Читать книгу Homo sapiens movere ~ gerettet - R. R. Alval - Страница 6

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Die meisten Menschen leben in einer modernen Camera Obscura. Obwohl sie wissen, dass es draußen eine andere Welt gibt, sind sie geschockt, wenn sie diese betreten…“

Blythe HarmonAbgeordneter des Bundestags, Fraktion der Gestaltwandler, 2122

19. September, 2133

Roman legte sich mit geschlossenen Augen, Stépans Kette um den Hals, auf sein Bett. Warum es ihm wichtig war zu liegen, konnte er nicht sagen. Er wusste nur, dass er es unbedingt tun sollte. Ein letztes Mal tief einatmend und die Magie in sich sammelnd, sprach er die alten Worte der Ker-Lon, die ebenso ein Teil von ihm waren wie sein Blut.

Er spürte einen zerrenden Strudel, der an ihm riss, ihn schüttelte, seine Nervenstränge bis zum Zerreißen dehnte, seine Zähne klappern ließ und ihn im Schleudergang bewegte, so dass er sich nach dem plötzlich endenden Gerüttel fühlte, als schwebe er auf Wolken. Vorsichtig öffnete er erst ein Auge, dann beide und blinzelte in die helle Sonne, die über ihm strahlte. Noch wusste er nicht, ob er in der richtigen Epoche gelandet war. Alles erschien ihm viel blasser als üblich. Vielleicht litten seine Augen unter dem Zeitsprung und brauchten eine Weile, um sich daran zu gewöhnen. Dennoch: Das was er sah, irritierte Roman. Unter einer ausladenden Weide in seiner unmittelbaren Umgebung standen ein paar Rotröcke und vier Personen, die offensichtlich Schotten waren, in ein anregendes Gespräch vertieft, während sie aus Tontöpfen tranken und kehlig lachten. Obwohl er sich für Geschichte nie sonderlich interessiert hatte, wusste er, dass dieses Bild höchst eigenartig war.

Nein, nicht eigenartig.

Unwahrscheinlich.

Mönche kreuzten seinen Weg, Edeldamen, einfache Mägde, Männer in groben Kutten und andere in glänzendem Satin, schimmerndem Samt und Spitze. Sogar Ritter konnte er entdecken. Aber keine Pferde oder andere Tiere, abgesehen von ein paar Hunden. Sonderbarerweise waren alle – egal, ob Edelfrau oder Magd – sehr sauber. Auch die Gerüche waren zwar höchst ungewohnt, aber keine Beleidigung für seine Nase. Und fast alle trugen Schuhe. Keiner schien von seinem Kleidungsstil überrascht zu sein. Und da, endlich, entdeckte er einige Personen, die ebenfalls für dieses Jahrhundert moderne Kleidung trugen. Beinah hätte er vor Erleichterung geseufzt. Erst jetzt filterte sein feines Gehör, das unter der Reise ebenso wenig gelitten hatte wie sein Geruchssinn, die ihn umgebenden Geräusche.

Es war lauter als in seiner Zeit.

Viel lauter.

Nicht nur die vielen Menschen trugen dazu bei oder die altertümliche Musik. Er hörte Motorengeräusche, das Summen von Strommasten und das Rattern eines entfernt vorbeifahrenden Zugs. Aufatmend blickte er in den Himmel. Wenn er jetzt noch Zweifel gehabt hätte, so wären die spätestens verflogen, als er das winzig kleine Flugzeug am Himmel sah, dem ein weißer Streifen folgte. Jetzt musste er nur noch herausfinden, wo diese Frau steckte. Vermutlich war sie irgendwo hier, sonst wäre er nicht in diesem geschichtsträchtigen Spektakel gelandet. Auf diesem riesigen mittelalterlichen Markt, der sich über zwei Ebenen erstreckte. Einem unteren und einem oberen Burghof mitsamt der Burg, die beeindruckend über ihm aufragte. Roman kramte in seinem Gedächtnis, ob er diese Burg schon einmal gesehen hatte. Falls dem so wäre – immerhin kannte er seine Stadt und deren Umgebung in- und auswendig – konnte er sich nicht erinnern. Wahrscheinlich war sie in den letzten fast anderthalb Jahrhunderten verschwunden; als unweigerlicher Verlust durch die Revolutionen. Schließlich war er kein Geschichtsfanatiker. Noch nie gewesen. Selbst Museen reizten ihn nicht, hatte er doch in seinem Vater und den Pir bereits genug Museumsstücke um sich herum. Sobald die begannen von ‚früher’ zu erzählen, sah er jedes Mal zu, dass er schnellstmöglich Abstand gewann. Es interessierte ihn nicht. Punkt.

Jetzt allerdings wünschte er sich, er hätte eine Ahnung, wo genau er sich befand und was ihn erwartete.

Verdammt, darauf hatte niemand ihn vorbereitet!

„Sag mir, wo ich bin.“, forderte er einen Mann auf, der in seiner unmittelbaren Nähe stand. Dass Roman dafür seine Fähigkeiten einsetzte, war notwendig. Er wollte nicht, dass sich jemand an ihn erinnerte. Außerdem wäre es suspekt, wenn er diese Frage ohne seinen Einfluss stellte. Sehr zu seiner Verärgerung ignorierte ihn der junge Mann. Roman wiederholte seine Frage, doch nach wie vor bekam er keine Antwort. Als auch der nächste und übernächste Mensch nicht auf ihn reagierten, wurde er langsam wütend. Aber auch nachdenklich. Waren die Menschen früher gegen seine Art immun gewesen? Nein, das konnte er sich nicht vorstellen. Es war mehr so, als könnten sie …

Roman wusste nicht, ob er schreien oder etwas fühlen sollte, als eine Frau durch ihn hindurch lief. Panisch sah er an sich nach unten und stellte entsetzt fest, dass er unsichtbar war. Nein, schlimmer – körperlos. Roman erstarrte. War er gestorben? Das war nicht der Sinn und Zweck dieser Reise. Wie sollte er eine Frau beschützen und eine andere retten, wenn er mit niemandem agieren konnte? Seine Fähigkeiten als Pir schienen auf Eis gelegt zu sein. Ok, nachdenken. Die Magie hat dich mit etwas Glück ins richtige Jahr gebracht und dieser… äußerst unakzeptable Zustand ist nur vorübergehend. Das wird wieder, nur etwas Geduld. Und wenn nicht, lass dir schleunigst etwas einfallen!

Nur war das leichter gedacht als getan, denn Roman fehlten jegliche Hinweise, wie er sich in einen körperlichen Zustand versetzen könnte. Die Frage, die ihn momentan jedoch noch viel dringender beschäftigte, lautete: Wo, um Himmels Willen, war sein Körper? Eine leichte Panik überkam ihn, die er weder als Vampir noch als Pir jemals gefühlt hatte.

Doch… einmal.

Damals hatte sein bester Freund versucht, ihn umzubringen, nachdem ein wirklich bösartiges Wesen diesen unter seine Kontrolle gebracht hatte. Wäre Roman nicht selbst ein wenig anders als normale Vampire, hätte er Alans Angriff niemals überlebt.

Niedergeschlagen setzte er sich auf die Brüstung des oberen Burghofs und sah in die Tiefe, wobei ihn unproduktive Gedanken überfielen. Warum rutschte sein nicht vorhandener Körper nicht durch den Stein? Was würde passieren, wenn er nach unten sprang? Könnte er in diesem Zustand durch Wände gehen und falls ja, würde er dann auch durch Decken fallen? Konnte er in einem Auto mitfahren oder würde dieses durch ihn hindurch rasen, sobald es startete? Er wusste, dass diese Grübeleien ihn nicht weiter brachten, aber niemand hatte ihn auf das hier vorbereitet! Am schlimmsten waren jedoch die Gedanken der Menschen, die sich mit jeder Minute, die er verweilte, tiefer und lauter in sein Gehirn fraßen, die er in diesem Zustand nicht abschirmen konnte. Hoffentlich blieb dies nur eine Frage der Zeit!

Ohne sich um seine eigentliche Mission zu kümmern, verließ er fluchtartig die Burg. Wenigstens schien die Fortbewegung ähnlich zu klappen, wie bei seinem Dasein als Pir. Er dachte an das alte Rathaus – im nächsten Moment stand er davor. Nur dass es in dieser Zeit ein noch relativ neues Gebäude war. Erleichtert lachte er auf, obwohl ihm gleichzeitig zum Heulen zumute war.

So viel dazu, dass er ein furchteinflößender Pir war.

