jedoch noch einiges zu lernen. Aber wenn man bedachte, dass ihm dafür die Ewigkeit blieb, gab es keinen Grund zur Eile. Sein Geschäft, dessen Kontrolle er vor fünfzehn Jahren vorübergehend an einen Menschen abgegeben hatte, bis er wieder verfügbar war, konnte auch noch ein paar Wochen mehr oder weniger ohne ihn auskommen.
„Roman, mein Junge!“ Steward Bingham empfing seinen Sohn mit weit offenen Armen und drückte ihn fest an sich. „Ich freue mich, dich zu sehen. Wie geht es dir?“ Romans Vater, der keinen Tag älter aussah als er selbst, strich sich übers Kinn, das früher von einem Ziegenbärtchen bedeckt war, während er den Worten seines Sohnes lauschte. Wie alle Vampire besaß er ein eher androgynes Aussehen. Obgleich beide sich gedanklich unterhalten konnten, zogen sie das wörtliche Gespräch vor.
Steward bemerkte die Veränderung seines Sohnes recht deutlich. Wo früher ein spitzbübisches Lächeln zu entdecken war, sah er nun absolut gar nichts. Eine schöne Maske, die keinerlei Gefühle verriet. Das Beunruhigendste war jedoch, dass er sie auch nicht spüren konnte. Ebenso wenig wie die einst vorhandene familiäre Bindung. Doch Steward wusste, dass Roman noch vieles zu meistern hatte, ehe er ein sicheres Auftreten als Pir an den Tag legte. Dazu gehörte auch das beinah menschliche Widerspiegeln von Gefühlen, was nicht zwingend zu dem passen musste, was der Pir empfand oder plante.
„Du willst also wirklich in die Vergangenheit reisen, um Sams Ahnin zu retten?“ Roman nickte. „Und wenn es klappt, auch um Sams Willen. Sie hätte nicht sterben müssen.“ Steward verfiel in grüblerisches Schweigen. „Was, wenn es vom Schicksal nicht vorgesehen ist, dass Sam lebt?“ Roman zuckte mit den Achseln. „Dann kann nichts ihren Tod verhindern. Allerdings weiß ich von Sam, dass es nie vorgesehen war, dass sie dem Ker-Lon begegnet. Somit könnte ihr Tod nicht in ihr vorgesehenes Schicksal passen. Wir werden sehen.“ Steward fuhr sich durch die Haare. „Wirst du es Alan sagen?“ Roman schüttelte langsam den Kopf.
Nach gründlicher Überlegung stand sein Entschluss, Alans Hoffnungen nicht zu schüren, wo es möglicherweise gar keine gab, fest. Nur eine Frage konnte er nicht beantworten: Wie würde sich die jetzige Zeit verändern, wenn er Sam und Briony tatsächlich helfen konnte? Nun… es würde sich zeigen.
Noch während Roman mit seinem Vater plauderte und dessen Fragen beantwortete, empfing er einen knappen Befehl von Stépan. Und obwohl er offiziell noch nicht in die Gesellschaft des Rates eingeführt worden war, kam er diesem nach. „Entschuldige mich bitte, Vater.“ Er verneigte sich respektvoll vor seinem alten Herrn. Dann teleportierte er sich zu Stépan und den bereits versammelten Rat der Pir.
„Roman Bingham kennt ihr. Er ist noch nicht in den Rat eingeführt; aus privaten Gründen. Dennoch habe ich ihn zu uns bestellt, weil uns seine Fähigkeiten von Nutzen sein werden. Tobias, fang bitte an.“ Tobias, ein riesiger Pir, der sicher mehr als zwei Meter maß, mit der Figur eines Schwimmers und dem Gesicht eines Engels, ergriff das ihm erteilte Wort. Obgleich Roman diesem Pir schon mehrmals begegnet war, fragte er sich immer wieder, ob dessen blaue Haare echt waren oder gefärbt. Bei allem was ihm heilig war, er selbst würde nie mit blauen Haaren durch die Gegend laufen. Vielleicht gefiel es den Frauen?
