Читать книгу Das verlorene Seelenheil - R. S. Volant - Страница 5
Frühlingserwachen
ОглавлениеBrac marschierte mit Amanoue auf seinen Armen über den Hof und blieb vor dem U-förmigen Bauwerk stehen. „Also nur noch mal zur Erklärung, die Soldatenunterkunft besteht aus drei Langhäusern, die miteinander verbunden sind. Links von uns, wohnt die erste Abteilung, also Herriks Männer, die zweite, also wir, sind in der Mitte untergebracht, aber das weißte ja eh schon und das rechte Gebäude wird von Ulrichs Leuten bewohnt. Jedes Langhaus besitzt fünf Schlafräume à zehn Mann und noch eines für die Unteroffiziere, allerdings penn ich lieber bei meinen Jungs! Ich hab mir eh ein anderes Bett anschaffen müssen, das in der Offizierskammer war ein bissel zu kurz für mich und viel zu schmal“, meinte er augenzwinkernd. „Außerdem gibt’s noch einen Gemeinschaftsraum, da wo wir immer rumhocken, den kennst du ja auch zur Genüge und direkt dahinter sind unsere Schlafräume. Die Hauptleute sind in einem eigenen Trakt untergebracht, selbstverständlich im Schloss“, sagte er etwas spöttelnd.
Amanoue nickte leicht. „Lässt du misch bitte runter? Isch würde lieber auf meine eigene Füße reingehen“, bat er leicht verlegen.
„Kannste denn gehen?“, fragte Brac abschätzend und Amanoue nickte erneut.
„Klar doch, die paar Schritte schaffe isch schon“, meinte er bestimmt und so setzte Brac ihn vor sich ab. Amanoue schnaufte tief durch, was einem schweren Seufzer gleichkam. „Und wo schlafe isch?“
„Na bei uns! Wir stellen dir einfach noch ein Bettchen rein! Ach nee, brauchen wir ja gar nicht, Alecs Bett ist eh noch unbesetzt, wenn`s dir nix ausmacht?“
Amanoue schüttelte kurz den Kopf. „Nein, gar nischds und außerdem kann isch in meine Situation wohl eh keine Ansprüsche stellen“, seufzte er zu ihm hoch.
Brac grinste auf ihn hinab und tätschelte ihm aufmunternd die Schulter. „Na dann, lass uns reingehen und ein erstes Bierchen auf dein neues Zuhause schlürfen!“
„Oje, was die Jungs wohl dasu sagen werden?“, murmelte Amanoue befürchtend, doch Brac schob ihn schon sachte an.
„Na was wohl, die werden sich freuen! Wie immer, wenn sie dich sehen, naja, außer Benny vielleicht. Der wird wohl nich ganz so erfreut darüber sein, aber du musst ja zum Glück nicht direkt neben ihm pennen. Alecs Bett steht ganz hinten und Bennys ziemlich weit vorne, auf der anderen Seite und an seine dummen Sprüche bist du doch eh schon gewöhnt“, winkte Brac lässig ab.
„Ja, schon“, seufzte Amanoue wieder und zog den Umhang enger um seine schmale Gestalt. „Wirklisch saukalt, brrr“, machte er und Brac lachte.
„Dann Abmarsch mit dir, rein ins Warme“, sagte er drängend und beide betraten rasch das Wachgebäude.
Wie immer war der Aufenthaltsraum gut gefüllt, wenn nicht sogar überfüllt und wirklich jeder Tisch und Sitzplatz war besetzt. Brac schob Amanoue weiterhin vor sich her und nicht wenige der Soldaten grüßten freundlich, als sie deren Tische passierten, um an ihren Stammplatz zu gelangen.
Natürlich waren die Jungs erstmal baff als sie erfuhren, dass Amanoue bei ihnen einziehen würde und Benny verschränkte auch gleich abschätzend die Arme vor der Brust. „Was hast du denn jetzt wieder angestellt?“, fragte er, die Augen maßlos übertrieben verdrehend.
„Er hat gar nichts angestellt!“, antwortete Brac sogleich. „Seine Majestät meinten nur, dass es dem Kleinen mal guttun würde, wenn er als sein Adjutant auch das echte Soldatenleben kennenlernt!“
„Wer`s glaubt“, raunte Benny höhnisch und Brac hob drohend eine seiner riesigen Pranken. „Ist ja schon gut“, wiegelte Benny schnippisch ab, „man wird ja mal fragen dürfen! Herrje, was bist`n so schlecht drauf!“
„Halt deine vorlaute Klappe, Benny! Oder ich lass dich `ne extra Wache schieben und zwar draußen“, drohte Brac ihm nochmals nachdrücklich an und sein jüngster Rekrut wandte sich beleidigt ab.
„Du hast ja wahnsinnig abgenommen!“, sagte er dafür wieder übertrieben staunend zu Amanoue. „Wie hast`n das geschafft, bei der Wampe, die du hattest?“
Amanoue zuckte nur die Achseln und wich seinen musternden Blicken aus, was Benny noch mehr Zunder zu geben schien. „Also die Fastenkur musst du mir echt mal verraten oder lag es daran, dass du dich seit Wochen hier nicht mehr hast blicken lassen? Wo hast`n gesteckt?“
„Mir ging es eine Seitlang nischd so gut“, antwortete Amanoue verhalten und Benny klatschte in die Hände.
„Wusste ich`s doch! Wir haben uns nämlich alle schon gewundert, wegen der eigens zu deiner Bewachung abgestellten Leute“, platzte es aus ihm heraus. „Nun erzähl schon, was war wieder los?!“
Auch die anderen am Tisch sahen Amanoue neugierig an und so blickte der hilfesuchend zu Brac. „Lass ihn in Ruhe, Benny! Ihr alle!“, brummte ihr Vorgesetzter. „Holt uns lieber mal einer von euch Knilchen `n Bier!“, verlangte er und Finn nickte.
„Da war doch wieder was, zwischen dir und seiner Majestät“, ließ Benny einfach nicht locker und endlich sah ihn Amanoue direkt an.
„Wir sind nischd mehr susammen, alles klar jedsd? Seine Majestät hat misch rausgeworfen, endgültig! Und wenn ihr den Grund dafür auch noch wissen wollt, isch habe ihn betrogen, mit eine Frau“, sagte er und senkte durchschnaufend wieder seinen Blick.
Alle am Tisch starrten ihn an. „So, jetzt wisst ihr es und nun kein weiteres Wort mehr darüber“, zischte Brac sie drohend an. „Der Kleine wird erstmal hier bei uns unterkommen und im Frühjahr wird sich zeigen, wie es weiter geht, aus, ende!“
Finn stand schluckend auf, holte zwei Bier und stellte sie vor ihnen hin. „Scheiße Mann“, sagte er zu Amanoue und der nickte seufzend.
„Das kannst du laut sagen!“
„War sie`s wenigstens wert?“, fragte Matto grinsend.
„Nein, nischd wirklisch“, antwortete Amanoue genervt. „Sie war nur eine von diese willige Weiber, wie du immer sagst, isch habe sie einfach flachgelegt und das wars!“
Bernard hob die Augenbrauen. „War sie wenigstens hübsch? So wie die Kleine in Averna?“
„Ja! Und noch viel `übscher!“, zischte Amanoue zu ihm hin.
„Na dann, c`est la vie, mon ami“, meinte er und stieß mit ihm an.
„Du hattest schon mal was, mit `ner Frau?“, piepste Benny entsetzt.
„Stell dir vor! Und, nischd nur mit diese! In Averna waren es sogar swei!“, antwortete Amanoue angekratzt und unwillkürlich lachten einige auf.
„Die fette Lola!“, prusteten Finn und Matto los und auch Brac musste grinsen.
„Ach haltet doch die Klappe“, zischte Amanoue sie beleidigt an und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Ich fasse es nicht“, murmelte Benny schockiert, „kein Wunder, dass ER dich rausgeschmissen hat! Also ich, würde seine Majestät ja nie…“
„Halt die Klappe, Benny!“, kam es aus den Mündern seiner Kameraden und Benny ruckelte beleidigt mit dem Kopf.
„Na denn, Prost“, meinte Matto und hob seinen Krug. „Willkommen, bei unserem Haufen!“
***
Henry schlug die Decke zurück, küsste sich zärtlich über die linke Pobacke nach oben und Amanoue rekelte sich lächelnd. Er blickte ihn über seine linke Schulter hinweg an und Henry küsste ihn auch darauf. „Isch liebe disch“, flüsterte Amanoue und Henry sah ihn liebevoll an. Doch dann begann sich dessen Gesicht zu verändern, zerfloss wie schmelzendes Wachs und wurde mehr und mehr zu einer entstellten Fratze.
„Ich hasse dich“, kam es aus dem verzerrten Mund und Amanoue wachte schreiend auf.
„Wieder mal ein Albtraum?“, nuschelte es von Finn herüber.
„Ja“, antwortete Amanoue und setzte sich halb auf. „Und es ist immer die gleische…“
„Oh Mann, halt die Klappe“, kam es genervt von weiter vorn. „Jede Nacht das Geschreie, von dir! Wie soll man da schlafen?! Du musst ja nicht frühmorgens aufstehen“, meckerte Benny.
„Isch kann doch auch nischds dafür“, verteidigte Amanoue sich betreten. „Entschuldige, bitte.“
„Hättest halt deinen Schwanz besser unter Kontrolle halten sollen“, brummte Matto.
„Wahnsinn, dass wir beide mal einer Meinung sind“, sagte Benny zynisch. „Ich habe doch glatt, gerade das gleiche gedacht…“
„Ruhe!“, bellte Brac herüber und alle legten sich wieder hin.