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Oh man! Ich kringelte mich vor Lachen und kniff die Beine zusammen, während ich mit Anja der Vorführung des Gauklers lauschte. Gut, wir lauschten nicht nur. Der Narr integrierte sein williges Publikum in seine Possen, die zum Brüllen komisch waren. „Wir müssen dann nach oben, wenn wir rechtzeitig dort sein wollen!“, schrie Anja mir ins Ohr, um das laute Lachen der Leute zu übertönen. Ebenso laut schrie ich zurück, dass ich es nicht vergessen hatte. Sobald Emilio, der Narr, sein Spektakel beendete, eilten wir den steilen, ausgetretenen Pfad nach oben in den Burghof, auf dem eine hölzerne Bühne, geschmückt mit verzierten Stoffen und Fahnen, sich langsam mit den Bandmitgliedern füllte. Ich liebte die Klänge der Dudelsäcke, deren Rhythmus sich rasend schnell in meine Beine pochte und zum Tanzen animierte. Auch bei dieser Darbietung wurde das Publikum nicht nur zum Zuhören, sondern zum Klatschen, Hüpfen, Stampfen und Grölen verleitet. Und natürlich zum Lachen, wenn der Kopf der mittelalterlichen Rockband die Menge mit kleinen Anekdoten aufheiterte oder augenzwinkernd in die Irre führte. Bei einem der reichlichen Instrumente, die die Männer zu spielen vermochten, schloss ich träumend die Augen. Ich vergaß zwar ständig, wie das Teil hieß – ah, Nyckelharpa – aber es klang wunderschön. Bestückt mit Tasten und Saiten brachte es herrlich tiefe, traurige Töne hervor, in denen ich mich nicht zum ersten Mal verlor.

Wehmütig lauschte ich der Melodie und erinnerte mich, wann ich angefangen hatte, das Mittelalter faszinierend zu finden. Liebend gern hätte ich Geschichte studiert, was auch eins meiner Leistungsfächer am Gymnasium gewesen war. Nur dummerweise hatte ich nie Latein gelernt; eine Grundvoraussetzung, um dieses Studienfach zu belegen. Freilich blieb die Geschichte ein Hobby. Ich nutzte einen Teil meiner Freizeit, um mir in der Bibliothek diverse Sachbücher auszuleihen. Kein Wunder also, dass ich ein Fan von allem Mittelalterlichen war. Leider hieß die Zeit aber nicht ohne Grund das schwarze Zeitalter. Nicht nur wegen verschiedener Lebens- beziehungsweise Todesumstände, sondern weil viele Dinge dieser Zeit, ganz besonders wichtige Aufzeichnungen, fehlten. Die meisten Niederschreibenden waren Mönche gewesen, die sich jedoch gegen kriegerische Angriffe nicht verteidigen konnten. Mit ihnen verbrannten viele ihrer Schriften – schwarz; das Endprodukt eines Feuers.

Ich liebte Burgen und Museen, saugte die Anwesenheit der alten Gegenstände und Geschichten in mich auf wie frischen Sauerstoff. Sie füllten meinen Geist und stärkten mein Verstehen. Nein, ich hatte keine Neigung in dieser Zeit zu leben. Allein wenn ich an die Folterinstrumente dachte, wurde mir ganz anders. In jener Zeit eine Frau gewesen zu sein, hieß Entbehrung. Egal, in welcher Schicht. Intelligenz war eine Tugend, die gut verborgen am sichersten war. Von einer eigenen Meinung ganz zu schweigen. Aber auch als Mann war die Zeit nicht sonderlich günstig gewesen, wenn auch besser als für Frauen. Kriege und Krankheiten forderten ihren Tribut. Überall. Dennoch fand ich das Mittelalter faszinierend.

Nun ja, inzwischen war ich Verkäuferin und keine angehende Geschichtsdozentin. Aber ich musste gestehen, dass mein jetziger Beruf, der nur eine Übergangslösung hatte sein sollen, mir wirklich Spaß machte.

Ich öffnete die Augen und stand wieder auf dem Burghof, umgeben von allerlei gewandeten Personen, die verschiedenen Epochen, Ländern und Schichten des Mittelalters entsprungen schienen und klatschte begeistert. Zu schade, dass mein Urlaub, der eigentlich ab morgen beginnen sollte, um zwei Tage verschoben worden war. Das hieß, Urlaub ab Mittwoch und heute einen früheren Schluss des Mittelalterfestes für mich und Anja. Deshalb verließen wir das Spektakel direkt nach dem musikalischen Hochgenuss.

„Hab ich dir schon gesagt, dass ich deine Chefin am liebsten vierteilen würde?“, fragte Anja mich im Auto. „Hast du. Und ich schließe mich dir gern an, obwohl sie nichts dafür kann, dass zwei meiner Kolleginnen krank sind.“ Anja nickte. „Dafür bleiben wir nächstes Wochenende länger. Keine Ausrede!“ Darauf konnte sie aber ihren Hintern verwetten. Nächsten Samstag und Sonntag würden wir die Mittelaltersause bis zum Ende rocken.

Am nächsten Morgen kam ich nur schlecht aus dem Bett. Natürlich hätte ich noch ein wenig liegen bleiben können, aber ich mochte es, mit dem Erwachen des Tages aufzustehen. Ich liebte Sonnenaufgänge, das Zwitschern der Vögel, die frische Luft, das allmähliche Munterwerden der Stadt. Zugegeben, in der Stadt waren die Morgen natürlich anders als auf dem Dorf, in dem ich aufgewachsen war. Eine Stadt schlief nie völlig. Selbst um sieben Uhr morgens herrschte schon hektische Betriebsamkeit.

Nachdem ich die Morgentoilette beendet, den Kaffee angesetzt und mich angezogen hatte, trabte ich zurück in die Küche, goss mir einen Kaffee ein, fügte Milch und Zucker hinzu, kramte in meiner Schublade nach einer Zigarette und Feuerzeug, steckte beides in die Tasche meiner kurzen Hose, schnappte mir die Tasse und lief in die Wohnstube, von der aus ich auf meinen Balkon gelangte. Eigentlich war ich kein echter Raucher. Nur zum ersten Kaffee am Morgen zündete ich mir eine Kippe an und genoss sowohl den Ausblick als auch die Morgensonne und die noch relativ verschlafene Ruhe der Stadt. Dieses Laster gönnte ich mir mit dem größten Vergnügen.

Später aß ich Frühstück und erledigte im Laufe des Vormittags diverse Hausarbeiten, bis ich 12 Uhr zum Dienst erscheinen musste. Schöner Mist! Dabei hatte ich mich doch auf meinen Urlaub gefreut. Bevor ich ging, hörte ich meinen Anrufbeantworter ab, der – zum x-tausendsten Mal – von Svens Nachrichten überquoll. Gott sei Dank war er tagsüber in der Filiale, so dass er mich nicht nerven konnte. Aber heute Abend würde ich wieder alles abstellen müssen. Ich hasste es, dass er einfach keine Ruhe gab.

Zumindest belästigte er mich nicht mehr auf Arbeit, nachdem meine Chefin ihm Hausverbot erteilt und damit gedroht hatte, es auf seinem Arbeitsplatz an die große Glocke zu hängen. Leider hielt es Sven nicht davon ab, mich privat weiterhin zu behelligen. Bloß gut, dass er das vergangene Wochenende bei seinen Eltern gewesen war, wie ich aus den Worten auf dem Anrufbeantworter entnahm, sonst wäre er mir und Anja auf das Fest gefolgt. Ich wollte lieber nicht daran denken, wie wir ihn nächstes Wochenende würden abhängen können. Doch jetzt hatte ich erst noch ein paar Stunden Arbeit vor mir, bevor ich mir weiter darüber den Kopf zerbrechen musste.

Glücklicherweise lenkte die Arbeit mich ab. Es gab viel zu tun, so dass die Zeit fast wie im Flug verging. Als endlich Feierabend war, fühlte ich mich geschlaucht. Ich war hundemüde!

Schlurfend und mit kaum geöffneten Augen trabte ich langsam zu meiner Wohnung, die ich bei meinem jetzigen Tempo etwa in zehn Stunden erreichen würde. Dabei war sie keine acht Minuten vom Supermarkt entfernt. „Hey, warte mal!“ Wow, eine schöne Stimme. Tief, männlich, wie Samt und dunkle Schokolade. Wenn sie eine Farbe hätte, wäre sie mit Sicherheit dunkelbraun mit einem Hauch schwarz darin. Und jetzt fluchte er auch noch. Trotzdem, was für eine erotische Stimme. Komisch war nur, dass sich außer mir niemand auf dem Gehweg befand. Vielleicht hinter mir? Hm, ich hörte keine Schritte. Vorsichtig drehte ich mich um und schnappte nach Luft. Dort war niemand.

Alles leer.

Doch die Stimme vernahm ich noch immer. „Gott sei Dank. Du kannst mich sehen.“ Sehen? Ich kniff meine Augen zusammen und schüttelte den Kopf. Ich war überarbeitet, ganz sicher. Darum hörte ich Stimmen. „Du siehst mich doch nicht, schade. Aber du hörst mich.“ Mein Versuch, die Stimme zu ignorieren, entpuppte sich als unmöglich. „Tut mir leid, falls ich dich erschreckt habe, Briony.“ Ha, jetzt wusste die Stimme auch noch meinen Namen! Wenn Sven dahinter steckte, würde der sich was anhören können. „Sven, verdammt, lass das! Schalte das Abspielgerät aus und zeig dich!“ Ich war auf 180. „Es tut mir ehrlich leid, Briony. Aber dieser Sven hat nichts damit zu tun. Mein Name ist Roman. Ich bin hier, um dir zu helfen und dich um einen Gefallen zu bitten, der eine entfernte Verwandte von dir betrifft.“ Ok, wenn Sven nicht dahinter steckte, war ich sowas von reif für meinen Urlaub. Einen langen Urlaub.

