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Sorgen die Menschen nicht für ihr Vieh? Warum sollten wir uns anders verhalten?“

Nico SanderAbgeordneter des Bundestags,Fraktion der Vampire, 2122

Es war Freitag, der 13. Ein ganz schlechtes Zeichen. Normalerweise war ich nicht abergläubig. Normalerweise traf ich mich aber auch nicht zum Mittagessen mit einem Wesen, dass ich bis vor wenigen Tagen ins Reich der Fantasie eingeordnet hatte. Oder zumindest eine andere Variante seiner Daseinsform. Vampir; Pir. Musste es denn eine Steigerung zum Blutsauger geben? Das wäre wie die Steigerung des Finanzamtes – unnötig und beängstigend.

Ich wusste nicht, ob es schlimmer gewesen wäre, ihn am Mittwoch zu besuchen. In ganz Deutschland war eine Sonnenfinsternis gewesen. Viel hatte ich von meinem Fenster leider nicht sehen können. Zu viele Wolken. Aber es war merklich dunkel geworden. Hm… Sonnenfinsternis oder Freitag, der 13. Keine Ahnung, was ein merkwürdigerer Tag für ein Treffen mit einer Ex-Fantasiegestalt anging. Allein die Häufung all dieser Variablen sorgte bei mir für ein sehr, sehr mulmiges Bauchgefühl.

Ich schaute auf die Uhr. Es war kurz nach 11. Um rückwärtsessenden Eventualitäten vorzubeugen, hatte ich – abgesehen vom Kaffee – auf mein Frühstück verzichtet. Dementsprechend hing mein Magen irgendwo in Höhe meiner Kniekehlen. Dabei hätte ich so gern ein Taxi genommen… oder mir Anjas Auto geborgt. Aber der Herr Geist war der Meinung, dass der andere Knilch mich abholen würde. Glücklicherweise hatte ich noch kein Taxi bestellt, als er mir das mitteilte. Mit der klitzekleinen Dreingabe, dass sich außerhalb der Stadt doch als etwas weiter weg entpuppte, als bisher von mir angenommen. Ich hätte mich dumm und dusselig bezahlt!

Die Zeit bis zum Eintreffen des schwarzhaarigen Pir verlief tröpfelnd.

Ich war hypernervös, ungeduldig, aufgeregt und – um ganz ehrlich zu sein – voller Angst. Fast wie bei einem Zahnarztbesuch… oder einer Prüfung… nur schlimmer. Nervös zappelnd, immer wieder meine Kleidung und meine Frisur überprüfend, tigerte ich durch die Küche. Ich hatte sogar entgegen meiner eigentlichen Neigung schon acht – acht! – Zigaretten geraucht.

Das war untypisch für mich.