Amanoue starrte eine Weile vor sich hin, bis wieder die üblichen Schlafgeräusche der anderen erklangen. Brac schnarchte vor sich hin, Finn seufzte leise im Traum, ein anderer nuschelte irgendetwas unverständliches und irgendwer furzte langgezogen. Stöhnend zog er die Decke über seinen Kopf und versuchte vergeblich wieder einzuschlafen, nur um eine Stunde später doch aufzustehen. Leise zog er sich an, schnappte sich noch den Umhang und schlich sich hinaus, so wie er es in den letzten Nächten oft getan hatte.
Der Schnee glitzerte wie eine blaue, mit Diamanten übersäte Decke und Amanoue atmete tief durch. Die Nachtluft war kalt, aber nicht mehr so eisig wie noch vor zwei Wochen, als er sein Gemach verlassen hatte. Seitdem verlief jeder Tag gleich, Amanoue wanderte die halbe Nacht ruhelos umher, legte sich erst bei Sonnenaufgang wieder hin und schlief dann bis mittags. Danach aß er etwas und suchte sich anschließend irgendeine Arbeit. Als erstes hatte er sich ihren Schlafraum vorgenommen und der erstrahlte seitdem in einem nie dagewesenen Glanz. Auch hatte er es sich zur täglichen Aufgabe genommen fortan die Betten der Jungs zu machen und so war deren Schlafraum mittlerweile zu dem wahrscheinlich ordentlichsten der ganzen Garde geworden. Nach dem Abendessen vertrieb er sich die Zeit im Gemeinschaftsraum, würfelte mit den Jungs oder unterhielt sich mit Marius, der ihn wie versprochen, regelmäßig aufsuchte. Doch der konnte ihm jedes Mal auch nur immer das gleiche berichten, nämlich so gut wie gar nichts. Da noch immer keine öffentlichen Audienzen stattfanden, vergrub sich der König weiterhin in seinen Gemächern oder saß mit seinem Onkel und seinem Bruder im kleinen Saal herum.
Die einzige Abwechslung war hin und wieder Satory, der ihn ebenfalls ab und zu besuchte, doch auch der wusste ihm nichts Neues zu erzählen, da Henry sich auch ihm gegenüber abschottete.
Und so verliefen die nächsten Wochen alle im selben Trott und vergingen zäh wie Leim. Der Februar kam und brachte zum Ende hin endlich milderes Wetter, der Schnee schmolz und das Schloss schien damit wie aus einem Dornröschenschlaf zu erwachen. Der König begann wieder Audienzen zu halten und somit mussten die Gardisten ebenfalls wieder ihren regelmäßigen Dienst in der großen Halle aufnehmen, was zur Folge hatte, dass Amanoue immer häufiger alleine herumsaß.
Am ersten März, seinem neunzehnten Geburtstag, schien die Sonne bereits wieder warm vom strahlend blauen Himmel und da seine Freunde allesamt zur Wache eingeteilt waren, verließ er gleich nach dem Mittagessen den Gemeinschaftsraum.
Eine Weile schlenderte er gelangweilt im hinteren Teil des riesigen Innenhofes umher, bis er schließlich vor dem großen, zweiflügeligen Tor stand. Nachdenklich blickte er auf den dicken, langen Querbalken, der es neuerdings noch zusätzlich verschloss und trat heran. Damals hatte er es nur mit Richards Hilfe geschafft, das schwere Tor zu öffnen und so seufzte er erst einmal. Wie wohl der Garten jetzt nach dem harten Winter aussah? Hatten die jungen Bäume überlebt? Stand der Pavillon überhaupt noch oder war er den schweren Herbststürmen zum Opfer gefallen? Was war aus dem Springbrunnen geworden? Oder hatte Henry vielleicht sogar tatsächlich alles wieder abreißen lassen und damit seine Drohung wahrgemacht…
Allein würde er den Querbalken niemals heben können, da war er sich hundertprozentig sicher und doch versuchte er es. Zaghaft legte er seine zierlichen Hände auf die Unterseite und drückte nach oben. Nichts bewegte sich, der Balken rührte sich keinen Millimeter breit und so versuchte er es noch einmal. „Na komm schon“, murmelte er vor sich hin, stemmte sich mit aller Kraft dagegen, das Holz knirschte verdächtig und, gab plötzlich nach. Wie von unsichtbaren Kräften unterstützt, hob Amanoue den zentnerschweren Balken hoch und warf ihn auf die Seite. „Puh!“, machte er durchschnaufend, schob den Riegel zurück und zog eine Flügelseite des Tores auf. Gerade soweit, dass er durch einen Spalt hindurchschlüpfen konnte und sah sich staunend um. Die ersten zarten Triebe zeigten sich an den jungen Obst- und Zierbäumen, grüne Sprosse der Lilien durchbrachen gerade das feuchte Erdreich, die Rosenbüsche zeigten die ersten rötlichen Blattknospen, hunderte blühende Schneeglöckchen säumten den Kiesweg rechts und links davon, einige vorwitzige Gänseblümchen hatten ihre kleinen Blütenköpfe dazwischengeschoben und hier und da blühten sogar schon einige Anemonen.
Amanoue wurden unwillkürlich die Augen feucht bei diesem unverhofften Anblick und die Erinnerung an die Erschaffung des Gartens ließ ihn leise schluchzen. Wie sehr hatten er und die Jungs geschuftet und sich abgerackert, monatelang unermüdlich daran gearbeitet und dann hatte alles ein so jähes Ende genommen…
Er schlenderte den Weg entlang, entdeckte voller Freude die von ihm gesetzten Erdbeerpflänzchen, die sich ebenfalls anschickten den Frühling zu begrüßen und sogar schon die ersten kleinen Blütenknospen in ihren Herzen bargen. Einige Bienen flogen bereits in der Hoffnung auf Nektar herum, ein erster Zitronenfalter gaukelte noch etwas steif wirkend über die ehemalige Wiese, die bald ein Blütenmeer werden würde und Amanoues Blick folgte ihm lächelnd, bis er ihn aus den Augen verlor. Langsam spazierte er weiter, genoss jeden einzelnen Atemzug der lauen, zart duftenden Frühlingsluft und hinter der sanften Biegung tauchte das Kernstück des Gartens auf. Sein Meisterstück! Genau in der kreisrunden Mitte des von ihm erschaffenen kleinen Paradieses, thronte der steinerne, dreistufige Springbrunnen, mit den antiken Götterstatuen drumherum. Er lief zwar nicht, aber dennoch war sein Anblick geradezu imponierend in seiner majestätischen Schönheit und Amanoue brach endgültig in Tränen aus.
Weinend ließ er sich zu Boden sinken und verbarg sein schönes Gesicht hinter seinen Händen. Wie stolz war er gewesen, wie sehr hatte er sich gefreut, darauf gefreut, dies alles Henry zeigen zu können und nun war alles aus und vorbei.
Was war er nur für ein Narr gewesen, eben, ein dummes Ding, wie Sebastian ihn so oftmals bezeichnet hatte und die Erinnerung an den alten Mann brachte ihn noch mehr zum Weinen. Völlig aufgelöst saß er heulend da, bis endlich keine Tränen mehr kamen und so raffte er sich schließlich auf.
Was würde nun aus ihm werden? Brac hatte ihm ja schon bei seinem Umzug eindeutig zu verstehen gegeben, dass er hier nicht länger als nötig erwünscht wäre, höchstens bis zum Frühling und der stand unmittelbar vor der Tür. Aber wo sollte er hin?
Er war völlig mittellos. Irgendwie, musste er zu Geld kommen, denn alles, was er besaß, trug er am Körper, einen Körper, den er verkaufen konnte…
***
„Eure Majestät, es ist mir eine Ehre“, bedankte sich der Graf von Lothringen mit einer tiefen Verbeugung, als er die Einladung zum abendlichen Bankett aus dem Munde des Königs erhalten hatte.
„Und mir eine außerordentliche Freude“, entgegnete Henry mit einem aufgesetzten Lächeln. „Wir sehen uns also später, Ihr und Euer Sohn werdet Euch sicher noch etwas frischmachen wollen.“
Der hohe Adlige deutete erneut eine Verbeugung an und gab seinem Spross einen leichten Stoß. Der junge Mann wirkte recht unbeeindruckt und blickte gelangweilt, wenn nicht sogar unverschämt hochnäsig, umher. Nach der unmissverständlichen Aufforderung seines Vaters sah er sich jedoch genötigt, seine Aufmerksamkeit wieder dem König zu widmen und so verbeugte auch er sich mit einem frechen Lächeln. Er war hübsch, ohne Frage, auffallend hellhäutig und seine vorwitzige Stupsnase zierten unzählige rötliche Sommersprossen. Sein Haar war blond, ebenfalls mit einem kupfer-rötlichen Schimmer und einige Fransen hingen ihm keck in die Stirn, was ihm zusätzlich noch ein unverschämt freches Aussehen verlieh. Die ungewöhnlich bernsteinfarbenen Augen hielten den König einen Moment länger als nötig fest und zwangsläufig stahl sich auch auf dessen Lippen ein kleines Lächeln. Oh ja, dieser Frechdachs war ganz nach seinem Geschmack, wäre es zumindest früher gewesen, als er noch ein Beuteschema gehabt hatte und sein Herz noch funktionierte. Aber jetzt war es wie taub, alles in ihm war taub geworden und, verbittert.
Der Graf hatte sich längst mit seinem Sohn zurückgezogen, als Wilhelm ihn am Arm packte und derart fest zudrückte, dass Henry fast aufschrie. „Sie sind weg! Du kannst aufhören, Löcher in die Luft zu starren!“, raunte er verständnislos und Henry sah ihn an.
„Willst du diese Rotzgöre tatsächlich als deinen nächsten Knappen in deine Dienste nehmen?“, fragte Richard beinahe erzürnt.