Einen sehr langen Urlaub.

Irgendwo in der Karibik, wo ich meine Seele baumeln lassen konnte. Weit weg von der Arbeit und vor allem von Sven. Ich stopfte mir die Finger in die Ohren und lief schneller, wobei meine Beine nicht unbedingt dieser Meinung waren. Mehr als einmal stolperte ich. Dieser Scherz ging eindeutig zu weit. Vielleicht war hier auch irgendwo eine versteckte Kamera?

Warum ich?

Endlich erreichte ich meinen Hauseingang und versuchte, mit zittrigen Fingern den Schlüssel anzustecken, was mir natürlich misslang. Scheppernd fiel der Schlüsselbund zu Boden. Ganz ruhig, Briony. Das bildest du dir alles nur ein.

Beim vierten Versuch schaffte ich es, die Tür zu öffnen, knipste das Hauslicht an, stürmte zum Aufzug, der sich prompt öffnete und fuhr mit rasendem Herzschlag nach oben. Dort angekommen, hechtete ich zu meiner Wohnungstür, die ich nach drei Anläufen öffnen konnte. Mein Herz klopfte bis zum Hals, so dass ich mich als erstes an meine Flurwand lehnte und tief einatmete, um mich zu beruhigen.

Fast wäre es mir gelungen.

„Briony, hab keine Angst. Ich tue dir nichts.“ Ich schrie und stürzte panisch ins Bad, das ganz am Anfang des Flurs lag. Darin schloss ich mich ein. Zu blöd, dass die Stimme in der Lage war durch Wände zu gehen. „Husch, verschwinde!“, kreischte ich und wedelte hysterisch mit den Händen, was mir ein Lachen der Stimme einbrachte, die – zu allem Überdruss – verflucht sexy klang. Prima, ich hörte also Geister. Oder ich war reif für die Klapsmühle. Keine der beiden Optionen war sonderlich erquickend. Vielleicht half mir eine kalte Dusche? Andererseits, wenn der Geist echt wäre, würde er mich nackt sehen. Ha, spätestens dann würde er grölend das Weite suchen. Ene, mene, Muh… Wer wagt, gewinnt… Soll ich oder soll ich nicht, das ist hier die Frage …

Nein, dafür war ich viel zu schüchtern. Ich würde mich ganz sicher nicht vor einem Geist entblättern, der mich heimsuchte. Selbst wenn er das nur in meiner Vorstellung tat, denn real konnte diese Heimsuchung unmöglich sein. Ich glaubte nicht an solchen Firlefanz wie Gespenster. Dann schon eher an Außerirdische. Mit lustig blinkenden Antennen und Glubschaugen. Und einem todschicken UFO, das mit allerlei technischem Schnickschnack ausgestattet war. Unglücklich atmete ich tief aus und wieder ein, während ich die Stimme ignorierte und bis hundert zählte. „Du kannst mir auch zuhören statt zu hoffen, dass ich nach der nächsten Zahl verschwinde.“, lachte die Stimme leise, was mich freudlos schnauben ließ. So fing der Wahnsinn an. „Warum ich? Kannst du dir nicht eine andere suchen, bei der du spukst?“ Die Stimme lachte nun lauter. „Ich spuke nicht, ich bin. Zwar körperlos, aber durchaus real. Und ganz sicher kein Geist oder ein Anzeichen für Wahnsinn.“ Hatte ich das laut ausgesprochen? „Hör mal, Robert…“

„Roman.“, verbesserte mich die Stimme. Ich winkte ab. „Wie auch immer. Ich bin müde, ich habe Hunger und bin wirklich nicht in der Gemütslage, mich mit einem körperlosen Individuum auseinanderzusetzen. Hättest du also die Güte und würdest gnädigerweise verschwinden?“ Es kam mir so vor, als knurrte die Stimme, was ich mir sicher nur einbildete. „Könnte ich schon, will ich aber nicht. Wenn du möchtest, lasse ich dich kurz allein, damit du dich frisch machen kannst. Aber dann müssen wir reden. Dringend. Es geht um Leben oder Tod.“ Wie theatralisch!

Ich rollte mit den Augen, was die Stimme schnauben ließ, während sie mir empfahl ihr zu glauben. Na aber sicher doch! Genauso gut könnte ich an den Weihnachtsmann oder den Klapperstorch glauben. Mürrisch kniff ich meine Lippen zusammen, damit er meine knirschenden Zähne nicht hörte. So zu tun, als ob die Stimme nicht existierte, stand außer Frage. Sie würde einfach so lang weiter reden, bis ich kapitulierte. Auch wenn sie nur in meiner Einbildung existierte. Aber wie bitteschön knebelte ich meiner Fantasie die lose Zunge? „Gut, wir reden dann. Sobald ich hier fertig bin.“ Die Stimme blieb ruhig.

Entweder war der – haha – Geist wirklich verschwunden oder spielte den stillen Spanner. Erst wollte ich mir aus reiner Vorsicht nur ein wenig kaltes Wasser ins Gesicht werfen, doch dann entsann ich mich eines Besseren. Ich würde mir doch nicht von einem Geist – einem Geschöpf meiner überstrapazierten Nerven – meine Feierabenddusche verderben lassen!

Meine eigene Dummheit verfluchend zog ich mich aus und stellte mich unter die lauwarme Dusche. Um ganz kalt zu duschen war ich nicht hart genug, aber das lauwarme Wasser kühlte mich ausreichend ab. Herrlich entspannend prasselte es auf meinen müden, erhitzten Körper und wohltuend massierend auf meine Kopfhaut. Verklärt lächelnd seifte ich mich ein, wusch meine Haare und spülte mich gründlich ab. Am liebsten hätte ich Stunden unter der Dusche gestanden, doch ich hörte erstens meinen Magen knurren und zweitens mein Bett schreien. Schnell rubbelte ich mich trocken, föhnte meine Haare und schlüpfte in den weißen Bademantel. Vorsichtig öffnete ich die Tür, streckte meinen Kopf hinaus und lauschte.

Nichts.

Totenstille.

Bis auf das Ticken meiner Küchenuhr, die ich von hier aus sogar sehen konnte. Barfuß huschte ich über den Flur in meine halb offene Küche, horchte abermals, holte mir eine Flasche kaltes Wasser aus dem Kühlschrank, samt zwei Tomaten und dem Rest einer Gurke, woraus ich mir im Handumdrehen einen kleinen Salat zauberte. Eigentlich war ich viel zu müde zum Essen, aber mit knurrendem Magen schlief ich schlecht. Nur mit Mühe hielt ich ein Quieken zurück, als ich die Stimme direkt neben mir vernahm – der Geist hockte an meinem Küchentisch… oder stand neben meinem Stuhl… Natürlich verstreute ich ein paar Tomatenstücke, aber die Gabel hielt ich fest umklammert. Konnte man einen Geist mit der Gabel erstechen?

Vermutlich nicht.

Mit erhobener Gabel und fest entschlossener Miene brachte ich die Stimme zum Schweigen. Ein böser Blick wäre auch nicht übel gewesen, aber dafür hätte ich wissen müssen, wohin ich schauen sollte. „Klappe halten. Ich esse. Und dann gehe ich schlafen. Von dir will ich vor morgen früh keinen Mucks hören, sonst rufe ich die Geisterjäger an. Die buchten dich ein, ohne dass du eine Chance hast, je wieder irgendwo zu spuken!“ Die Stimme gluckste, blieb aber ruhig. Mein Bluff funktionierte, was mich derart freute, dass ich zufrieden grinste.

Geisterjäger, so ein Schwachsinn!

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Roman war alles andere als amüsiert. Er musste mit dieser Frau reden und die hatte nichts Besseres zu tun, als sich einzureden, er sei ein Geist, den sie mit irgendwelchen erfundenen Spukhaschern ärgern konnte. Vielleicht war er wirklich ein Geist. Doch ihm bekannte Definitionen dieser Wesen passten nicht zu dem, was er war. Er konnte nur hoffen, dass er sie am Morgen dazu überreden konnte ihm zuzuhören. Die Zeit lief ihm davon. Verdammt, hätte er geahnt, dass er ohne Körper in dieser Zeit auftauchen würde, wäre er früher angekommen.

Er wunderte sich, weshalb die Frau ihr Telefon abzog und die Klingel an ihrer Tür abstellte, ehe sie zu Bett ging. Unter diesen Bedingungen konnte niemand sie erreichen. Wozu sollte das gut sein? Nun, solange sie schlief, konnte er sich ihre Wohnung genauer ansehen. Wenigstens musste er sich keine Sorgen machen, wie er in dieser Form Nahrung aufnehmen sollte. Er war nicht hungrig, was er als sehr angenehm empfand.