„Du musst nicht nervös sein.“ Dieser Roman hatte gut reden! Er konnte auch nicht als Mittag enden. „Ohne dich hätte ich dieses Problem überhaupt nicht. Was, wenn Stépan an mir nuckelt?“ Der Vampirgeist lachte. Schön für ihn. „Nuckeln?“ Ich zuckte mit den Schultern. Nuckeln klang viel besser als saugen oder trinken. Oder schlimmer noch: Essen. Letzteres implizierte automatisch, dass spitze Zähne in meinem Fleisch steckten. Und das wiederum bedeutete Schmerz. Und definitiv fließendes Blut. Da ich kein Blut sehen konnte, würde ich ohnmächtig werden und meinen eigenen Tod nicht bemerken. Was eigentlich gar nicht so übel wäre. Abgesehen davon, dass ich dann eben tot wäre. Ich seufzte. „Lenk mich ab. Erzählt mir einen Witz.“ „Ich kenne keine Witze.“ Na super. Eine Schnarchnase! Jeder kannte doch Witze. „Dann irgendwas anderes. Wie ist es in der Zukunft? Gibt es fliegende Autos?“ „Die gab es. Eine Weile. Jetzt nicht mehr.“ „Warum nicht?“ „Zu kostenaufwendig. Zu umweltschädlich. Außerdem fühlen sich ein paar Dämonenrassen von ihnen gestört. Sie tolerieren Flugzeuge und Hoverboards, aber keine fliegenden Autos.“ „Es gibt Hoverboards? Echt?“ Und Dämonen auch? Heilige Scheiße! Aber so ein fliegendes Brett würde ich zu gern einmal mit eigenen Augen sehen. Ich würde mich sogar drauf stellen und zum Idioten machen. Vermutlich würde ich keine zwei Sekunden drauf stehen, ehe ich mich auf den Hosenboden setzte. Mit Abzügen in der A- und der B-Note, aber Pluspunkten für die allgemeine Erheiterung. „Aha. Wie sieht es mit Robotern aus? Intelligente Maschinen wie beim Terminator?“ „Hättest du das gern?“ Warum nicht? Solange sie nicht rebellierten, könnte ich als Singlefrau auf eine Beziehung verzichten und mir stattdessen eine Maschine anlachen, die darauf programmiert war, mich von vorn bis hinten zu bedienen, zu umsorgen und rundherum glücklich zu machen. Auch im Bett. Ich kicherte bei dem Gedanken; Roman schnaubte. Fast meinte ich, das Kreisen seiner Augen zu sehen. Glücklicherweise erlöste mich die Türklingel von einer Antwort. Nur dummerweise nicht von meinem Besuch bei diesem schnuckeligen, langhaarigen Mister Universum, dessen gutes Aussehen nur Tarnung war. „Ganz ruhig, Briony. Theoretisch kann dir nichts passieren. Du verschwindest erst am 20. August. Schon vergessen?“ Na toll. Das sollte mich beruhigen? Ernsthaft? Was würde er eigentlich tun, wenn ich jetzt begann lauthals zu kreischen? Seine nicht vorhandenen Ohren zuhalten? Wozu war ein Vampirgeist gut? Welche Evolution erfand denn sowas? Andererseits hatte Mutter Natur auch Spinnen erfunden. Die mochten nützlich sein – das schon – aber ich fand sie widerlich und hässlich und… wäh. Da war Stépans Anblick um Meilen besser, obwohl der sehr viel gefährlicher war als die gemeine Hauswinkelspinne. „Äh… und du meinst, er klingelt?“ Ich erwarte nämlich sonst keinen anderen Besuch. Auch keine Post. „Finden wir es raus. Öffne.“ Hmhm, und wenn das ein Psycho war, der mich mal flugs entführte, um mich noch ein paar Tage zu quälen und erst dann zu erledigen? Tja, immerhin wüsste Roman dann, was er meiner Nichte - mit ein paar Ur davor - erzählen konnte. Freilich würde er verschweigen, dass es seine Schuld gewesen war. Andererseits klingelten Entführer wahrscheinlich nicht am helllichten Tag an der Tür. Sven? Hoffentlich nicht. Normalerweise arbeitete er um diese Uhrzeit. Seine Mittagspause war erst um eins. Ich ging an die Gegensprechanlage. Niemand antwortete mir. Super! Jetzt fühlte ich mich gleich noch einen Tick mulmiger. „Niemand unten.