Henry atmete gelassen durch und zuckte die Schultern, als würde ihn das alles nichts angehen. „Was bleibt ihm anderes übrig? Der Graf von Lothringen ist ein enger Verbündeter und er würde ihm mit einer Ablehnung wohl unnötig vor den Kopf stoßen“, erwiderte Wilhelm ebenfalls recht barsch und beide sahen zu Henry hin, der noch immer irgendwie recht unbeteiligt wirkte. „Also, was wirst du tun?“
„Keine Ahnung, ist mir auch gleich, entscheidet ihr“, antwortete Henry und stand auf. „Ich muss mich umziehen“, meinte er und schlenderte davon.
„Verdammt!“, zischte Wilhelm und schnaufte wütend durch. „So geht das nicht weiter! Er wirkt wie eine Marionette! Nickt nur oder lächelt starr vor sich hin, wie ein Idiot!“
Auch Richard entkam ein Schnauben, allerdings klang es eher verzweifelt. „Wenn wir ihm doch nur helfen könnten! Wenn irgendwer, ihm doch nur helfen könnte“, sagte er kopfschüttelnd und Wilhelm verengte die Augen.
„Dieser kleine rothaarige Bastard eben, hast du gesehen, wie er Henry angesehen hat? Als würde ein Jäger ein Wild anvisieren“, raunte er grübelnd und grinste plötzlich. „Vielleicht ergibt sich da bald ganz etwas wie von selbst“, meinte er verschwörerisch. „Lass mich nur machen, diese kleine Rotznase werde ich mir heute noch genauer ansehen und, einer eingehenden Befragung unterziehen!“, meinte er und sein Onkel seufzte geschafft.
„Sag mir wenigstens, was du vorhast“, flehte er.
„Wenn ich mit meiner Beobachtung recht liege, dann wird uns dieser Kleine vielleicht helfen können und damit Henry bald auf andere Gedanken bringen“, antwortete sein Neffe verheißungsvoll und schritt davon.
Richard sah ihm mit einer schrecklichen Vorahnung hinterher und konnte nur noch den Kopf in beide Hände stützen.
***
Das Bankett, dem auch Sybilla notgedrungen beiwohnte, entpuppte sich als außerordentlicher Erfolg. Jedenfalls was Wilhelms Bemühungen anbelangte. Gleich nach dem Abendessen nahm er sich zuerst den Jungen vor und danach führte er ein ausführliches, selbstverständlich vertrauliches, Gespräch mit dessen Vater. Der Graf schien Anfangs nicht gerade erbaut von Wilhelms Vorschlag, stimmte dann aber doch mit einem bedauerlichen Nicken zu, als Wilhelm ihn mit eindeutig zweideutigen Bemerkungen auf die Vorlieben seines Sohnes ansprach. Ganz wie nebenbei erwähnte er noch eine erst kürzliche Hinrichtung eines wegen Sodomie angeklagten Bürgers und der Graf senkte augenblicklich den Blick vor ihm. Der Mann wäre zuvor noch vor aller Augen auf einen Pfahl aufgespießt worden und hätte geschrien wie ein Schwein auf der Schlachtbank bevor er auf dem Scheiterhaufen landete, erzählte er dem Grafen anschaulich weiter und der schien endlich die versteckte Drohung darin zu erkennen. Wilhelm versprach ihm zu schweigen, aber natürlich nicht ohne Gegenleistung und so kamen sie überein, dass der missratene Spross der angesehenen Adelsfamilie als des Königs neuer Knappe bleiben durfte. Wie üblich sollte er zuerst ein Dienstjahr absolvieren, um Gehorsam und Demut zu erlernen und der Graf wünschte Henry daraufhin seufzend viel Glück und Geduld, wenn auch in dessen Abwesenheit. Wilhelm lachte nur und meinte, dass gerade dies eine besondere Herausforderung für seinen Bruder darstellen würde und der schon mit so manch andere, aufmüpfige Adelssprösslinge fertig geworden wäre. Der Graf solle nur dafür sorgen, dass sein Söhnchen ihren traurigen König endlich wieder auf andere Gedanken bringen würde, wie auch immer. Die beiden schlugen wie nach einem Viehhandel ein und so erhielt der König einen neuen Pagen. Und was für einen!
Eine Woche später reiste der Graf ohne seinen Sohn Laurin wieder ab und der zog zu Kai in die Kammer der königlichen Diener. Nach der ersten Einweisung setzte der Junge sich auf sein ihm zugewiesenes Bett und überprüfte mit dem Gesäß auf und ab hüpfend die Beschaffenheit der Schlafunterlage. „Darauf soll ich schlafen?“, fragte er höhnisch und stand wieder auf. „Ist mir zu hart! Das geht gar nicht, hol mir gefälligst eine weichere Matratze“, sagte er in einem unverschämt arroganten Tonfall und Kai sah ihn an wie ein Kalb wenn`s donnert.
„Ich glaube, du hast es noch nicht ganz kapiert, hm? Du bist jetzt nichts anderes mehr als ich! Ein einfacher Diener seiner Majestät und noch weniger sogar, da ich über dir stehe!“, antwortete er ebenso spöttisch. „Also wirst du tun, was ich dir sage und zwar ohne Widerspruch, verstanden?!“
Der Grafensohn drehte sich mit einem gelangweilten Schnauben um und verschränkte die Arme vor der Brust. „Du denkst doch nicht im Ernst, dass ich den Nachttopf seiner Majestät leere“, raunte er beinahe fassungslos.
„Genau das wirst du als erstes machen! Danach säuberst du die Schüssel gründlich und bringst sie zurück ins königliche Schlafgemach“, erwiderte Kai genüsslich. „Und jetzt komm, ich zeige dir den Weg!“
Der junge Mann stieß genervt die Atemluft aus und folgte ihm die Augen verdrehend. „So habe ich mir das nicht vorgestellt“, murmelte er brummig und schlurfte ihm hinterher.
„Wirst dich schon daran gewöhnen!“, meinte Kai nur und führte ihn hinüber in Henrys Gemächer.
„Wie sieht`s hier denn aus?“, entkam es Laurin erstaunt. „So viel Geschmack hätte ich dem alten Griesgram gar nicht zugetraut! Ist der eigentlich immer so schlecht gelaunt?“, fragte er, sich wie selbstverständlich auf eine der römischen Liegen setzend und streckte sich der Länge nach darauf aus.
„Was machst du da?! Steh sofort wieder auf!“, entkam es Kai empört, doch Laurin dachte gar nicht daran. Er verschränkte gelangweilt die Hände hinter dem Kopf und blickte trotzig in die andere Richtung.
„Ich glaube, hier könnte ich es eine Weile aushalten“, sagte er wie zu sich selbst.
„Mach sofort, dass du da runterkommst! Bevor ich dir in deinen aristokratischen Hintern trete!“, herrschte Kai ihn jetzt doch langsam wütend werdend an und der Junge schenkte ihm einen genervten Blick.
„Hör zu, ich werde hier keinen Finger krumm machen, jedenfalls nicht mehr als unbedingt nötig und deinen blöden Nachttopf kannst du dir sonst wohin stecken! Ich, werde den Dreck ganz sicher nicht wegmachen, auch nicht, wenn es sich um den Dreck des Königs handelt“, erwiderte er schnippisch und Kai konnte nur noch den Kopf schütteln über so viel Frechheit.
„Das werden wir noch sehen“, murmelte er und marschierte ins Schlafgemach.
Laurin rührte tatsächlich keinen Finger und blieb eiskalt liegen, bis sich sein knurrender Magen meldete. „Ich habe Hunger“, meinte er, stand auf und stolzierte hinaus.
Wenig später betrat Henry seine Gemächer und setzte sich geschafft. „Eure Majestät“, begrüßte ihn Kai mit einer tiefen Verbeugung und zog ihm ohne besondere Aufforderung die Stiefel aus.
„Wo ist denn der neue?“, fragte der König wie beiläufig, denn es interessierte ihn nicht wirklich.
Kai seufzte erst einmal. „Mit Verlaub, Eure Majestät, aber ich denke nicht, dass er die richtige Wahl für einen neuen Diener ist! Der ist noch um einiges schlimmer als es Benedicto zu Anfang war“, meinte er und Henry hob tatsächlich die Augenbrauen.
„Und weshalb?“, fragte er.
Kai verzog mürrisch das Gesicht. „Dieser Wicht ist nicht nur stinkfaul, sondern auch noch rotzfrech!“, platzte es aus ihm heraus.
Henry wirkte jetzt doch überrascht. „Du wirst schon mit ihm fertig werden“, meinte er dann jedoch wieder eher uninteressiert.
„Ja, wenn ich Sebastian wäre“, brummte Kai ärgerlich. „Wann kommt er eigentlich wieder?“
Der König zuckte die Schultern. „Was weiß ich“, war alles was er antwortete, als die Türe aufflog und besagter Nichtsnutz hereinplatzte.
„Eure Majestät sind schon da?“, überfiel er den geradezu übermäßig erfreut und stürmte auf ihn zu. Ohne irgendwelche höfische Etikette zu wahren, ließ er sich zu Henrys Füßen nieder und küsste ihm einfach die rechte Hand. „Ich kann gar nicht sagen, was es mir bedeutet in Eurer Nähe sein zu dürfen! Und ich war vollkommen hingerissen von diesem antiken Interieur! Ich liebe die altrömische Kultur und Geschichte! Waren die Römer nicht einfach wunderbar? Was sie alles erschufen und uns brachten! Wart Ihr schon selbst dort? In Rom? Oh, habt Ihr das Kolosseum gesehen? Ich war regelrecht ergriffen von diesem Anblick!“, rief er begeistert aus und Henry nahm verdutzt den Kopf zurück.
„Du warst in Rom?“, fragte er ungläubig und war für einen Moment einfach nur sprachlos. Damit hätte er wirklich nicht gerechnet und so zwinkerte er auch noch verstört, als Laurin eifrig zu ihm hochnickte.