Als sie schlief, verließ er ihre Wohnung und atmete vor ihrem Hauseingang tief ein. Aus reiner Gewohnheit. Denn in seinem jetzigen Zustand benötigte er keinen Sauerstoff. Gegenüber dem Eingang stand ein schwarzer BMW, in dem ein junger Mann saß und angestrengt nach oben blickte. Zu Brionys Etage? Er schien krampfhaft zu versuchen, jemanden telefonisch zu erreichen. Roman beobachtete ihn eine Weile und zählte eins und eins zusammen, als der junge Mann aus dem Wagen stieg, zum Eingang lief und Brionys Klingel betätigte. Der Kerl war zweifelsohne der Grund, weswegen Briony sowohl Telefon als auch Klingel abstellte.

Nach einer viertel Stunde gab dieser es auf und ging zurück zum Auto. Am liebsten hätte Roman dieses Arschloch in der Luft zerrissen. In seiner jämmerlichen Form waren ihm jedoch die Hände gebunden. Wie zum Kuckuck sollte er Briony, die er vorübergehend als seinen Menschen betrachtete, vor irgendwelchen Gefahren retten – ganz zu schweigen davon, ihr Verschwinden zu verhindern – wenn er nicht eingreifen konnte? Es würde ihm nichts anderes übrig bleiben als einen Ker-Lon zu finden und diesen auszuquetschen.

Zu blöd, dass er dafür Briony brauchte. Zudem war er sich absolut unsicher, ob die Dämonen ihm überhaupt helfen würden. Oder Briony verschonen. Denn nur, weil die Revolutionen noch nicht stattgefunden hatten, bedeutete das nicht, dass die Dämonen – oder andere Wesen – sich anders verhielten als in seiner Zeit. Möglicherweise waren sie im Moment noch gefährlicher als nach ihrem Outing. Denn niemand der Obrigkeiten kam auf die Idee, die Ursache für diverse Zwischenfälle bei seiner oder anderen Rassen zu suchen, wie es nach den Revolutionen oft der Fall war. Und falls doch, bekamen die Behörden einfach eine Gehirnwäsche.

Roman brüllte einige derbe Flüche in die heiße, dunkle Sommernacht. Außer Briony, die seelenruhig in der fünften Etage schlief, konnte ihn sowieso niemand hören. Gelinde ausgedrückt fand er das zum Kotzen! Doch es hielt ihn nicht davon ab, dem Typ zu folgen. Ein paar Informationen konnten nicht schaden. Solange Briony schlief, konnte er sowieso nichts anderes unternehmen.

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Verschlafen streckte ich mich und blinzelte in die heißen, grellen Sonnenstrahlen, die mir mitten ins Gesicht schienen. Obwohl ich ein Morgenmensch war, wünschte ich mir, dass die Sonne zur Abwechslung auf der anderen Seite meiner Wohnung aufginge. Ein recht frommer Wunsch, wenn ich bedachte, dass ich gestern Abend Stimmen gehört hatte.

Über mich selbst lachend, schlug ich die Bettdecke zurück, setzte mich ruckartig auf, gähnte herzhaft, rieb mir den Schlaf aus den Augen, stand auf, öffnete das Fenster und tappte in meine Küche. Dort setzte ich mir einen Kaffee an, bevor ich ins Bad flitzte. Da dieses kein Fenster besaß, war es deprimierend dunkel, selbst mit eingeschaltetem Licht, aber auch angenehm kühl. Ich wusch mich, putzte meine Zähne, kämmte meine langen Haare, die für heiße Sommer nicht unbedingt geeignet waren, zwirbelte sie zu einem Knoten auf und steckte sie fest, bevor ich wieder in die Schlafstube trabte. Schnell tauschte ich mein Satinnachthemd gegen Slip und Shirt, schloss das Fenster und zog die Jalousien herunter, damit die Wärme draußen blieb. Zurück in der Küche goss ich mir meinen Kaffee in die Tasse, gab Milch und Zucker hinzu, schaute auf die Uhr und kramte in einer Schublade nach einer Zigarette und Feuerzeug.

Mit diesen drei Dingen ausgerüstet, schlurfte ich in die Wohnstube und von dieser auf meinen Balkon, auf dem ich mein morgendliches Ritual genoss. Halb sieben morgens war die Welt noch in Ordnung. Jedenfalls solange ich keine Stimme hörte.

Sobald ich diese jedoch vernahm, erschrak ich derart heftig, dass mein Kaffee fluchtartig, in hohem Bogen meine Tasse verließ und sich über den Balkon ergoss. Meine gute Laune war hinüber, meine Zigarette hatte sich im Schwall des Kaffees ertränkt und mein Herz stampfte wie ein wild gewordenes Mammut. Diverse Verwünschungen vor mich hinmurmelnd stakste ich in die Küche, besorgte mir einen Hader und ging zurück auf den Balkon, um die Sauerei zu beseitigen.

Hätte die lachende Stimme einen Körper, hätte ich diesem schon längst den Hals umgedreht. Ganz bestimmt war er zu Lebzeiten ein widerlicher, kleiner Gnom gewesen, der die besten Jahre bereits hinter sich hatte und nur noch mit seiner Stimme verzaubern konnte. Ich musste allerdings zugeben, dass mir diese Stimme angenehmer war, als wenn die an irgendetwas Widerliches erinnerte.

Das gäbe mir vermutlich den Rest.

Zornig schleuderte ich den Hader ins Bad – ohne ihn auszuspülen – wusch meine Hände, füllte die Tasse neu auf und kramte nach einer weiteren Zigarette, ehe ich mich wieder auf den Balkon begab. Allerdings nicht ohne die Anweisung an den Geist, wenigstens noch zehn Minuten die Klappe zu halten. „Wie du wünschst.“ Ha, wie ich wünschte, hm? Er durfte sich gern in seine Geisterwelt zurückziehen oder woanders spuken.

Immerhin blieb er ruhig. Schön und gut.

Meine gute Laune kam nicht zurück. Der Kaffee schmeckte nicht und die Zigarette ebenso wenig. Wunderbar! Er hatte mir meinen ruhigen Morgen gründlich vermasselt. Das machte mich nicht nur sauer, sondern fuchsteufelswild. Mit viel Wut im Bauch verließ ich den Balkon, trabte in die Küche, bediente den Toaster, stellte krachend die Marmelade auf den Tisch, ebenso den Teller und das Messer. Meine Tasse setzte ich sanfter auf. Schließlich nahm ich den gebräunten Toast und legte ihn auf den Teller, bevor ich mich setzte und zu frühstücken begann. „Nun, zumindest bist du kein movere.“ Haha, jetzt kam die Stimme auch noch mit Latein! Tja, aber das Wort kannte ich zufällig. Allerdings war die Übersetzung seltsam, so dass ich an mir zweifelte. Zumindest bist du kein ‚bewegt’? Was sollte das bitteschön bedeuten? Der Appetit war mir gründlich vergangen. Also legte ich den angebissenen Toast zurück auf den Teller, verschränkte die Arme und lehnte mich im Stuhl zurück. „Gut, was genau willst du und wie werde ich dich los?“ Die Stimme lachte leise, antwortete mir aber nach einer Weile, die sich für meine schon wieder strapazierten Nerven arg in die Länge gedehnt hatte. „Was ich dir jetzt sage, wird dir wie ein verrücktes Anliegen vorkommen.“ Nein, wirklich? Ich sprach mit einem Geist! Wie verrückter konnte es schon werden?

„Ich komme aus der Zukunft.“ Meine Mundwinkel zuckten, während ich heimlich nach meinem Puls tastete. Vielleicht war ich gestern auf Arbeit ins Koma gefallen und träumte Blödsinn? „Ich bin… war… ein Freund deiner Ururgroßnichte Samantha und bin hier, um dich und sie zu retten.“ Aha. Das war natürlich vollkommen logisch. Dass ich da nicht schon eher drauf gekommen war!

„Ich weiß, das klingt für dich utopisch. Um ehrlich zu sein, war ich nicht darauf vorbereitet, dass ich lediglich mit meinem Verstand in die Vergangenheit reise.“ Einem ziemlich verdrehten Verstand für einen Geist, der gefälligst tot zu sein hatte. „Ich bin nicht tot. Ich existiere in dieser Zeit nur noch nicht. Vielleicht ist das der Grund, warum ich in diesem Jahrhundert körperlos bin.“ Oh man, las der meine Gedanken? „Nein, sie sind lediglich so laut, dass ich sie nicht ignorieren kann. Hör mir bitte zu!“ Pffft, als ob ich tun müsste, was dieser aufdringliche Geist von mir wollte. „Was ich dir jetzt sage, hat noch nicht stattgefunden. Es wäre gesünder, es für dich zu behalten, wenn du nicht möchtest, dass man dich in die Psychiatrie steckt.“ Ich überlegte krampfhaft, ob ich nicht schon dahin gehörte. „Tust du nicht und jetzt hör auf, alles von dem, was ich dir sage anzuzweifeln und höre einfach zu.“ Jawohl, oh du großer Meister der Geister. Ein kurzes Schnauben der Stimme, dann begann sie zu erzählen. „Dein Bruder Benjamin wurde 1969 geboren, du 1978. Nächstes Jahr wird dein Bruder eine Tochter bekommen, Carolyn Simone. Es scheint eine alte Familientradition deiner Familie zu sein, den Kindern als zweiten Vornamen entweder den der Mutter oder den des Vaters zu geben, abhängig vom Geschlecht. In vier Jahren wird er wegziehen. Knapp 150 Kilometer nördlich von hier wird er eine Arbeit annehmen und seine kleine Familie mitnehmen. Nun, aus diesem Zweig deiner Familie geht im Jahre 2086 deine Ururgroßnichte Samantha hervor. Aufgrund verschiedener Umstände, die ich nicht aufhalten kann, ohne die Geschichte völlig durcheinanderzubringen, wird sie mit gerade mal 39 Jahren sterben. Ich versuche, das zu verhindern, weil ihr Verlust Dinge nach sich zieht, die… beunruhigend sind. Der zweite Grund, wieso ich hier bin, bist du, Briony. Du wirst in diesem Jahr, am 20. August, spurlos verschwinden. Samantha hat mich zu ihren Lebzeiten darum gebeten, herauszufinden, was dir passiert ist. Und ich halte meine Versprechen, auch wenn Sam die Lösung des Rätsels möglicherweise niemals erfahren wird. Deswegen brauche ich deine Hilfe. Denn du scheinst die Einzige zu sein, die mich hören kann.“ Hm, was für ein seltsamer Zufall, nicht wahr? Dachte dieser Geist ernsthaft, ich würde ihm diesen Blödsinn abkaufen? Außerdem: Mein Bruder würde nie wegziehen. Hier hatte er seine Familie, seine Freunde.