“ „Warte hier.“ Was glaubte er, was ich sonst tun würde? Nach unten stürmen? Ich könnte aus dem Fenster sehen… sofern derjenige, der geklingelt hatte, einmal ums Haus rannte. „Warte hier.“; äffte ich ihn nach und wäre um ein Haar kreischend von der Tür weggesprungen, als es nun an dieser schellte. Mit dem Klingelton, der mir sagte, dass jemand direkt davor stand. Ein Blick durch den Spion und die gleichzeitige Ansage Romans, dass es sich um eine ältere Frau handelte, ließ mein Herz wieder in einem gesunden Tempo schlagen. Nur, um gleich wieder in den Sprint zu verfallen. Was wollte meine Mutter hier? Klar hatte ich Urlaub, aber… aber… aber… verdammt! Ich wurde gleich von Mister Universum abgeholt. Auf eine sehr unkonservative Art. Und der würde auch genauso hier rein schneien! „Das ist meine Mutti.“, flüsterte ich. „Hab ich bereits deinen wirren Gedanken entnommen. Lass sie rein. Stépan wird sich um sie kümmern.“ Unzählige Bilder von Blut und Zähnen schossen in meinen Kopf. Entsetzt schnappte ich nach Luft. „Bist du irre?“ „Nein. Und jetzt mach ihr auf. Stépan ist kein Unmensch.“ Ich wartete auf den letzten Teil des Satzes. Den, der mit ‚hoffe ich‘ endete. Doch der kam nicht. Also öffnete ich die Tür. „Überraschung, Liebes!“ Meine Mutter zog mich in ihre Arme, drückte mir zwei feuchte Küsse auf die Wange, schob mich leicht von sich und betrachtete mich von oben bis unten. „Gut schaust du aus. Aber du hast abgenommen. Isst du auch genug? Ich habe Brot mitgebracht vom Mühlenbäcker. Das liebst du doch so sehr. Und Wurst von unserem Fleischer. Oh, und ein paar Tomaten von Heinkens, Gurken aus dem Gewächshaus, zwei Zucchini – ebenfalls eigene Ernte und von Müllers gegenüber – du weißt schon, die mit dem zerzausten Hund – Kartoffeln, Eier und Johannisbeeren. Hier in der Stadt ist doch alles so teuer.“ Sie drückte mir mehrere Einkaufsbeutel in die Hand, zog ihre Schuhe aus und plapperte weiter. Währenddessen verstaute ich die Einkäufe in der Küche – natürlich nicht ohne mich mehrmals zu bedanken – und zeigte ihr dann meine Wohnung. „Schick wohnst du hier. Sehr schön. So hell. Wirklich schick. Und der Ausblick… du meine Güte! Und so nette Nachbarn. Die haben mich unten gleich rein gelassen.“ Nette Nachbarn. Hm? Das kam darauf an, wen sie ins Haus ließen. Ich hörte zu, nickte ab und an und gab an den richtigen Stellen die richtigen Kommentare. Das hatte ich mir schon angewöhnt, als ich noch zur Schule ging. Ansonsten konnte meine Mutter sehr schnell sehr, sehr grantig werden. Widerworte mochte sie überhaupt nicht. „Hast du was vor? Halte ich dich von irgendwas ab?“ Äh… Sag nein. Den Rest regelt Stépan. Ich dankte Roman im Stillen. Hätte ich meine Mutter angestottert, wäre diese zu Sherlock Holmes mutiert. Binnen einer Nanosekunde. „Nein, hab ich nicht. Magst du was trinken? Was Kaltes? Ist ja ziemlich warm heute. Bist du mit dem Bus gekommen?“ „Iwo! Bei der Hitze bringen mich keine zehn Pferde in den Bus. Susi, die jüngste von Heinkens ist hier eine Freundin besuchen. Sie hat mich mitgenommen. Vati wollte nicht mit. Er hockt lieber in Schlüpfern daheim vor der Glotze, trinkt ein kaltes Bier und schaut Fußball. Soll er mal machen.“ Sie feixte und knuffte mir mütterlich in die Seite. „Also meine Hübsche, erzähl. Wie läuft es auf Arbeit? Was macht die Liebe?