„Oh ja! Ich durfte vor drei Jahren meine Eltern auf eine Pilgerfahrt dorthin begleiten und war restlos überwältigt von dieser wundervollen Stadt! All diese großartigen Bauwerke zu sehen, mit meinen eigenen Augen und auch noch betreten zu dürfen! Ich fühlte mich wie Cäsar selbst, in diesem herrlichen Augenblick, als ich auf die Stadt herabblickte! Ich kann Euch gar nicht sagen, wie ergriffen ich war, als ich sie betrat und kann es nur schwerlich in Worte fassen! Ich habe die Engelsburg besucht und Kaiser Hadrians Grab gesehen!“, brach es überwältigt aus dem Jungen heraus.
„Nun, also, ich muss sagen, ich bin wirklich überrascht“, brabbelte Henry blinzelnd. „Nicht einmal ich, war schon dort“, meinte er verwirrt.
„Eure Majestät müssen unbedingt die Heilige Stadt besuchen! Oh, wie wäre es wundervoll, wenn wir es zusammen, tun würden! Es wäre mein größter Traum!“, erwiderte Laurin voller Inbrunst und senkte kurz den Blick. „Ich habe ein Geschenk für Eure Majestät mitgebracht, wenn Ihr erlaubt?“, fragte er mit einem unverschämt koketten Augenaufschlag und sah ihn durch seine langen rotbraunen Wimpern an. Ohne eine Antwort abzuwarten, stand er auf, flitzte hinaus und kam wenige Augenblicke mit einem Päckchen in seinen Händen zurück. Wieder ließ er sich zu Henrys Füßen nieder und hielt ihm das Präsent schüchtern lächelnd hin.
Der König nahm es beinahe vorsichtig und wickelte das doch recht schwere Geschenk behutsam aus. Es war eine kleine Götter Skulptur, gerade mal so groß, dass sie der Länge nach in Henrys ausgestreckte Hände passte. Ein wunderschön filigran gearbeiteter Jüngling, aus weißem Marmor und, nackt. „Ähm, ich bin in der Tat, sprachlos“, kam es wieder irritiert aus seinem Mund.
„Gefällt sie Euch?“, fragte der kleine Frechdachs zu seinen Füßen erwartungsvoll und Henry nickte.
„Doch, schon, sie ist sehr hübsch“, raunte der, weil er nun wirklich nicht mehr wusste, wie ihm geschah.
„Ich habe sie mir heimlich auf einem Markt in Rom gekauft und bis jetzt versteckt gehalten, aber als ich diesen wundervollen Raum sah, wusste ich wohin sie von nun an, gehört“, grinste er spitzbübisch. „Ihr könntet sie dorthin stellen!“, zeigte Laurin auf die freie Stelle im Regal und Henry kniff die Augen zusammen, da dort einst die kostbaren römischen Gläser ihren Platz besessen hatten.
„Ähm, ja, warum nicht“, meinte er trotzdem.
Laurin sprang auf, nahm ihm die Statue weg und ging wiegenden Schrittes zu besagtem Regal. „Wie dafür gemacht“, sagte er und stellte sie hämisch grinsend auf, da ihm dabei Kais fassungsloser Blick begegnet war. „Oh ich liebe dieses Gemach!“, rief er, sich wieder zu Henry umdrehend. „Sind diese Pergamentrollen etwa echt? Darf ich?“ Erneut wartete er keine Antwort ab und schnappte sich eine der antiken Aufzeichnungen.
Das war dann doch zu viel. „Vorsicht!“, rief Henry, rasch aufstehend und war mit wenigen Schritten bei ihm. „Sie sind sehr alt und dementsprechend wertvoll! Es sind unter anderem Briefe von römischen Feldherren und einer ist sogar von Kaiser Konstantin selbst verfasst!“, sagte er und nahm ihm die Rolle wieder ab.
„Darf ich sie vielleicht irgendwann einmal sehen? Mit Eurer Majestät zusammen?“, säuselte Laurin zu ihm hoch und Henrys linke Augenbraue wanderte nach oben.
„Du bist mir ja so einer“, brummte er und gab ihm mit der Schriftrolle einen leichten Hieb auf die Nase, bevor er sie wieder zurücklegte.
Laurins Lächeln war mittlerweile zu einer offenen Einladung geworden und sein herausfordernder Blick besagte mehr als tausend Worte. Er hatte den König um den Finger gewickelt, da war er sich inzwischen mehr als sicher und er würde hier ganz gewiss nicht einen einzigen Nachttopf leeren…
***
„Isch hätte eine Bitte“, sagte Amanoue zu Marius, der ihn gerade noch einmal untersucht hatte. Mit den Fingerspitzen strich der gerade noch einmal über die kaum noch sichtbare Narbe und sah ihn an.
„Wenn ich dich nicht selbst aufgeschnitten hätte, würde ich es nicht glauben“, meinte er, ohne auf Amanoues Anfrage einzugehen. „Vor drei Monaten war da noch eine riesige Wunde und jetzt ist kaum noch was davon zu sehen, bis auf diesen dünnen Strich!“
„So ist es doch immer, bei mir“, nuschelte Amanoue etwas unwohl und zog sich das Hemd wieder über. „Außerdem habe ich regelmäßig Gregorius` Wundersalbe aufgetragen, die hat schon immer gut gegen Narbenbildung geholfen“, sagte er achselzuckend.
Marius legte den Kopf schief. „Aber gewiss nicht, so! Dein Bauch müsste eigentlich für den Rest deines Lebens in zwei Hälften gezeichnet sein!“
„Ist doch egal, jedsd“, winkte Amanoue ab. „Außerdem ist es ja auch schon siemlich lange her, eben, drei Monate, wie du sagtest! Das war genug Seit, um heilen su können und eigentlich hat es diese Mal eh viel su lange gedauert“, brummte er und Marius nickte nachdenklich.
„Ja, das ist mir auch aufgefallen, sonst war bei dir alles immer viel schneller verheilt, seltsam“, grübelte er nach und sah ihn stirnrunzelnd an. „Wie fühlst du dich sonst?“
„Alles wieder gut, keine Schmersen mehr, keine Schwindel und auch sonst ist alles wieder beim Alten, deshalb wollte isch disch ja auch um etwas bitten“, hakte er leicht genervt nach.
„Ach ja! Und um was?“, fragte Marius neugierig.
„Naja, isch werde ja wohl bald von hier fortmüssen, aber isch habe keine Geld und da dachte isch mir, dass isch mir welsches verdienen könnte“, erwiderte Amanoue etwas verhalten.
„Ach! Und wie?“, wollte Marius skeptisch wissen und Amanoue setzte sich zurecht.
„Pass auf! Die meisten Soldaten hier können weder lesen noch schreiben und müssen immer su eine Schreiberling in die Stadt gehen, wenn sie jemandem eine Brief schicken möschten! Also dachte isch mir, dass das doch genauso gut isch für sie machen könnte, gegen eine kleine Obolus, selbstverständlisch. Nischd so teuer, wie diese Halsabschneider in die Stadt und sie bräuschten dann auch nischd eine freie Tag dafür opfern! Aber dafür bräuschte isch eine Grundausstattung, verstehst du?“, fragte er verlegen. „Also wollte isch disch bitten, ob du mir eine Feder, Tinte und einige Pergamentstücke besorgen könntest, isch würde es dir selbstverständlisch später surücksahlen.“
Marius hob erstaunt die Augenbrauen. „Du willst dir hier ein Schreibbüro einrichten? Das ist, echt, eine gute Idee! Ja, sicher, besorge ich dir alles was du brauchst, dafür!“
„Oh danke!“, rief Amanoue erleichtert und fiel ihm um den Hals. „Gibt es sonst eigendlisch was Neues?“, fragte er dann allerdings wieder recht geknickt und setzte sich zurück. „Wie geht es, IHM?“
Marius` Lächeln verschwand augenblicklich. „Wie immer! Sitzt da wie ein Ölgötze und vertreibt mit seiner miesen Laune jede Fröhlichkeit“, meinte er mürrisch. „Ihre Majestät packt schon ihre Sachen zusammen“, sagte er verständnislos. „Sie hat unzählige Bittbriefe und Gnadengesuche an ihn geschickt und er hat alle abgelehnt! Weißt du, auch wenn sie ihn betrogen hat, tut sie mir doch leid! Sie ist doch noch so jung und schön und sie war immer so nett zu jedermann und nun muss sie sich in ein Kloster zurückziehen! Der alte Dreckskerl hat sie doch auch jahrelang betrogen und hintergangen, aber das steht in keinster Weise zur Debatte! Ist das nicht ungerecht? Auch dir gegenüber! Ich verstehe es sowieso nicht, dass du ihm immer noch nachtrauerst! Immerhin hast du ihm mehrmals das Leben gerettet und er schert sich einen Dreck darum, was aus dir nun wird“, schimpfte er wütend los.
Amanoue ließ seufzend den Kopf hängen. „Immerhin `at er mir meine Leben gelassen, also steht meine Leben, für seine und damit sind wir dann wohl quitt“, antwortete er traurig. „Und, isch kann es ihm wirklisch nischd verdenken, dass er so reagiert hat. Er muss misch doch dafür hassen, weil isch ihm das angetan `abe und ihm seine Hers gebrochen habe. Dabei habe isch ihn doch geliebt und isch liebe ihn immer noch, was war isch doch für eine Idiot!“
„Oh ja!“, meinte Marius zustimmend. „Du bist in der Tat ein Idiot, wenn du immer noch so für ihn empfindest! Ich wollte es dir eigentlich ersparen, aber jetzt sage ich es dir trotzdem! Seine Majestät hat anscheinend bereits einen Ersatz für dich gefunden“, presste er geradezu angewidert hervor. „Ja, da staunst du, hm? Ein neuer Knappe“, sagte er voller Spott. „Seit gut zwei Wochen ist der erst hier und hat seine Majestät“, wieder betonte er es höhnisch, „bereits um den Finger gewickelt und fest im Griff! Du kannst dir gar nicht vorstellen, was dieser Rotzlöffel sich alles rausnimmt! Er sitzt sogar bei den Audienzen neben Henry! Auf dem Boden! Auf einem dicken Sitzkissen, wie ein Schoßhund und beide flüstern ständig miteinander und er macht sich über die Bittsteller lustig! Und was macht seine Majestät? Guckt darüber hinweg und lächelt! Also, du brauchst dir wegen ihm echt keinen Kopf zu machen, dein Henry hat längst wieder einen, der ihn über dich hinwegtröstet!“, warf er ihm hart entgegen.