„Es gibt da noch einiges mehr, was ich dir sagen muss, wobei ich glaube, es wäre besser, wenn du es mit eigenen Augen siehst.“ Ok, das machte mich neugierig. „Ich höre zu, also rede.“ Die Stimme brummte leise, fuhr aber fort. „Im Jahr 2051 wird es zu einer Revolution kommen. Die Regierung mitsamt dem Militär schafft ein zweites Salem, um genetisch veränderte Menschen zu vernichten. Einen Großteil radieren sie tatsächlich aus, weil sie diese Menschen für Monster halten. Doch womit sie nicht rechnen, ist, dass damit die – für sie – wahren Monster auf der Oberfläche erscheinen. Es kommt zur totalen Unterdrückung der Menschheit, bis es zehn Jahre später zu einer zweiten Revolution kommt. Die wahren Monster sind nicht die genetisch veränderten Menschen, die durch Evolution entstehen, sondern die Wesen, die von Anbeginn der Zeit auf diesem Planeten existierten. Von den Menschen unbemerkt und dennoch real.“ Sowas wie Geister? Mir wurde leicht schwummrig. „Nein, nicht nur Geister, Briony. Die sind meistens harmlos. Ich spreche von Vampiren, Dämonen, Werwesen, um nur ein paar zu nennen.“ Jepp, der Geist war völlig durchgeknallt. Die Frage lautete nicht, wie ich einen Geist loswurde, sondern einen wahnsinnigen Geist. Indem ich mitspielte und mich zum Deppen machte? „Hm. Also wohnt Dracula möglicherweise in meiner Nachbarschaft und wenn ich nicht aufpasse, beißt er mich, so dass ich ebenfalls zum Blutsauger mutiere? Oder hetzt er mir Waldo, seinen Werwolf, auf den Hals?“ Ich versuchte, möglichst ernst zu bleiben, obwohl das Lachen unaufhaltsam in meiner Kehle vibrierte. „Du glaubst mir nicht. Dachte ich mir schon. Aber du wirst mir glauben, sobald du es mit eigenen Augen siehst.“ Vehement schüttelte ich den Kopf. „Kommt gar nicht in die Tüte. Ich bin zu jung für die Klapsmühle. Ganz ehrlich. Von mir aus verfolge mich, bis ich 80 bin. Auf einen Stalker mehr oder weniger kommt es eh nicht an.“

Die Stimme war auf einmal sehr, sehr kalt. „Ein Stalker? Zufällig der Kerl mit schwarzem BMW?“ Ein Frösteln rollte über meinen Rücken. „Äh, ja. Genau der.“ Das Grollen der Stimme wurde tiefer. „Nun, ich bin kein Stalker. Ich versuche, dir und Sam zu helfen. Und falls du dich weigerst, werde ich dich höchstens anderthalb Wochen verfolgen, denn dann bist du sowieso Geschichte. Da keiner weiß, was dir passiert ist, kann es durchaus sein, dass du noch jahrelang irgendwo gegen deinen Willen gefangen gehalten wirst. Von deinem Stalker. Oder von Vampiren. Als Bluthure, als lebender Snack. Vielleicht stirbst du ganz schnell. Oder langsam. Wer weiß...“

Ok, der Geist wollte mir Angst machen. Um ehrlich zu sein, hatte er damit Erfolg. Oh mein Gott! Was, wenn er die Wahrheit sagte? Wenn ich wirklich verschwand? Wenn niemand mich finden konnte? Wenn Sven oder ... ein Vampir ... Ich wollte auf keinen Fall ein Vampir werden! Dafür liebte ich die Sonne und Knoblauchgerichte viel zu sehr!

„Briony, du hast die falsche Vorstellung von Vampiren. So wie ein Mensch nie zum Esel werden kann, auch wenn sich einige so benehmen, wird aus einem Menschen auch nie ein Vampir werden. Verstehst du das? Wir sind zwei völlig verschiedene Rassen! Menschen und Vampire können noch nicht einmal gemeinsame Kinder haben.“ Hatte er wir gesagt? Hieß das, er war der Geist eines Vampirs? „Ich war ein Vampir, ja. Aber jetzt nicht mehr.“ Nein, jetzt war er körperlos. Ein Geist. Sofern ich ihm diese Story glauben konnte. „Ok, angenommen, du sagst mir wirklich die Wahrheit, wie alt bist du?“ Die Stimme des Geistes erzählte mir, dass er 132 Jahre alt sei. „Also bist du irgendwann um 1860 geboren?“ Der Geist stieß einen resignierenden Laut aus. „Nein, du hast mir nicht zugehört, oder? Zukunft, klingelt da was bei dir? Ich wurde 2001 geboren. Du kannst sicher rechnen, aus welcher Zeit ich stamme.“ 2133? Solange würde die Menschheit noch existieren? Nachdem sie jetzt schon einen derartigen Raubbau an der Natur verübte, dass es für mich fraglich schien, die nächsten zwanzig Jahre noch zu erleben? Das war ... unglaublich!

Nun ja, alles was der Geist, der theoretisch nur in meiner Einbildung existierte, erzählte, war unfassbar. „Aha. Und Vampire können in die Vergangenheit reisen und diese ändern. Schwer vorstellbar.“ Die Stimme seufzte, als wäre ich ein dummes Kind, das nichts lernen wollte. „Nein, im Allgemeinen können Vampire das nicht. Ich bin ... sagen wir ... eine Anomalie.“ Dem konnte ich nur zustimmen. Er war die bisher größte Anomalie in meinem Leben. Gleich nach Sven, bei dem ich mir außerdem eine Geschmacksverirrung zugestand. Aber wenigstens hatte ich diesen Geist nicht selbst gesucht.

Er hatte mich gefunden.

War es nicht ein fantastischer Zufall, dass ihn ausgerechnet nur die Person hören konnte, die er angeblich zu retten versuchte? Abgesehen von dieser Samantha, die meine Ururgroßnichte sein sollte. „Diese Samantha war deine Freundin, richtig? Wart ihr verheiratet?“ Emotionslos antwortete die Stimme, dass sie sich für seinen besten Freund entschieden hatte. „Das muss schwer für dich gewesen sein.“ Ich war mir nicht sicher, ob das ‚Hm’ der Stimme nachdenklich klang oder amüsiert. „In gewissem Maße schon. Doch als ich erfuhr, dass die zwei verheiratet waren, war Sam bereits tot. Die Geschichte kann ich dir gern ein anderes Mal erzählen. Doch heute haben wir einiges vor.“ Hatten wir das? „Das glaube ich nicht. Ich muss arbeiten. Zumindest heute noch. Ab morgen habe ich Urlaub. Eher stehe ich für dich nicht zur Verfügung. Du kannst nicht einfach hier auftauchen und mein Leben durcheinanderbringen. Du bist ein Geist, also verhalte dich gefälligst auch so.“ Die Stimme fluchte mit einer derart eisigen Eindringlichkeit, dass sich sämtliche Härchen auf meinen Armen aufrichteten. „Schon gut!“, beschwichtigte ich ihn mit wild klopfendem Herzen. „Aber ein körperloser Vampir ist im Prinzip auch ein Geist, oder nicht?“

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Roman fuhr sich durch seine nicht vorhandenen Haare, was ihn erneut daran erinnerte, dass er theoretisch – und leider auch praktisch – absolut machtlos war. Im Normalfall hätte er diese störrische Frau einfach gepackt und bis zum 20. irgendwo sicher verstaut. Alles, was er bisher erreicht hatte, war, dass sie ihm unterstellte, ein Geist zu sein. Aber bitte, was wollte er von einem Menschen dieses Jahrhunderts verlangen? Ihr die Definition eines Geistes zu liefern, wäre wenig sinnvoll. Er war sich nicht einmal sicher, ob sie ihm das bisher Gesagte glaubte. Vor sich hinmurmelnd entschied er sich, Briony bis nach ihrer Arbeit in Ruhe zu lassen.