“ Theoretisch war sie auf dem aktuellen Stand. Wahrscheinlich wollte sie sich nur vergewissern, dass seit unserem letzten Telefonat am Mittwochabend nichts Gravierendes vorgefallen war. Ein Erdrutsch nebenan, der Sven verschüttet hatte zum Beispiel. Oder ein Monsun, der mir meinen Traummann direkt vor die Füße warf. Tja… in den letzten Tagen hatte es keinen Regen gegeben. Mein Traummann musste noch warten. Und das spektakuläre Ableben von Sven ebenfalls. Du hast interessante Vorstellungen, die das Verschwinden deines Exfreundes betreffen. Gefallen mir. Wäre ich mit meinem Körper in dieser Zeit, wärst du dieses mittelschwere Problem bereits los. Gott sei Dank bemerkte meine Mutter nicht, dass ich bei Romans plötzlichen Worten dezent wie ein Knallfrosch in der Bibliothek zusammen zuckte. Vermutlich würde ich am 20. dieses Monats zu Tode erschrocken an einem Herzklabaster sterben. Gerade, als ich Roman deswegen gedanklich zusammenstauchen wollte, tauchte Stépan auf. Mitten in meiner Wohnstube. Vor den Augen meiner Mutter, die sofort zu kreischen begann. Ich schnappte nach Luft, klappte den Mund aber sofort wieder zu. Ansonsten wäre mein Herz gleich vor Stépans Füße gehüpft und hätte dort ‚Spiel mir das Lied vom Tod‘ gemorst. Die Gesellschaft dieser zwei nichtmenschlichen Individuen ging ganz schön aufs Herz. Ernsthaft! Wie hielten die Menschen in der Zukunft das aus? Waren die abgehärtet? Das Kreischen meiner Mutter verstummte und machte Platz für ein zufriedenes Summen. Begleitet von einem sehr seligen Lächeln. Was zum Geier hatte er mit ihr gemacht? „Hallo Briony. Keine Sorge. Ihrer Mutter geht es gut. Solange wir uns unterhalten, wird sie in einer Erinnerung leben, in der Sie erst wenige Tage alt sind. Kommen Sie.“ Er streckte seine Hand aus, die ich wohl ergreifen sollte. Musste! Verdammt. Ich wollte gar nicht. Fragte mich jemand? „Sind Sie sich sicher, dass es ihr gut geht?“ „Absolut. Vertrauen Sie mir!“ Na klar. Sonst noch Wünsche? Eine Rückenmassage? Eine Flechtfrisur? Strähnchen? Ich kannte ihn schließlich kein bisschen. „Sie haben Recht. Sie kennen mich nicht. Aber bleibt Ihnen eine andere Wahl?“ Ich schüttelte den Kopf. Mit einem mulmigen Gefühl ergriff ich seine immer noch ausgestreckte Hand. Ein Augenblinzeln – und ich stand in seiner Wohnung… Haus, Palast… was auch immer. Roman? Seine Antwort in meinem Kopf erleichterte mich. Wie schnell ich mich doch an ihn gewöhnte. Besonders daran, dass ich ihn ohne Zutun in meinem Kopf hörte. Tja, sowohl Roman als auch Stépan hörten meine Gedanken schließlich auch. Da war es nur fair, dass ich Romans ebenfalls hören konnte. Zumindest die, die explizit für mich bestimmt waren. Ich nahm mir fest vor, nicht allzu viel zu denken. Und wenn, dann nur ganz banale Sachen. Zum Beispiel, dass der Innenarchitekt in dieser Behausung wirklich erstklassige Arbeit geleistet hatte. Auf keinen Fall würde ich Stépan knackigen Hintern, seine breiten Schultern, seine schmale Taille oder sein sexy Aussehen im Allgemeinen auf mich wirken lassen. Bestimmt nicht! Das würde sein Ego noch mehr aufblasen. So selbstbewusst, wie der Kerl war, würde er dann durch keine Tür mehr passen. Stépan gluckste leise. Ich… äh… man! Schöne Tapete. Mit Glitzer… wie süß. Vielleicht ist er schwul. Oder sein Innenarchitekt. Böse Briony, bestimmt hat hier seine Frau das Sagen.Obwohl ich sehr wenig – eigentlich gar keine – niedlichen Accessoires entdecken konnte. Kein Nippes, keine Blümchen, keine Kerzen, keine Fotos.