Amanoue blinzelte einige Male verstört, doch dann nickte er leicht. „Ist doch schön, wenn er wieder jemanden gefunden hat und ich wünsche es ihm von gansem Hersen. Hoffentlisch kann diese Junge ihn auch wirklisch wieder glücklisch machen“, erwiderte er relativ gelassen, aber der Schmerz in ihm war unübersehbar.
Marius schnaubte verständnislos. „Du bist einfach zu gut, für diese Welt“, brummte er. „Also ich könnte ihm das nicht so einfach vergeben und erst recht nicht verstehen und das habe ich auch Gregorius gegenüber nicht vor! Wenn er dieses Mal wieder sein Versprechen bricht, dann hau ich eben alleine ab und er kann hier allein versauern oder weiterhin Henry anhimmeln“, knurrte er eifersüchtig.
„Hm?“, machte Amanoue verwirrt und Marius verdrehte die Augen.
„Irgendetwas stimmt da nicht, zwischen den beiden! Ich bin doch nicht blöd! Zuerst hat er kein gutes Haar an ihm gelassen, wollte ihn sogar mehrmals verlassen und jetzt nimmt er Henry ständig in Schutz! Seine Majestät hier und da, er bräuchte ihn eben, der arme Henry und hätte doch niemanden, mit dem er reden könnte, warum ich das nicht verstehen würde und so weiter! Blablabla! Ich kann es nicht mehr hören!“, regte er sich wütend auf.
„Er braucht doch auch wirklisch jemanden, dem er sisch anvertrauen kann und Gregorius ist eine gute Suhörer! Sischer, sind sie nur gute Freunde…“
„Freunde?! Gregorius hat ihn regelrecht gehasst, nachdem was dieser Mistkerl dir alles angetan hatte und jetzt plötzlich sagt er, man müsse auch ihm Verständnis entgegenbringen! Nee, wirklich nicht!“, schüttelte Marius energisch den Kopf. „Und eines sage ich dir, solltest du wirklich weggehen müssen, dann warte ich keinen Augenblick länger und bin ebenfalls fort! Ob mit oder ohne Gregor!“, sagte er entschieden.
„Liebst du ihn denn nischd mehr?“
„Natürlich liebe ich ihn noch! Er ist die Liebe meines Lebens! Aber ich werde mir deshalb das auch nicht länger antun! Wenn er sich für seine Majestät entscheiden sollte, dann werde ich ohne ihn gehen!“, antwortete Marius mit verschränkten Armen.
„Das tut mir escht leid“, murmelte Amanoue betroffen und Marius schnaubte wie ein Stier.
„Mir auch!“, zischte er und stand auf. „Ich geh jetzt wieder rüber, wir haben einige stark erkältete Bedienstete drüben, um die ich mich kümmern muss! Also bis morgen, ja? Ich bringe dir dann das Schreibzeugs mit“, meinte er versöhnlicher und Amanoue nickte ihm dankbar zu.
Und somit eröffnete Amanoue zwei Tage später sein eigenes kleines Schreibbüro, das er sich kurzerhand in einer Ecke des Schlafraumes einrichtete. In der Tat konnten die meisten der gewöhnlichen Gardisten weder lesen noch schreiben und wenn doch, so konnten sie gerademal ihre Namen zu Papier bringen und damit hatte Amanoue erst einmal alle Hände voll zu tun. Jetzt, da auch die Botenreiter wieder ausgeschickt werden konnten, wollte beinahe jeder eine Nachricht nach Hause senden und Amanoue erschrak beinahe über die lange Schlange, die sich vor seinem improvisierten Schreibtisch gebildet hatte.
„Ach du liebe Seit!“, entfuhr es ihm und er blickte an den wartenden entlang.
„Da hast du dir ja was Schönes aufgehalst“, meinte Finn grinsend und Amanoue entkam ein kleiner Seufzer.
Selbstverständlich kamen die Jungs zuerst dran und so begann Finn ihm den ersten Brief zu diktieren. Der nächste, Matto, beugte sich tief zu ihm hin und flüsterte geradezu die Worte, die Amanoue für ihn aufschreiben sollte und bald kniff der die Augen konzentriert zusammen. „Was?“, fragte er, weil er den letzten Satz nicht verstanden hatte. „Kannst du bitte lauter spreschen?“
„Nein“, raunte Matto leise zurück, „das geht denen schließlich nichts an!“
„Ach so! Ja, ähm…“, stotterte Amanoue, als Brac mit lauten Schritten herantrat.
„Was zum Geier, is`n hier los? Habt ihr sie noch alle? Das ist unser Schlafraum und ihr trampelt alle mit euren dreckigen Stiefeln hier rein, wie `ne Horde Rindviecher! Wer soll`n das wieder saubermachen?! Raus hier, aber schnell“, donnerte er die dicht gedrängten Soldaten an. „So geht das nicht!“, fuhr er den verdutzten Amanoue an, „hier is ja mehr los, als drüben in der Halle!“
Amanoue zog den Kopf ein und hob unschuldig die Schultern. „Tschuldige, mit so viel Andrang `abe isch escht nischd gereschnet und isch werde nachher alles wieder pudsen.“
„Da brauchst du ja noch die halbe Nacht! Nee, mein Freund, bei aller Liebe und Verständnis, du musst das anderes koordinieren!“, lehnte Brac dennoch rigoros ab.
„Ja, ein bisschen mehr Privatsphäre wäre echt nicht schlecht, muss ja nicht jeder zuhören, was man dir sagt“, mischte sich Matto wieder dazwischen.
Brac sah ihn an, als hätte der sie nicht mehr alle und zeigte zum Ausgang. „Raus hier! Wer nicht hier reingehört!“, brüllte er mit seiner Bärenstimme und die Soldaten zogen murrend Leine. „Kleiner, das geht echt nicht, tut mir leid! Also entweder du lässt die nur einzeln hier rein und ohne Stiefel, was wir an Gestank aber dann bald nicht mehr ertragen würden, oder du suchst dir ein anderes Büro! Benny hat sich bei mir beschwert, weil er sich `ne Stunde aufs Ohr hauen wollte, was ich dieses Mal auch wirklich verstehen kann, da er Nachtwache hat und weißt du, was er mir sagte? Dass die ihn nicht vorbeigelassen haben und er sich gefälligst hintenanstellen sollte, wenn er da rein wolle! In seinen eigenen Schlafraum! Manou, das geht so nicht, in diesem Fall muss ich auf seiner Seite stehen“, sagte er bestimmt.
Amanoue atmete frustriert durch und nickte. „Du hast reschd, das habe isch nischd bedacht und bitte Benny“, sagte er kleinlaut zu dem, „es tut mir leid. Natürlisch kannst du disch hinlegen, wann immer du es möschtest. Isch werde sofort meine Sachen susammenpacken.“
„Ach ja? Und der ganze Dreck? Und schau dir mal die Betten an! Die haben sich einfach draufgesetzt und alles beiseitegeschoben!“, meckerte der ihn mit vor der Brust verschränkten Armen an.
Amanoue schluckte betroffen und biss sich auf die Unterlippe. „Oje!“
„Ja, oje! Oh Mann, du bist und bleibst `ne Nervensäge“, beschimpfte Benny ihn noch wütend und marschierte zickig wieder vor zu seinem völlig zerwühlten Bett. „So `ne Scheiße, Mann“, zeterte er, während er es einigermaßen wieder zurecht machte und Amanoue bekam einen hochroten Kopf.
„Isch hole schonmal die Pudsseug“, nuschelte er verlegen und schmuggelte sich an Brac vorbei.
Tags darauf eröffnete er sein Büro in der Rüstkammer und vergab zu allererst feste Termine an die Soldaten.
***
Die Audienz war in vollem Gange und wie gewöhnlich auch mal wieder recht lautstark. Zwei Händler stritten sich gerade, während sie sich gegenseitig des Betruges bezichtigten. Henry war bereits völlig genervt von ihrem Gezeter, als sich Laurin plötzlich mitten durch die aufgeregte Menge schob. „Eure Majestät!“, rief er mit seiner noch etwas kindlichen Stimme und tänzelte aufgeregt heran. Ohne auf die beiden Streithähne zu achten, hüpfte er die Stufen hinauf und hielt dem König seine zu einem Ball übereinander gelegten Hände hin. „Seht doch nur!“
Henry hob überrascht die Augenbrauen und starrte darauf. Laurin nahm die obere Hand weg und präsentierte einen Zitronenfalter auf seiner unteren Handfläche. Unwillkürlich war es still geworden und aller Augen richteten sich auf den Jungen. Der hübsche Schmetterling hob und senkte die gelben Flügel, was ein leises, schabendes Geräusch verursachte und auf den Lippen des Königs breitete sich ein zaghaftes Lächeln aus. „Ist der nicht hübsch?“, fragte Laurin und sah ihn so zauberhaft unbedarft an, dass sich Henrys erkaltetes Herz augenblicklich ein klein wenig wärmer anfühlte.
„Ja, sehr“, sagte er und Laurin strahlte heller als die Sonne.