Was nicht hieß, dass er sie aus den Augen ließe.

Diese Frau war eine Gefahr für sich selbst, wenn sie nicht bald ihr Gehirn einschaltete. Was sollte er denn noch tun? Reichte ihr die Warnung nicht? Romans Laune rutschte unter den Gefrierpunkt. Natürlich nicht. Sie dachte vermutlich, er wäre eine Einbildung und sämtliche Tatsachen, die er ihr offenbarte, waren demzufolge nichts weiter als Hirngespinste für sie. Briony musste begreifen, dass er die Wahrheit sagte. Aber nicht nur darum musste er sie davon überzeugen zu den Pir zu gehen. Hoffentlich gelang es ihm innerhalb der Frist. Denn ab Samstag weilte Stépan in Italien und Roman würde Briony nicht dazu überreden können, kurzfristig in ein Flugzeug zu steigen. Zudem nahm er an, dass ihr die dafür notwendigen Geldmittel nicht im Überfluss zur Verfügung standen. Die arme Frau besaß nicht mal ein Auto! Oder nutzte sie es lediglich nicht für den kurzen Weg zu ihrer Arbeit?

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Mich auf die Arbeit zu konzentrieren, fiel mir alles andere als leicht. Immer wieder musste ich an die Worte des Geistes – Roman – denken. Nicht zum ersten Mal fragte ich mich, was wäre, wenn ...

Wenn er real wäre.

Wenn alles, was er mir gesagt hatte, tatsächlich wahr wäre.

Wenn ich wirklich spurlos verschwand.

Wenn diese Wesen tatsächlich existierten.

Wenn von mir das Überleben meiner Ururgroßnichte abhing.

Wie sollte ausgerechnet ich ihm helfen können? Noch dazu, weil er hier war, um mir zu helfen. Hieß das, ich rettete mich quasi selbst? Lächelnd, aber auf Automatik, bediente ich die Kunden und war froh, als ich die erste Pause einlegen konnte. „Geht’s dir heute nicht gut?“ Was sollte ich Rita bloß sagen? „Passt schon. Ich bin wohl mit dem falschen Bein aufgestanden.“ Sie nickte. „Verstehe. Wieder dieser Sven. Kannst du denn gar nichts gegen ihn unternehmen?“ Tja, der Mann war ein Fall für sich. Nur war er heute nicht der Grund meines leicht gestörten Verhaltens. Also zuckte ich nur wehleidig mit den Schultern. Als ich wieder an der Kasse saß, stellte ich mir die weltbewegende Frage, warum die Pausen schneller vergingen als die Arbeitsstunden – bestimmt irgendein Naturgesetz. Gott sei Dank war das nicht immer so. Nur heute fiel es mir besonders auf. Lag das an der sexy Stimme dieses Geistes oder an meinem bevorstehenden Urlaub? Sexy? Pah, von wegen! Nervig. Jawohl! Und durchgeknallt. Zumindest durfte ich mir das einreden. Niemand zensierte meine Gedanken. Am allerwenigsten ich selbst. Nach gefühlten 48 Stunden endete meine Schicht, und ich konnte endlich in meinen wohlverdienten Urlaub gehen. Als kurz vor Torschluss meine Chefin noch einmal auftauchte, wäre mir fast das Herz stehen geblieben. Zu meinem Glück bedankte sie sich lediglich für mein kurzfristiges Einspringen und wünschte mir einen erholsamen Urlaub.

Umso enthusiastischer zog ich mich um und begab mich nach draußen, wo meine Vorfreude sofort einen kleinen Dämpfer enthielt. „Stopp. Warte noch ein bisschen und geh dann langsam hinten herum. Vorn wartet dieser Mann auf dich.“ Ich flüsterte dem Geist einen leisen Dank zu und tat, was er mir auftrug. Obwohl auch er den Hang zu einem Stalker aufwies, war er mir weitaus angenehmer als Sven. Zu Hause angekommen, verriegelte ich die Wohnungstür, hörte den Anrufbeantworter ab, löschte die Nachrichten, die allesamt von Sven stammten und zog den Stecker des Telefons, nachdem ich kurz mit meinen Eltern telefoniert hatte. Anschließend schaltete ich die Türklingel ab, was hoffentlich Ruhe bedeutete. Sofern nicht irgendein Depp im Haus für Sven die Haustür öffnete und dieser meine Wohnungstür mit Fäusten traktierte, was schon mehr als einmal passiert war.

„Dieser Mann macht dir Angst?“ Ich nickte langsam und rollte mit den Schultern. „Du hast seine Nachrichten doch gehört.“ Die Stimme gab ein Fauchen von sich, was für mich nach einem wenig amüsanten Versprechen klang. „Hast du ein Auto?“ Oho, das war ein recht schneller Themenwechsel. „Nein, nicht mehr. Wieso?“ Die Erklärung, dass ich jemanden für ihn aufsuchen sollte, der außerhalb der Stadt wohnte, brachte mich zum Lachen. „Wie weit außerhalb? Ich meine, es fahren Busse. Wozu brauche ich dann ein Auto? Und falls es wirklich so dringend ist, wie du sagst, kann ich meine Freundin um ihres bitten. Es kann allerdings sein, dass sie mitfahren will.“ Meinem Geist – oh man, jetzt bezeichnete ich ihn schon als zu mir gehörend – schien die Idee, dass Anja mitkäme, nicht zu gefallen. „Ich denke nicht, dass wir sie dort hinein ziehen sollten. Der Mann, zu dem du gehen musst ... Verdammt! Ich weiß nicht mal, ob du sicher bist. Aber es lässt sich nicht vermeiden, da nur du mich hören kannst.“ Ich schluckte mit offenem Mund, was reichlich bekloppt aussah. „Was meinst du mit: Nicht sicher?“ Die Stimme murmelte etwas, was ich nicht verstand. „Er ist kein Mensch. Und Menschen… nun ja, sagen wir, er ist kein Kostverächter.“ Ein ... oh ... „Er ist ein Vampir?“ Meine Stimme quietschte wie eine schlecht geölte Tür, aber das war mir egal. Ein bisschen Hysterie sei mir wohl zugestanden. „Nein. Er ist ... wie soll ich sagen ... die getunte Variante eines Vampirs. Ein Pir.“ Wenn mich das beruhigen sollte, war dieser kleine, nervige, wahrscheinlich verrückte Geist aus der Zukunft aber schief gewickelt. „Bist du bescheuert? Ich gehe da nicht hin. Auf gar keinen beschissenen Fall!“ Die Stimme des Geistes gluckste amüsiert und teilte mir mit, dass ich ein wenig wie Sam klänge. „Red keinen Unfug. Wenn diese Sam derart durchgeknallt war mit solchen Typen abzuhängen, bitteschön. Ich bin es jedenfalls nicht.“ Ich schnaubte, während mir gleichzeitig diverse Möglichkeiten meines Ablebens durch den Sinn rasten und schüttelte mich angewidert. „Dann ruf ihn wenigstens an. Sag ihm, dass du einen Termin bei ihm möchtest und die Zusicherung, dass du verschont wirst.“ Ich hatte genug Horrorfilme gesehen. Für wie blöd hielt er mich eigentlich? „Vergiss es. Such dir eine andere Dumme. Ich bin doch nicht lebensmüde!“ Zielstrebig stand ich auf, ging in meine Küche und angelte mir aus dem Kühlschrank eine Flasche Wein, die ich öffnete, ansetze und einen riesigen Schluck trank. „Dich zu betrinken, nützt dir nichts.“, meinte der Geist nonchalant. Ich schwor, dass ich ihn beinah lächeln sah. Hinterhältig und ausgekocht. „Ich rufe niemanden an, von dem du behauptest, er sei ein Monster. Ganz bestimmt nicht!