Er führte mich an einen festlich gedeckten Tisch, zog mir einen Stuhl heraus und bat mich Platz zu nehmen. „Ich hoffe, Sie mögen Chateaubriand?“ Das war ein Wein, oder? Gehört hatte ich das Wort schon mal. „Das werde ich heraus finden.“ Mit einem Lächeln konnte ich hoffentlich meine Unwissenheit kaschieren. „Das stimmt. Wein dazu?“ Äh… Stépan schmunzelte nicht, aber ich war mir sicher, dass er sich über mich lustig machte. Sag ja, Briony. Du musst das Glas ja nicht austrinken. „Gern.“ Dankbar, dass Roman sich eingemischt hatte, fragte ich ihn, was ich gleich auf dem Teller hätte. Grob gesagt, ein Rindersteak. Puh, ich hatte schon fast befürchtet, der Pir würde mir Tintenfisch oder sowas kredenzen. Stépan ließ mich allein am Tisch und tauchte nur wenig später mit zwei Tellern in der einen Hand, zwei Gläsern und einer Flasche Wein in der zweiten wieder auf. Überraschung! Ich hatte angenommen, er würde lediglich mit den Fingern schnippen, damit das Essen wie von Zauberhand auf dem Tisch erschien. Entweder durch Bedienstete oder so, wie er mich hierher gezappt hatte. Galant setzte er die Teller und die Gläser ab, öffnete den Wein und füllte diesen ein. Dann setzte er sich. „Guten Appetit, Briony.“ Guten Appetit? Echt jetzt? „Danke. Gleichfalls.“ Er zwinkerte mir zu und begann zu essen. Ich hatte nichts im Auge. Trotzdem musste ich blinzeln. Der Mann aß! War er nicht eine – wie hatte Roman gesagt – getunte Variante eines Vampirs? Die tranken Blut. Wusste jedes Kind. Vielleicht aber auch nicht. Immerhin wusste auch jedes Kind, dass sie keinen Knoblauch mochten und in der Sonne sowie beim Anblick eines Kreuzes verbrutzelten. Zudem wollte er mit mir sprechen. Während des Essens offenbar nicht. War ihm so langweilig oder war er so einsam, dass er sich fremde Personen zum Mittag einladen musste? „Denken Sie nicht so viel, Briony. Genießen Sie ihr Filet.“ Argh, ich musste unbedingt meine Gedanken zensieren. Die waren taktlos. Allerdings war es auch unhöflich, meinen Gedanken zu lauschen und diese zu kommentieren! Na gut. Wo ich schon einmal hier war und das Essen so lecker duftete…