„Und er bringt Glück!“, rief Laurin überzeugt aus. Der Schmetterling hob flatternd ab und flog über ihre Köpfe davon. „Huch“, machte der Junge fast ein wenig erschrocken und blickte ihm wehmütig nach. „Jetzt ist er fort!“, meinte er achselzuckend und Richard räusperte sich vernehmlich.
„Merkst du nicht, dass du die Audienz störst?“, fragte er vorwurfsvoll und deutete auf die raunenden Leute.
„Oh!“, entkam es Laurin nur und er lächelte den König an. „Tut mir leid!“
„Das macht nichts, die gingen mir eh auf die Nerven“, meinte Henry leise zu ihm hin und der Junge kicherte in seine vorgehaltene Hand. „Du gehst trotzdem besser nach hinten, hm? Stell dich neben Kai“, sagte der König ungewöhnlich milde und Laurin grinste breit.
„Ich weiß was Besseres!“, sagte er mit erhobenem Zeigefinger und marschierte hinüber zu einer der an den Wänden stehenden Sitzbänken. Kurzerhand nahm er sich ein Kissen, natürlich das dickste und größte und trabte damit zurück. Wieder genau vor Henrys Thron, schräg neben dessen Füßen, legte er es auf den Boden und setzte sich, den König einschmeichelnd anlächelnd, darauf.
„Äh, aber, das geht doch nicht“, stammelte Richard fassungslos und sah auffordernd zu Henry, der allerdings nur lässig die Achseln zuckte.
„Warum denn nicht? An Eurer Seite sitzt immerzu diese hechelnde Töle, da kann ich mir doch auch ein kleines Schoßhündchen zulegen“, meinte er fast herausfordernd zärtlich und strich dem Jungen sogar noch lächelnd über die Wange. „Bleib nur sitzen, aber du musst still sein, ja?“, sagte er, ganz so als würde er tatsächlich zu einem Hündchen sprechen.
Richard durchbohrte zuerst ihn und dann Wilhelm mit einem geradezu tödlichen Blick. „Na Bravo, da hast du ja was Feines angerichtet“, zischte er hinter Henrys Rücken letzterem zu. „Sieh bloß zu, dass du den wieder loskriegst!“
Wilhelm hob entschuldigend die Hände. „So, habe ich es mir sicher nicht gedacht, aber zumindest hat sich Henrys Laune erheblich gebessert, das ist doch schonmal was, oder?“
„Was ist mit mir?“, fragte der prompt und wandte sich um.
„Nichts, Bruder, mach nur weiter“, wiegelte Wilhelm ab und so widmete sich der König wieder den beiden Nervensägen vor ihm, die ihren Streit wieder lautstark aufgenommen hatten.
Nach dem Mittagsmahl, dem Laurin auf Richards Geheiß hin nicht hatte beiwohnen dürfen, zog sich Henry wie immer für eine Stunde in seine Gemächer zurück. Laurin, der beharrlich vor der Tür zum kleinen Saal gewartet hatte, folgte ihm wie selbstverständlich nach, oder besser gesagt ging er eiskalt neben dem König her und das letzte Stückchen lief er sogar noch voraus. Er öffnete die Türe und marschierte ohne auf Henry zuwarten, hinein. Kai war so verblüfft darüber, dass er für einen Moment wie erstarrt stehenblieb und auch die beiden Wachen schienen fassungslos über die Dreistigkeit des Jungen zu sein. Der König selbst hatte nur die Augenbrauen gehoben und schlenderte seinem neuen Pagen lächelnd hinterher. „Normalerweise betrete ICH als erster mein Gemach“, sagte er mit ermahnender Miene und Laurin wirkte ehrlich erstaunt.
„So? Oh, das wusste ich nicht!“, antwortete er und legte keck den Kopf schief.
„Und eigentlich, wäre jetzt zumindest eine Entschuldigung fällig!“, platzte es aus Kai heraus. „Was erlaubst du dir noch alles, hm?“
Laurin zeigte sich keineswegs betroffen über die Rüge und zuckte hochnäsig die Achseln. „Ja, in einem muss ich dir rechtgeben, eine Entschuldigung wäre allerdings fällig! Also, ich warte“, sagte er zum König hin, verschränkte die Arme und tippte ungeduldig mit einem Fuß auf und ab.
Henry begann einfach zu lachen und er lachte, wie lange nicht mehr. Auch über Kais verdutztes Gesicht, aber am meisten über diesen rotzfrechen Lümmel, der mit trotziger Miene vor ihm stand. „Lacht Ihr mich etwa aus?! Ich finde schon, dass ich eine Entschuldigung verdient habe, immerhin habt Ihr es zugelassen, dass Euer Onkel mich nicht mitspeisen ließ! Was denkt Ihr eigentlich, von was ich hier leben soll? Etwa von dem Fraß, den man mir in der Küche vorsetzt?!“, erdreistete der sich zu sagen.
„Fraß?! Das ist das normale, tägliche Essen, für die Bediensteten!“, schimpfte Kai wieder los. „Es reicht jetzt wirklich langsam! Mach, dass du rauskommst, du freches Ding!“, rutschte es ihm ganz nach Sebastians alter Manier heraus, wenn dieser früher immer Amanoue auf diese Weise ermahnt hatte und sofort war Henry wieder still.
Der König schnaufte zwangsläufig schwer durch, bei der Erinnerung an die beiden und Kai erkannte augenblicklich seinen Fehler. „Vergebung, Eure Majestät, das wollte ich nicht“, stammelte er betreten und Henry sah ihn an.
„Schon gut, Kai“, meinte er und drehte ihnen den Rücken zu. „Ich möchte allein sein, geht, beide“, raunte er, plötzlich mit belegter Stimme.
Während Kai sich mit einer betretenen Verbeugung abwandte, blickte Laurin ganz offen auf Henrys bebende Schultern. „Was ist mit Euch? Eure Majestät?“, fragte er erstaunt und ging zu ihm. „Eure Majestät, es tut mir leid, ehrlich“, sagte der Junge vorsichtig und vollkommen ahnungslos. „Seid Ihr meinetwegen böse?“
Henry schüttelte langsam den Kopf. „Ich bin nicht böse“, antwortete er leise, „und sicher nicht, auf dich.“
„Warum seid Ihr immer so traurig?“, fragte da Laurin frei heraus und wagte es ihm sachte eine Hand auf den Oberarm zu legen, was Henry regelrecht erzittern ließ.
„Lass ihn los!“, schrie Kai erbost, eilte hinüber und stieß ihn grob weg. „Wie kannst du es wagen, den König anzufassen!“
Laurin schien nun doch erschrocken zu sein und zum ersten Mal senkte er wirklich erschüttert über sein Handeln, den Kopf. „Vergebt mir, Eure Majestät“, murmelte er verlegen, nur um gleich wieder aufzusehen. „Ich möchte Euch doch nichts Böses, ganz im Gegenteil sogar! Ich sehe doch, dass Euch etwas quält und dies ist mir schon von Anfang an aufgefallen. Alle reden hinter Eurem Rücken, über Euch, nennen Euch `ihren traurigen König´, was ja noch recht nett klingen mag, denn ich hörte schon andere Bezeichnungen, die man Euch gibt! `Trauerkloß´, oder `mürrischer, alter Plagegeist´, nennen sie Euch in der Küche und nicht nur da“, empörte er sich, auch mit einem Seitenblick auf Kai, der daraufhin ertappt die Lippen zusammenkniff.
„Naja, ganz unrecht haben sie da wohl nicht“, brummte der König und drehte sich seufzend wieder zu ihnen um. „Die letzten Monate war ich wirklich nicht gerade freundlich und umgänglich. Ist schon gut, Kai, er hat ja recht und wenigstens ist er ehrlich zu mir und heuchelt mir nichts vor!“
„Eure Majestät, ich habe nie…“, erwiderte Kai kleinlaut und Henry schnitt ihm mit einer Geste das Wort ab.
„Lass es, Kai! Oder denkst du im Ernst, ich wüsste nicht, was du über mich denkst? Was alle, über mich denken? Dass ich ein gefühlloser, undankbarer und empfindungsloser Egoist bin, der seine Gemahlin zwingt in ein Kloster zu gehen und…“ Henry konnte den Namen noch immer nicht aussprechen, es ging einfach nicht, `Amanoue rausgeworfen hat´, dachte er den Satz zu Ende. Und sah bitter zur Seite.
„Seht Ihr, genau das ist es, was ich meinte“, mischte Laurin sich sanft dazwischen. „Dieser traurige Blick und dieser fürchterliche Schmerz, auf Eurem Antlitz. Vielleicht kann ich Euch ja helfen darüber hinwegzukommen, über was auch immer“, sagte er achselzuckend. „Zumindest davon ablenken, hm?“, meinte er so spitzbübisch, dass Henry tatsächlich leicht schmunzeln musste. „Und ich weiß auch schon, wie!“, rief er, darüber ermutigt und grinste breit. „Was haltet Ihr davon, wenn wir heute Abend zusammen speisen?! Nur wir beide und zwar hier! In Eurem Gemach und zwar nach römischer Sitte! Oh ja, bitte“, klatschte er erfreut über seinen eigenen Vorschlag in die Hände. „Bitte, Eure Majestät, ich werde mich auch um alles kümmern“, bettelte er und Henry kaute kurz skeptisch an seiner Unterlippe. „Ich verspreche Euch, dass Ihr es nicht bereuen werdet und, Ihr werdet begeistert sein!“ Laurin sah ihn so herzerweichend an, dass Henry schließlich nur noch nicken konnte. „Oh, danke!“, rief sein Page und wäre ihm beinahe um den Hals gefallen. Im letzten Moment hielt er jedoch noch inne und verzog verlegen den Mund. „Verzeiht mir, ich bin manchmal etwas ungestüm.“
Henry schnaubte leise, wie immer, wenn er sich im Stillen über etwas amüsierte. „Schon gut“, meinte er nur wieder und schon strahlte der kleine Wirbelwind wieder.