Apropos Frauen – Romans Natur rief. Aber wenn er es recht bedachte, konnte er seine aufgestauten Gefühle auch bei der Züchtigung – möglicherweise sogar Vernichtung – der abtrünnigen Vampire, von denen Tobias sprach, ausleben. Nicht nur, weil sie töteten, sondern weil sie damit prahlten, es aus reinem Spaß zu tun.
Das verstieß gegen das Gesetz der Vampire.
Es war tiefe Nacht, als Roman in sein Heim zurückkehrte. Die Gruppe von etwa 20 Vampiren, die geglaubt hatte, gegen die Pir etwas ausrichten zu können, hatte ziemlich schnell lernen müssen, dass sie sich irrte. Sieben der Vampire waren vernichtet worden – sie waren schon mehrmals negativ aufgefallen. Die anderen mussten eine schmerzliche Lektion einstecken. Es würde Jahre dauern, bis sie sich von ihren Verletzungen erholten. Abgeschnitten von sämtlichen Möglichkeiten, sich schnell zu regenerieren.
Die meiste Zeit jedoch hatten die Pir darauf verwendet, die Abtrünnigen zu finden. Kein leichtes Unterfangen – schlussendlich aber doch erfolgreich.
Roman war froh, dass Edgar bereits fort war und joggte die Treppe hinauf zu seinen Privatgemächern. Durch sein Schlafzimmer gelangte er in das Bad, wo er sich rasch seiner blutigen Kleidung entledigte. Auf seiner Haut befand sich kein einziger Tropfen der roten Flüssigkeit, da er es als Pir sofort absorbierte. Als wäre seine Haut ein Schwamm. Und da er von seiner Spezies schon immer ein wenig abwich, absorbierte er nicht nur menschliches Blut. Bei seinen Klamotten sah das leider anders aus. Aber um die kümmerte sich Edgar.
Morgen.
Und morgen sollte er auch unbedingt endlich zu Sams Eltern gehen.
Leise fluchend stieg Roman unter die Dusche. Dort fluchte er noch ein wenig lauter, weil ihn seine langen Haare nervten. Die sollte er unbedingt ein wenig stutzen. Immerhin reichten sie ihm bis zum Hintern.
Er war doch keine Frau!
Als er sich sauber fühlte, stieg er aus der Dusche, trocknete sich ab, fasste seine Haare im Nacken zusammen, griff nach einer Schere und schnitt sie ab. Das hätte er schon längst tun sollen! Sofort fühlte er sich besser. Schulterlänge reichte vollkommen. Sobald Bethany – die kleine Hobbyfriseuse – ihn sähe, würde sie die Schere zücken und nachschneiden. Das war so sicher, wie Blut in den Adern seiner Opfer. Nackt lief er zurück in sein Schlafzimmer, schlüpfte in eine legere Jeans –obwohl er sich ebenso gut hätte allein durch die Kraft seiner Gedanken einkleiden können – und ging hinunter in den Salon, in dem er es sich auf der Couch vor dem Fernseher gemütlich machte. Nur ein wenig, um seine Gedanken zu beruhigen und in sich zu horchen. Später würde er ins Reißzahn gehen, vielleicht auch ins Cluchant. Beide Clubs existierten nach all den Jahren noch immer.
Für den Moment jedoch genoss er den Frieden, der in seinem Inneren herrschte.
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15.2.1999
Seufzend betrachtete ich das Päckchen, dass ich gestern Abend neugierig geöffnet hatte, da kein Absender drauf stand. Nervös trommelte ich mit den Fingern auf meine Knie. Ein Valentinstagsgeschenk von Sven, der nach fast zwei Monaten immer noch nicht begriff, dass ich mit ihm nichts mehr zu tun haben wollte. Nicht nur, dass in dem Päckchen sündhaft teure Dessous drin waren und eine in Kristall eingeschlossene Rose, sondern auch ein Ring, der mir unter anderen Umständen sehr gefiele.