„Gott, warum tue ich das nur?“, murmelte ich, während ich die Nummer wählte, die der Geist mir ansagte. Mit trommelndem Herzen lauschte ich auf das Freizeichen und hätte fast gestöhnt, als eine weitere, sehr angenehme Stimme antworte. Ok, konzentrier dich, Briony! „Äh, hallo. Spreche ich mit Stépan?“ Die Bestätigung folgte prompt und natürlich die Frage, mit wem er spräche. „Sie kennen mich nicht, aber bei mir ist ein ... äh ... jemand, der behauptet, sie zu kennen.“ Dieser Stépan fragte mich, wieso er dann mit mir sprach und nicht mit diesem ominösen Jemand. „Bitte halten Sie mich nicht für geistesgestört, aber er gibt einfach keine Ruhe! Und er ist ... äh ... ein Geist. – Verdammt, nein, das sage ich ihm nicht! – Entschuldigen Sie. – Roman, sei still! Ich frage ja, ok? – Entschuldigung. Er ... ich ... äh ...“ So oft, wie ich seit der Begegnung mit dem Roman-Geist Sprechpausen mit diesem ominösen, mir keine sonderliche Intelligenz bescheinigende Äh einlegte, war nicht auszuhalten! Ich atmete tief durch, nannte ihm meinen Namen und brachte mein Anliegen vor, bevor dieser Geist mich ein weiteres Mal unterbrach. „Nur, damit ich Sie richtig verstehe, Briony. Sie behaupten, neben Ihnen steht ein Geist, der durch Sie mit mir sprechen möchte.“ Ich nickte, bis mir klar wurde, dass er das am Telefon natürlich nicht sehen konnte. Also bestätigte ich ihm, dass er das absolut richtig verstand. Oh man, die nächste freie Gummizelle ist mir so gut wie sicher! „Gut. Bleiben Sie, wo Sie sind. Ich komme zu Ihnen.“ Was? „Äh, Moment mal ... Hallo?“ Er hatte aufgelegt. Dabei hatte ich keine Zusicherung, dass mir nichts passieren würde. Ganz zu schweigen davon, dass er meine Adresse gar nicht kannte! Nicht erschrecken, Briony. Du hast Besuch, aber es ist nicht Stépan. „Wieso sprichst du jetzt in meinem Kopf?“ Das war echt unheimlich! Doch dank seiner Vorwarnung schrie ich nur ein ganz kleines bisschen, als ich mich umdrehte und einem riesigen Mann mit flammendrotem Haar gegenüber sah. „Verdammte Scheiße! Wer sind Sie und wie kommen Sie in meine Wohnung?“ Er neigte leicht seinen Kopf, legte ein äußerst charmantes Lächeln auf und stellte sich als Stépan vor. „Äh ... nein, vergessen Sie die Frage. Wo ist Stépan?“ Er lächelte herausfordernd, neigte kurz den Kopf und verschwand. Wusch und weg. Verpufft! Am liebsten wäre ich in eine gepflegte Ohnmacht gefallen. Aber blöderweise hyperventilierte ich nur und drohte zu ersticken. „Ganz ruhig atmen, Briony. Ein und wieder aus. Beruhige dich. Er ist teleportiert. Glaubst du mir jetzt?“ Ich nickte wie eins dieser albernen Plastiktiere, die man früher in die Autos gesetzt hatte und bekam allmählich wieder Luft. Nur um sofort schreiend einen Meter nach hinten zu springen, als ein weiterer Mann vor mir auftauchte. „Verdammt! Hätte mich mal jemand vorwarnen können?“ Ich hob eine Hand in die Höhe, um dem Mann Einhalt zu gebieten, bevor der irgendetwas sagte, die andere auf mein wild trommelndes Herz und murmelte zu Roman, ob dies nun der richtige Mann sei. Er ist es. „Gott sei Dank. Hallo, Herr ... äh ...... Stépan.“ Er lächelte, als ob dieses Lächeln in sein Gesicht gemeißelt wäre. Seine Augen glitzerten bedrohlich und seine langen, schwarzen Haare machten aus ihm die Versinnbildlichung eines Racheengels. „Kommen Sie zur Sache, Briony. Wer ist bei Ihnen und was will er von mir?“ Hilfesuchend rief ich leise nach Roman, dessen Stimme dicht an meinem Ohr erklang. „Herrje, musst du so schreien? Ich bin nicht taub! Und nein, ich verneige mich ganz bestimmt nicht vor ihm! Sag mir einfach, was ich ihm sagen soll.“, zischte ich zu der für Stépan unhörbaren Stimme und verzog entschuldigend das Gesicht. „Ok, also, der Geist – oder was auch immer – behauptet, aus dem Jahr 2133 zu kommen. Und ein ... Was?“ Mein Gesicht verlor jegliche Farbe, als die Stimme mir mitteilte, ebenfalls ein Pir zu sein. Ich half einem ... Monster? Na ja, zumindest sagte das Roman über die Pir. Gut, der Mann vor mir sah nicht wie ein Monster aus, aber ... herrje, welcher normale Mensch konnte sich denn beamen? Besaß er eine Maschine wie die Besatzung der Enterprise? „Er sagt, er sei ebenfalls ein Pir. Jedoch kein gewöhnlicher. Zur Hälfte ist er ein Briam, was ihm ermöglicht, die Magie der – was soll das denn sein ... ja, doch! – von diesen Kehr-was-weiß-ich-was zu benutzen und ...“ Stépan unterbrach mich. „Sprechen Sie von Ker-Lon?“ Ich zuckte mit den Schultern. „Ich wiederhole nur, was er mir sagt. Wieso können Sie ihn denn nicht hören?“ Das anmutige Hochziehen seiner Augenbraue konnte ein gutes Zeichen sein. Oder auch nicht. „Ein Briam und ein Pir? Das ist unmöglich.“ Was er nicht sagte! „Hören Sie, mir ist es vollkommen schnurz, ob es möglich ist oder nicht. Ich rede mit einem Mann, der sich beamen kann und einem anderen, den niemand außer mir hört. Erzählen Sie mir also nicht, was unmöglich ist, klar? – Nein, Roman, ich halte mich nicht zurück! Was denn für eine Kette?“ Gott, entweder sprach ich mit Stépan oder mit dem Geist. Aber mit beiden gleichzeitig musste ich Mister Langhaar vorkommen wie eine schizophrene, völlig übergeschnappte Person. „Er erzählt mir etwas von einer Kette, die sie ihm in der Zukunft übergeben haben. Eigentlich sollte sie dazu dienen, Ihnen glaubhaft zu machen, dass er ein Freund ist. – Stopp, Roman, nicht so schnell!“ Ich versuchte die Angaben, die er machte, dem langhaarigen Kerl möglichst wortgenau wiederzugeben. „... und das letzte Symbol steht für die Ewigkeit.“, schloss ich meine Erklärung ab, die Stépan ausdruckslos in sich aufnahm. „Wenn ich ehrlich bin, glaube ich Ihnen kein Wort. Andererseits: Sie kennen zu viele Details. Und was die Kette betrifft, sie existiert. Genau so, wie Sie diese beschrieben haben. Inklusive der Erklärung ihrer Symbole. Wirklich beeindruckend; für einen Menschen. Wir sollten an einem anderen Ort weiter reden.“ Sein Griff um meine Taille war nicht schmerzhaft, aber fest und kam völlig unerwartet. Für den Bruchteil einer Sekunde hatte ich das Gefühl neben mir zu stehen. Ich taumelte entsetzt, als ich meine Augen, die ich geschlossen haben musste, blinzelnd öffnete. Mein erster Eindruck war beherrscht von Erstaunen, was das Zimmer betraf, in dem ich mich plötzlich befand. Mein Magen jedoch fand, dass ich nicht hier sein sollte oder mich zumindest auf normale Weise hätte an diesen Ort begeben sollen. Somit hatte ich alle Mühe, den vorhin getrunkenen Wein im Magen zu behalten. „Setzen Sie sich. Es wird gleich besser werden.“, wies Stépan mich höflich nickend an, auf einer eindrucksvollen Couch Platz zu nehmen. Sie musste viktorianischen Ursprungs sein. Edel und elegant. Mich wunderte allerdings, dass sie aussah wie neu. „Ein Nachbau. Setzen Sie sich!“

Ooo-kay, der Typ las offenbar ebenso meine Gedanken wie Roman, der Geist. Wo war der eigentlich? „Ich bin hier, keine Sorge, Briony“ Keine Ahnung, warum ich erleichtert war. Aber ich war es. „Nun, bevor wir auf das zu sprechen kommen, was der Geist von mir will, erzählen Sie mir etwas von sich.“ Ich hörte Roman fluchen, aber offenbar wollte er nicht, dass ich widersprach. Und ich für meinen Teil würde dem nichts entgegensetzen. Denn hier war ich auf fremdem Territorium und kein bisschen mutig.

Also begann ich, von mir erzählen.

Ich plapperte einfach immer weiter, da ich vor lauter Nervosität nicht wusste, wann ich aufhören sollte. „Sie sind interessant. Ein normaler Mensch, ohne veränderte Gene, hört einen Geist, der behauptet ein Pir zu sein, der aus der Zukunft kommt. Noch dazu ein Pir, der zur Hälfte Briam ist, was an und für sich utopisch genug ist.“ Mein Versuch zu lächeln scheiterte kläglich. Obwohl dieser Stépan vermutlich der schönste Mann war, den ich je gesehen hatte, fühlte ich mich in seiner Gegenwart nicht sonderlich gut aufgehoben.

Die Hälfte dessen, was Roman mir erzählt hatte und dieser Mann nun wiedergab, obwohl ich die letzte halbe Stunde nur über mich gesprochen hatte, begriff mein Verstand sowieso nicht. Aber mir war aufgefallen, dass er mich als normalen Menschen ohne veränderte Gene bezeichnete. „Heißt das, es gibt bereits Menschen, die anders sind?“ Stépan nickte kaum merklich. „Natürlich. Nur weil die Wissenschaftler deiner Art diese Veränderung noch nicht bemerkt haben, heißt das nicht, dass sie nicht bereits vorhanden ist. Evolution findet nicht von heute auf morgen statt.“ Das wusste sogar ich. Aber ... Oh man, irgendwie wäre ein kleiner Nervenzusammenbruch jetzt genau das Richtige.