Eine gute halbe Stunde später saß ich tiefenentspannt nach hinten auf den Stuhl gelehnt und strich mir über den Bauch. Lecker. Sehr, sehr lecker das Essen. Besser, als in einem Restaurant. Obendrein ein netter Gastgeber mit sehr viel Charme und der Gabe, ein locker, leichtes Gespräch zu führen. Bisher hatte er sich jedoch nicht an das eigentliche Thema gewagt. Ich betrachtete ihn. Er war wirklich einer der schönsten Männer, die ich je gesehen hatte. Wie alt er wohl war? So jung, wie er aussah oder um einiges älter. „Fragen Sie doch einfach.“ Bitte, das konnte er haben. „Wie alt sind Sie?“ Er ließ seine Augenbrauen hüpfen. „Alt.“ Eine sehr präzise Antwort. Vielen Dank auch! „Haben Sie im Mittelalter schon gelebt?“

„Sie interessieren sich dafür?“ Begeistert nickend sprudelten die Worte aus mir heraus. „Sie wollen es sehen?“ Ja, ich weiß, mein Gesicht schlief ein. Es sehen wollen? Ich schüttelte den Kopf. „Nein, will ich nicht. Nur alles darüber wissen. Ich weiß, dass es bei weitem nicht so romantisch war, wie uns viele Schriftsteller weismachen wollen. Aber ich finde dieses Zeitalter wahnsinnig spannend.“ „Ich biete ihnen die Gelegenheit, meine Erinnerungen zu sehen und Sie lehnen ab. Warum?“ Heftig schluckend verknotete ich meine Hände ineinander. „Aus Angst, mehr zu sehen, als ich sehen will.“ Stépan nickte. „Wenigstens sind Sie ehrlich.“ Er tupfte sich mit der Serviette die Lippen ab, griff nach seinem Weinglas und trank einen Schluck. Man! Mein Mund wurde ganz trocken. Ich sollte vielleicht auch noch etwas von dem Wein trinken. Nein, besser nicht. Roman, bist du da? Das gesamte Essen über hatte ich nichts von ihm gehört. An deiner Seite. Erleichterung überschwemmte mich. Ein absolut surreales Gefühl. Denn er würde mir kein bisschen helfen können, sollte Stépan vom charmanten Gastgeber zum blutdurstigen Monster mutieren. „Noch Wein?“ Ich lehnte dankend ab. Schließlich war ich hier zu einem Gespräch und nicht auf einem Date. Wollte er mich betrunken machen? „Keineswegs. Ich möchte nur, dass sie sich entspannen.“ Als ob ich in Graf Draculas Nähe entspannen konnte! Zugegeben, er war sehr nett. Sehr charmant. Aber laut Romans Aussage konnte er auch anders. Diese andere Seite mochte ich nur ungern erleben. „Geht klar. Vielen Dank für das super Essen. Und jetzt… können wir reden? Deswegen bin ich doch hier.“ Er nickte. „Können wir. Kommen Sie. Gehen wir raus. Ein wenig die Sonne genießen.“ Ich musste ihm Anerkennung zollen, weil er alles tat, damit ich mich wohl fühlte. Andererseits hatte auch die Hexe von Hänsel und Gretel die Kinder mit falschen Tatsachen in ihr Haus gelockt. In Stépans Haus war ich schon… und in den Ofen schieben wollte er mich sowieso nicht. Ebenso gut konnte ich auf mich zukommen lassen, was immer er plante. Vermutlich gar nichts. Ich sollte einfach abschalten und genießen. Ich folgte ihm nach draußen. Und… wow! Der Garten war eine Wucht. Ich fühlte mich, als wäre ich im Urlaub. Irgendwo in der Toskana. Das Wetter spielte da zwar nicht unbedingt mit – wir hatten kaum 20 Grad – aber das war mir im Moment einerlei. „Setzen Sie sich. Hier, damit sie nicht frieren.“ Beeindruckend. Also nicht seine Fürsorge – gut, die auch – aber wie er die Decke herbeigezaubert hatte. Von jetzt auf gleich war sie in seiner Hand gewesen. „Danke.“ Wenigstens stotterte ich nicht. Gedanklich klopfte ich mir dafür auf die Schulter. „Gut. Also, Briony, reden wir. Beziehungsweise, fungieren Sie als Vermittler zwischen Ihrem Roman und mir.“ „Er ist nicht mein Roman. Ich bin nur zufällig die Einzige, die ihn hören kann. Schon seltsam, finden Sie nicht?“ „Ich habe schon sehr viel seltsamere Dinge gesehen.“ Ich glaubte ihm sofort. „Roman?“ Zur Stelle. Ich verdrehte die Augen. „Wäre nett, wenn du normal mit mir sprichst, statt in meinem Kopf. Nicht, dass ich was durcheinanderbringe.“ Dass ich meine Gedanken aussprach anstatt seinen. Das wäre… im besten Fall unhöflich; im schlimmsten peinlich. Für einen winzigen Moment glaubte ich, dass Stépan mich verwundert anschaute. Für eine Millisekunde. Oder ich hatte es mir schlichtweg eingebildet. Die nächste Stunde wiederholte ich das, was Roman mir sagte. Ich hakte nicht dazwischen, sondern spielte die brave Souffleuse. Obwohl… ich sprach in normaler Lautstärke und flüsterte nicht. Aber einen anderen Ausdruck fand ich für meine gegenwärtige Funktion nicht. Schließlich schien Stépan mit dem Gespräch zufrieden zu sein. Für mich war es jedenfalls sehr aufschlussreich gewesen. Was es in der Zukunft alles gab, erschien mir größtenteils utopisch. Dämonen, Werwesen, Hexen, genetisch weiterentwickelte Menschen, Vampire. Tja, Fakt war: Die gab es auch jetzt schon. Nur wusste kein Mensch davon. Außer mir und vielleicht noch einer Hand voll Eingeweihter. „Möchten Sie jetzt noch einen Wein, Briony?“ „Vielen Dank, Stépan, aber nein. Ich bin mir schon jetzt im Unklaren, ob es besser wäre, lieber ein Taxi zu bestellen.“ „Warum?“ „Wenn Sie mich teleportieren… das ist für mich nicht sonderlich magenfreundlich.“ Er lachte leise. „Entschuldigen Sie. Ich wollte mich nicht über Sie lustig machen. Ich vergesse nur hin und wieder, dass Sie als Mensch anders funktionieren. Ein wenig. Machen Sie sich keine Gedanken darüber. Ich werde dafür sorgen, dass es Ihnen im Anschluss gut geht.“ Wirklich? Wollte er ein Stoppschild für meinen Magen aufstellen? „Ich nehme Sie beim Wort, Stépan.“ Er zwinkerte mir zu. „Also keinen Wein mehr? Möchten Sie heim?“ Ich nickte. „Immerhin ist meine Mutti zu Besuch.“ „Stimmt.“ Er stand auf und reichte mir die Hand. „Bereit?“ „Bereit, wenn Sie es sind.“

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