„Dann bis heute Abend, ja? Und denkt daran, vorher nichts essen!“, sagte er ermahnend und stürmte hinaus.
„Bitte vergebt mir, Eure Majestät“, wagte Kai sich dazu zu äußern, „aber vielleicht wäre es besser, wenn Ihr diesen Burschen nicht so vertraulich entgegenkommt? Ich meine nur, Ihr kennt ihn doch gar nicht und er erdreistet sich Dinge zu tun oder zu sagen, dass man nur noch fassungslos danebensteht!“
„Ich kann mich zwar nicht daran erinnern, dich um deine Meinung gebeten zu haben, aber nun gut, jetzt hast du sie kundgetan“, raunte Henry achselzuckend und ging nach hinten in sein Schlafgemach. „Wecke mich in einer halben Stunde, falls ich einschlafen sollte!“
Kai hätte ihm am liebsten etwas hinterhergeworfen und nicht nur verbal. „Wenn doch nur Sebastian hier wäre“, murmelte er vor sich hin, drehte die Sanduhr um und hockte sich demonstrativ trotzig auf eine der Liegen. Noch am gleichen Tag verfasste er eine Nachricht an Sebastian und klagte dem darin sein Leid.
***
Laurin hatte nicht zu viel versprochen, denn als der König am Abend wieder zurück in sein Gemach kam, staunte er nicht schlecht. Der Mosaiktisch war überfüllt mit allerlei Köstlichkeiten, gebratene Hühnerkeulen, gedünstetes Gemüse, gekochter Schinken, bereits in Scheiben geschnitten, helles Brot, Käse und eine Schüssel mit kandierten Früchten waren darauf angerichtet und Laurin selbst war wie ein Römer mit einer antikanmutenden weißen Toga bekleidet. Um seine Stirn lag ein goldener Reif und auch das kniekurze Gewand wurde von goldenen Spangen über den nackten Schultern zusammengehalten. Der Junge empfing ihn mit einem strahlenden Lächeln und einem geradezu herausfordernden „Na!“, auf den Lippen und brachte Henry damit prompt wieder zum Lachen.
„Du hast dir wirklich viel Mühe gegeben und in der Tat nicht zu viel versprochen! Ich bin, was soll ich sagen, doch überrascht“, meinte er ehrlich beeindruckt und der Kleine strahlte glücklich.
„Wein?“, fragte er und beeilte sich zwei Becher einzuschenken. Einen davon reichte er Henry und der nahm ihn lächelnd entgegen. „Bitte, mein König, nehmt doch Platz“, forderte Laurin ihn auf und Henry setzte sich auf die vordere Liege. „Hm“, machte der Junge nachdenklich und sah zu Kai, der sauertöpfisch etwas abseitsstand. „Wäre es zu vermessen, wenn ich dich bitte, mir ein wenig zur Hand zu gehen? Wärst du so nett und würdest seine Majestät bedienen? Im Liegen geht das ja wohl schlecht“, erklärte er liebenswürdig.
Kais Gesicht entglitt regelrecht und sein Mund öffnete sich, allerdings weil ihm im wahrsten Sinne die Kinnlade herunterfiel. „Danke, Kai!“, antwortete Laurin daher selbst, trippelte um den Tisch herum und nahm die zweite Liege in Beschlag. Er legte sich sofort seitlich darauf und Henry warf einen Blick auf dessen nackte Beine. Er trug tatsächlich hochgeschnürte römische Sandalen und die Riemchen reichten bis unter die Kniekehlen.
„Hübsche Schuhe“, sagte er und deutete schmunzelnd darauf, was Laurin erröten ließ.
„Habe ich mir auch aus Rom mitgebracht“, flötete er, sich ein wenig genierend windend.
Henry nickte nur und trank einen Schluck. „Ähm, ja, dann lass uns doch anfangen, ich bin wirklich hungrig“, meinte er und Kai stampfte heran wie ein wütender Ochse. Unwirsch spießte er eine der Fleischscheiben auf und pfefferte sie auf einen der Teller.
„Gemüse?“, fragte er brummig und Henry nickte, wenn auch leicht irritiert. Kai nahm eine Kelle voll davon, klatschte es daneben und stellte den Teller lautstark vor dem König ab, während Laurin sich selbst etwas von den Speisen nahm.
Genüsslich begann er zu essen und auch Henry widmete sich seinem nicht gerade ansehnlich aussehenden Mahl. Wenigstens schmeckte es vorzüglich, der Schinken war zart und saftig und so sah er darüber hinweg. Als des Königs Becher leer war, hob der diesen um sich nachschenken zu lassen hoch, doch Kai reagierte nicht darauf. „Seine Majestät hätten gerne noch etwas Wein“, sagte Laurin liebreizend und dem Diener platzte der Kragen.
„Dann schenke ihm welchen ein! Die Karaffe steht doch genau vor deiner Nase, du Wicht“, fuhr er den Jungen unbeherrscht an.
„Kai!“, entkam es Henry empört, „was ist denn los mit dir?“
„Was mit mir los ist?! Ich habe die Schnauze sowas von gestrichen voll!“, fauchte Kai zurück. Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und verließ wutentbrannt das königliche Gemach.
Die beiden starrten ihm nach, sahen sich an und begannen zu lachen. „Herrje, was war das denn?“, kicherte Laurin überaus amüsiert und Henry schüttelte nur den Kopf über das Verhalten seines Dieners.
„Wenn das so weiter geht, werde ich mich in Zukunft wohl wirklich noch selbst bedienen müssen“, meinte er nachdenklich und schenkte sich eben selbst ein. „Irgendwie laufen mir in letzter Zeit alle Diener weg!“
Laurin zuckte die schmalen Schultern. „Wir brauchen ihn doch eh nicht und so ist es doch wesentlich intimer. Nur wir zwei, hier allein“, hauchte er mit einem verheißungsvollen Augenaufschlag.
Der König sah ihn schief an und räusperte sich leise. Von der etwas seltsamen Situation irritiert, trank er rasch einen großen Schluck und beobachtete mit wachsender Unruhe, wie Laurins Toga immer mehr verrutschte. Nicht nur der obere Teil, eine Schulterseite war nach unten gerutscht und entblößte mittlerweile eine Brusthälfte des Knaben, auch der Saum glitt merkwürdigerweise immer höher und gab einen guten Ausblick auf dessen milchweiße Schenkel preis. „Tja, wie wäre es mit etwas Süßem, zum Nachtisch?“, fragte er etwas verlegen und Laurin setzte sich auf.
„Oh ja, sehr gerne! Und ich wüsste auch, wo Ihr Euren Nachtisch vernaschen könntet“, antwortete er lasziv und stand mit einer fließenden Bewegung auf.
„Ähm“, machte Henry, sich schon in Abwehrstellung begebend, doch der Junge ging einfach an ihm vorbei und schlenderte hinüber ins Schlafzimmer. Der König war erst einmal baff über diese erneute Ungeheuerlichkeit und marschierte ihm schließlich hinterher.
Tatsächlich lag der Kleine bereits erwartungsvoll auf dem Bett und löste sich gerade verführerisch die Riemchen der Sandalen. „Was machst du da?“, fragte Henry fast amüsiert.
„Ich bereite Euren Nachtisch vor“, antwortete Laurin und ließ die erste Sandale verheißungsvoll baumeln, bevor er sie fallen ließ.
Henry legte grübelnd einen Zeigefinger vor die Lippen und verschränkte dann die Arme. „Wenn du dich damit meinen solltest, muss ich dich enttäuschen. Ich pflege mein Bett nicht mit Kindern zu teilen, also verlasse es bitte“, erwiderte er gelassen.
Laurin schnürte die zweite Sandale auf und warf sie ihm vor die Füße. „Ich bin kein Kind mehr, immerhin bin ich schon fünfzehn und werde bald sechzehn“, meinte er hochnäsig und Henry lachte kurz auf.
„Und damit zumindest noch ein halbes! Und jetzt raus, aus meinem Bett!“, wurde er um einiges deutlicher.
„Wollt Ihr nicht wenigstens davon kosten?“, ließ Laurin sich nicht von seinem Verführungsversuch abbringen und schob sich die Toga ganz über die Schultern.
„Was hast du an dem gerade von mir Gesagtem nicht verstanden?“, fragte Henry ihn stirnrunzelnd. „Nochmal, ich gehe nicht mit dir ins Bett! Du bist mir zu jung! War das jetzt deutlich genug? Und wenn du jetzt nicht sofort machst, dass du da rauskommst, lasse ich dir den Hintern versohlen und zwar von Kai! Ich möchte wetten, dass der sich darüber mehr freuen würde, als über jedes noch so kostbare Geschenk“, erklärte er ihm geradezu sanft.
Laurin zog ebenfalls die Stirn kraus und schnaufte beleidigt aus. „Hat der alte Mann etwa Angst vor mir?“, versuchte er es deshalb auf die provokante Tour.
„Alter Mann?“, empörte Henry sich erheitert, „ich gebe dir gleich selbst was auf deinen kleinen Hintern! Ich bin nicht alt, ich bin noch nicht einmal dreißig!“
Laurin wirkte tatsächlich überrascht. „Wirklich? Ich habe Euch viel älter geschätzt, eher im Alter meines Vaters, so um die vierzig, mindestens“, schnappte er höhnisch zurück und jetzt reichte es Henry endgültig.