Zum Beispiel, wenn ich mit Sven in einer festen Beziehung wäre. Aber das war ich nicht. Nicht mehr.
Ich zuckte zusammen, als das Telefon klingelte, ließ aber den Anrufbeantworter ran gehen. In letzter Zeit rief Sven sehr, sehr, sehr oft an, erkundigte sich, wie es mir ging, wie es auf Arbeit lief, ob ich einen neuen Freund hätte. Wenn ich – wie ich es immer häufiger tat – seine Telefonanrufe ignorierte, drohte er mir, dass es nicht gesund für mich sei, wenn ich ihn betröge und aus meinem Leben ausschloss.
Anja hatte mir geraten, zur Polizei zu gehen. Noch hatte ich allerdings die Hoffnung, dass Sven es irgendwann kapierte, nicht aufgegeben.
Abermals seufzend sah ich auf die Uhr. Erst um neun. Ich hatte also noch gut drei Stunden Freizeit, bevor ich im Geschäft sein musste. Spätschicht. Wie ich die in letzter Zeit hasste! Besonders seit Sven es sich angewöhnt hatte, mir nach meiner Schicht aufzulauern, mich heimzubegleiten und mir dabei Löcher in den Bauch zu fragen. Ich musste heute unbedingt mit meiner Chefin sprechen und ihr die Situation erklären. So konnte es auf keinen Fall weitergehen.
Der Anrufbeantworter sprang an. Ich seufzte erleichtert, als ich Anjas Stimme vernahm. Sofort sprang ich vom Sofa, hechtete zum Telefon und nahm ab. Während des Gesprächs mit meiner besten Freundin kam ich allmählich zur Ruhe. Ein Zustand, den ich dank Svens ignoranter Bemühungen nur selten erreichte.
Was sollte ich bloß tun?
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September, 2133
Viel hatte Roman von Sams Eltern nicht erfahren. Außer, wo diese Briony gelebt hatte, ihren Familiennamen und ihre Arbeitsstelle. Dadurch verringerten sich seine Hoffnungen jedoch nicht. Denn er reiste nicht nur in der Zeit zurück, um Näheres über das Verschwinden dieser Frau zu erfahren und möglicherweise zu verhindern, sondern auch, um Sam selbst zu retten. Außerdem hatte er einige alte, ausgeblichene Fotos von dieser Briony gesehen. Zugegeben, sie war hübsch. Aber sein Typ war sie nicht. Mit Sicherheit konnte er sie nicht verkennen, sobald sie ihm über den Weg lief.
Er war sich jedoch darüber im Klaren, dass er sich im Hintergrund halten musste und nur eingreifen durfte, wenn der Zeitpunkt ihrer Entführung näher rückte. Der 20. August. Er musste demzufolge nur dafür sorgen, dass er einen Tag vorher eintraf. Besser noch eine Woche, nur für den Fall, dass etwas Unerwartetes passierte. Ach verdammt – nein! Soweit er wusste, fanden sich alle Ratsmitglieder der Pir weltweit vor den großen Revolutionen jährlich im August zu einem Kongress zusammen. Aber er hatte keine Ahnung wo!
Oder wann.
Das hieß, er musste Stépan noch einmal fragen. Diesmal griff er zum Telefon, obwohl er das Clanoberhaupt auch gedanklich kontaktieren konnte.
Wenig später legte er wieder auf; froh nachgefragt zu haben. Denn dieses Treffen fand genau in seinem Zeitrahmen statt. Stépan war sich nicht mehr sicher, wo es 1999 gewesen war, meinte aber, sich zu erinnern, dass es in Italien gewesen sei.
Also musste Roman vor dem 14. in der Vergangenheit ankommen, ansonsten würde es verdammt knapp werden. Es sei denn, er sprang mehrmals zurück, was er jedoch nicht riskieren wollte. Schließlich hatte er keine Ahnung, welche Auswirkungen das auf ihn oder seine Kräfte haben könnte.