„Nun, was auch immer dein Pir aus der Zukunft, der momentan in diesem bedauerlichen Zustand ist, von mir möchte, er muss sich ein wenig gedulden. Ich befürchte, dass momentan kein guter Zeitpunkt zum Reden ist. Er wird wissen, was ich meine. Am Freitag wäre es passend. Sagen wir zum Mittag, Punkt 12.“ Das war keine Frage gewesen, sondern eine Festlegung. Mein Einverständnis wurde vorausgesetzt. Er drehte seinen Kopf zur Tür, in der kurz darauf der rothaarige Mann erschien. „Ian bringt Sie zurück.“ Noch ehe ich fragen konnte, wie ich am Freitag zu ihm kommen sollte, ob mich jemand abholte oder dass ich erst in meinen Terminplan schauen müsste – haha – stand ich wieder in meiner Wohnung und taumelte gegen die Flurwand. Mein Magen schlug mehrere Purzelbäume. Meine Beine fühlten sich an, als hätte ich vier Flaschen Wodka auf Ex getrunken. Hah! Mir würde sicher schon eine reichen, um nicht mehr stehen zu können. Himmel, Herr Gott nochmal, war mir schlecht. Von dem rothaarigen Riesen mit Engelsgesicht fehlte jegliche Spur. Romans Stimme sprach beruhigend auf mich ein. „Es wird gleich besser, Briony. Dein Körper braucht nur einen Moment, um die molekularen Dissonanzen auszugleichen.“ Die molekularen … Was auch immer! Ächzend stieß ich mich von der Wand ab und konzentrierte mich darauf, einen Fuß vor den anderen zu setzen. „Bleib bloß draußen!“, fauchte ich dem Romangeist entgegen, bevor ich ins Bad stolperte, mit der festen Absicht, mich nicht vor seinen Geisteraugen zu übergeben. Der Geruch des Haders, mit dem ich heute Morgen die kläglichen Reste vom Balkon aufgewischt hatte, gab mir den Rest. Ich schaffte es trotzdem rechtzeitig, den Klodeckel hochzuklappen und mich hinzuknien. Was für ein Glück, dass ich noch kein Abendbrot gegessen hatte!

Anschließend spülte ich mir den Mund aus, wischte ihn ab und warf den Hader mit spitzen Fingern in die Waschmaschine, bevor ich mir gründlich die Hände wusch. Ich fühlte mich besser. Vor allem hatte ich nicht mehr das Gefühl mit Gummibeinen auf Rollschuhen zu stehen. Na ja… ich machte auch ohne Gummibeine eine eher klägliche Figur auf diesen Dingern. Am Freitag würde ich mir definitiv ein Taxi nehmen oder Anjas Auto borgen. Ich wollte diesem Stépan auf keinen Fall vor die Füße kotzen.

Obwohl ihm das ganz Recht geschähe.

Das Zittern hörte auf. Recht gelassen trabte ich in die Küche, in der ich mir als erstes einen Schluck Wasser gönnte. „Geht es dir besser?“ Ich nickte. „Danke, ja. Erzähl mir von dir.“ Hauptsächlich forderte ich ihn dazu auf, weil ich die unangenehme Stille füllen wollte. Doch ein kleiner Teil von mir war neugierig, wie sein Leben aussah. „Was willst du wissen?“ Ich zuckte gleichgültig mit den Schultern, während ich im Kühlschrank Ausschau nach etwas Essbarem hielt. „Irgendwas. Hast du Familie, Frau, Freundin, Kinder? Einen Beruf, Hobbys? Leichen im Keller?“ Eine ganze Weile hörte ich lediglich ein gluckerndes Geräusch, dass ich als zurückgehaltenes Lachen interpretierte und verdrehte die Augen. „Meine Güte, dann lass es. Ich werde dich nicht mehr danach fragen. Von mir aus kannst du in deinem Zeitalter in quer gestreiften Plastiktüten über die Straßen laufen und der Sonne huldigen. Oh, ich vergaß, Vampire und Sonne vertragen sich nicht. Gilt das auch für Pir?“ Ob es ihn stört, wenn ich die nächsten Tage irgendetwas mit Knoblauch koche? Jetzt wurde das Lachen noch lauter. Regelrecht schallend. Er bekam sich gar nicht mehr ein. Mit einem immer noch hörbaren Glucksen äußerte er sich zu meinem für ihn anscheinend ständig lauten Gedanken. „Tue dir keinen Zwang an zu kochen, was immer du willst. Ich persönlich liebe Knoblauch, auch wenn ich nichts Grünes esse. In der Hinsicht bin ich ziemlich wählerisch. Die Sonne stört weder Vampire noch Pir. Das ist dummer Aberglaube, den sich die Kirche vor Urzeiten ausgedacht hat, um die Menschen in Sicherheit zu wiegen. Obwohl die vermutlich nie einem echten Vampir oder Pir über den Weg gelaufen sind. Und falls doch, haben sie es entweder vergessen oder gar nicht überlebt. Auch diverse andere vermeintliche Hilfen sind nutzlos. Silber, Pflöcke, fließendes Wasser, Weihwasser, Kirchen, Kreuze oder die Einladung, eine Wohnung zu betreten. Alles Humbug. Wir sind keine verwandelten Menschen, Briony. Wir sind eine andere Rasse. Ihr Menschen stammt von den Affen ab; wir Vampire von Dämonen. Man kann uns verletzen, wenn man schnell genug ist, aber … Nun, das willst du nicht wissen. Du solltest deine Weltanschauung zumindest für den Augenblick, in dem du mich an deiner Seite hast, grundlegend überdenken.“ Nur für den Augenblick? Herrje, er eröffnete mir eine völlig neue Welt und erwartete von mir, dass ich sie innerhalb eines Fingerschnippens akzeptierte? Zugegeben, billigen musste ich sie, nachdem ich gesehen hatte, wie Stépan und der andere sich einfach durch die Gegend zappten. Oh, nicht zu vergessen: auch mich. Oder seitdem ich mit einem Geist sprach, der erwiesenermaßen sehr real war. Aber das hieß nicht, dass ich es auf der Stelle begreifen musste! So viel Fassungsvermögen hatte mein Kopf nicht. Die Informationen mussten ein wenig sacken, bevor er mir neue geben konnte. Sofern sich das alles nicht als ein abgekartetes Spiel mit einer Menge Statisten entpuppte, was ich ebenfalls für eine plausible – wenn auch leicht paranoide – Erklärung hielt. Wer sollte sich denn eine derart kostenintensive Vorstellung leisten können? Die Antwort lag mir auf der Zunge, bevor ich den Gedanken zu Ende dachte. Sven. Er schwamm zwar nicht unbedingt in Massen von Geld, aber als Bankkaufmann verdiente er sehr viel mehr als ich. Trotzdem lag das Unwahrscheinliche näher an den in zu Betracht ziehenden Möglichkeiten. Denn selbst mit einem ganzen Zug voller Gold war das Beamen aus dem Sichtwinkel der Normalität nicht erklärbar. „Teleportieren, nicht beamen.“, korrigierte mich der Geist. Mir schwirrte der Kopf. So hatte ich mir den Beginn meines Urlaubs weiß Gott nicht vorgestellt. Das würde ein ziemlich vermasselter Urlaub werden. Zum Glück war ich Sven nicht begegnet. Wenn auch seine Sprüche auf dem Anrufbeantworter, den ich tagsüber anschaltete, immer derber wurden. Zähne knirschend löschte ich seine Drohungen und den gequirlten Mist, den er sich in seinem verkorksten Hirn zusammenreimte. „Wenn ich über einen Körper verfügte, würde ich mich dieses Problems annehmen. Aber mir sind leider die Hände gebunden, Briony.“ Ich wusste seine Anteilnahme zu schätzen. Doch wie er es bereits sagte: Ohne Körper konnte er nichts gegen Sven ausrichten. Oder doch? „Kannst du ihn nicht irgendwie in Besitz nehmen?“ Hoffnungsvoll sah ich in die Richtung, in der ich Roman vermutete. „Ich bedaure. Selbst wenn, fehlt mir die Kenntnis, wie ich das anstellen soll.“ Zumindest hatte ich gefragt. Vielleicht sollte ich diesem Stépan einen dezenten Hinweis geben? Sozusagen einen kleinen Wink mit dem Zaunpfahl oder notfalls auch mit dem gesamten Gartenzaun. Irgendwie zweifelte ich jedoch daran, dass dieser mir aus reiner Nächstenliebe diesen Gefallen erwies. Er hatte keinen Grund dazu. Ich war nur der Überbringer einer Nachricht, quasi ein Briefumschlag und somit entbehrlich. Er war zu überhaupt nichts verpflichtet, was mir mit Erschrecken bewusst wurde. Mitsamt der nächsten Erkenntnis, dass nicht vereinbart worden war, dass ich unversehrt aus dieser Sache heraus käme. Was, wenn mich Stépan zum Mittag einlud, weil er mich als solches betrachtete? Bei der Vorstellung wurde mir ganz schlecht.

Homo sapiens movere ~ gerettet

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