„Raus, du frecher Bursche! Und das ist jetzt die allerletzte Aufforderung!“, raunte er ernst und der Tonfall schien anzukommen. Der frühreife Bengel zog zwar eine beleidigte Schnute, rutschte aber doch aus dem Bett und hob zickig seine Sandalen auf. „So! Und versuche das nie wieder“, riet ihm Henry unmissverständlich und trat einen Schritt beiseite, um den Durchgang freizumachen. „Ach, und Laurin, vergiss nicht abzuräumen! Wenn du gehst, sei so gut und schicke Kai zu mir, ja“, meinte er noch milde und sah dem beleidigten Jungen kopfschüttelnd hinterher.
Allerdings schien die Abfuhr Laurin nicht weiter zu kümmern, denn tags darauf nahm er ohne sich etwas anmerken zu lassen, seinen Platz zu Henrys Füßen wieder ein und wirkte so fröhlich ungezwungen wie eh und je. Ganz anders Kai, der sich fortan eiskalt weigerte, Laurins Aufgaben zu übernehmen und so betrat der König am selben Abend ein unaufgeräumtes Gemach. Der Tisch war nicht abgeräumt, neben dem Abendmahl vom Vortag standen noch die Frühstücksreste, das Bett war nicht gemacht und der Nachttopf randvoll. Henry durchschritt seine Gemächer und blieb durchschnaufend stehen. „Kann mir mal einer erklären, warum es hier aussieht, wie in einem Schweinestall?!“, fragte er noch ruhig seine beiden Diener.
Laurin zuckte unschuldig die Achseln und Kai verzog keine Miene. „Ich erwarte eine Antwort!“, fuhr der König nun in einem wesentlich schärferen Ton die beiden an und Kai hob seine Hände.
„Eure Majestät, seht Ihr das?“, fragte er und nickte auch gleich. „Genau, ich habe nur zwei Hände und teilen, kann ich mich auch nicht! Meine Aufgabe ist es, Eure Majestät jederzeit zur Seite zu stehen! Ich soll Euch ankleiden, Euch nach unten begleiten, um Euch gegebenenfalls zu bedienen, auch während der Audienzen und beim Mittagsmahl, stehe mir, um es auf gut Deutsch zu sagen, den ganzen Tag die Beine in den Arsch, während Euer Page es sich auf einem Sitzkissen gemütlich macht und, während Eure Majestät ein Mittagsschläfchen hält, habe ich meine wohlverdiente Pause. Eigentlich, denn auch ich muss zumindest ab und zu Nahrung zu mir nehmen! Und, da ich einstweilen die Position Eures davongelaufenen Leibdieners übernommen habe, sehe ich nicht ein, in meiner mir zustehenden Freizeit auch noch die Aufgaben eines zweiten Dieners zu übernehmen, der ja eigentlich dann in der Zwischenzeit Eure Gemächer sauber halten sollte“, brachte er es auf den Punkt.
Laurin sah ihn dermaßen schockiert an, dass es schon albern wirkte aber Henry fand den Vorwurf keineswegs zum Lachen. Der König war schlichtweg baff. „Ja, und jetzt?“, fragte er vollkommen überfordert.
„Mit Verlaub, Eure Majestät, ich habe es Euch schon gestern Abend erklärt, ich habe die Nase gestrichen voll! Seit Jahren bin ich in Euren Diensten, habe Euretwegen auf ein Privatleben verzichtet und meine beste Freundschaft zerstört. Oh ja, ich meine Amanoue damit, auch wenn Ihr mir verboten habt, diesen Namen je wieder in Eurer Gegenwart zu erwähnen! Euretwegen, habe ich ihn ausspioniert und verraten und, ich bedauere es zutiefst! Vergebung Majestät, aber diese Scheißstellung, war es schlichtweg nicht wert und noch zu allem Überfluss habt Ihr mir aus Eurer grenzenlosen Dankbarkeit und Güte heraus, auch noch Phineas vor die Nase gesetzt! Ihr habt diesem Verräter den mir zustehenden Posten als Sebastians Nachfolger überlassen und ich habe stillgehalten! Aber jetzt ist meine Geduld am Ende und ich quittiere hiermit meinen Dienst. Sucht Euch fortan einen anderen Deppen und, für den Übergang, habt Ihr ja noch Euren Pagen. Ich wünsche Eurer Majestät alles Gute für die Zukunft“, meinte er mit einer tiefen Verbeugung und Henry stand da wie vom Donner gerührt.
Der König schluckte tatsächlich erst einmal und holte tief Luft. „Wie kannst du es wagen, so mit mir zu sprechen?!“, donnerte es aus ihm heraus und Kai nickte.
„Seht Ihr, das ist es, was ich damit meinte! Diese rotzfreche Göre macht was er will, Benny war zwar gegen den noch ein Waisenknabe, hatte aber auch seine Freiheiten Euch gegenüber und Ihr wart immer voller Nachsicht ihm gegenüber. Aber ich? Was bin ich für Euch? Richtig, nur ein Dienstbote und die sind ersetzbar! Das galt jedoch nie für mich! Ich war gerne in Euren Diensten, aus ehrlicher Liebe zu Euch und habe mein Leben gerne für Euch aufgegeben aber ich möchte nicht irgendwann als alter verbitterter Diener enden, für den man nur noch das Gnadenbrot übrighat. Verzeiht Eure Majestät, aber ich kann nicht länger in Euren Diensten stehen! Vielleicht hätte ich ja auch einfach frecher und dreister Euch gegenüber sein sollen, wer weiß, aber so bin ich nicht“, meinte er bedauernd, drehte sich um und ging.
Henry starrte ihm vollkommen fassungslos nach und Laurin schlich sich an ihm vorbei. „Ich räum dann mal ab, ja?“, meinte er vorsichtig, schnappte sich das Frühstückstablett und stahl sich hinaus.
Mit einem ungläubigen Kopfschütteln ging Henry hinüber ins Schlafzimmer und setzte sich erst einmal aufs Bett. „Das kann doch alles nicht wahr sein“, murmelte er vor sich hin. „Und jetzt?“ Seufzend stand er wieder auf und begann sich selbst zu entkleiden. Er zog sich seinen Morgenmantel an, schlurfte entnervt zurück zur Türe und öffnete sie. „Lasst niemanden mehr durch!“, befahl er den Wachen und die nickten salutierend. Henry knallte die Tür wieder zu, marschierte wieder ins Schlafgemach und blickte säuerlich in den vollen Nachttopf, da er sich vor dem zu Bett gehen nochmals erleichtern wollte. „So eine verdammte Scheiße!“, schimpfte er und hätte das Ding am liebsten davongeschossen. Kurzerhand hob er die Schüssel hoch und war schon versucht den Inhalt einfach aus dem Fenster zu kippen, doch dann besann er sich doch noch. Auch, weil er sich schlichtweg ein wenig schämte. Wie würde das denn wieder aussehen, wenn ihn dabei jemand beobachten sollte. Der König entleert seinen eigenen Nachttopf aus dem Fenster, nein, soweit war er dann doch noch nicht gesunken! Sollte er…
Im geheimen Gemach befand sich ein eigener Abort…
Aber dafür müsste er hinübergehen…
Seit Monaten hatte er es nicht mehr betreten, warum eigentlich nicht? Es war doch leer…
Henry schnaufte tief durch und öffnete vorsichtig die verborgene Tür. Keine Fackel brannte und so nahm er den Nachttopf in die eine und eine brennende Kerze in die andere Hand. Mit einem seltsam mulmigen Gefühl in der Magengegend machte er sich auf den Weg, den Weg, den er oftmals voller Vorfreude und manchmal auch wütend beschritten hatte, hinüber zu, ihm.
Seufzend verscheuchte er die Gedanken daran und zog den Riegel der schweren Eichenholztüre zurück. Ein leichter Veilchenduft schlug ihm entgegen, als er das geheime Gemach betrat und sofort schlug ihm das Herz bis zum Hals. Dieser Duft, sein unverkennbarer Duft, wie sehr er ihn vermisst hatte, auch wenn es immer bedeutet hatte, dass es ihm nicht gut ging…
Es war stockdunkel in dem kalten Raum und so zündete er erst einmal zwei weitere der dicken Kerzen an. Erneut holte er tief Luft, um sich selbst zu beruhigen und marschierte entschlossen ins Nebenzimmer. Nachdem er den Nachttopf entleert hatte, erleichterte er sich noch und drehte sich wieder um. Nichts wie raus hier, schoss es ihm durch den Kopf und so beeilte er sich so schnell wie möglich das Gemach wieder zu verlassen. Er pustete die erste Kerze aus, damit flackerte auch die zweite heftig und irgendetwas Funkelndes fiel ihm dadurch ins Auge. Es kam vom Bett her und Henry hielt augenblicklich den Atem an, als er das goldene Etwas erkannte, in dem sich das flackernde Licht widerspiegelte. Oh nein…
Henry ging wie automatisch darauf zu und erstarrte. Das Bett war ungemacht, die Decken zerwühlt und halb zurückgeschlagen, ein Kissen zeigte noch die Mulde, die ein Kopf hinterlassen hatte und alles wirkte so, als wäre es geradeerst verlassen worden. Ob es vielleicht sogar noch nach ihm roch?
Der Armreif lag auf der anderen Seite, seiner eigenen Seite, auf seinem unberührten Kopfkissen und so beugte er sich hinüber. Dabei musste er sich mit einem Knie aufstützen und ganz plötzlich entkam ihm ein leiser Schluchzer. Er berührte das kühle Metall, griff danach und presste den Armreif gegen seine stechende Brust. Der Schmerz war so groß, dass es ihm fast die Luft nahm und er ließ sich fallen. Laut schluchzend verbarg er sein Gesicht in Amanoues nach Veilchen duftendem Kissen und wiegte sich verzweifelt weinend hin und her. Irgendwann kamen keine Tränen mehr, er zog die Decken über sich und kauerte sich wie ein Embryo zusammen.
***
Irgendetwas kitzelte ihn an der Wange, als würde eine weiche Haarsträhne darüberstreichen und er öffnete die Augen. „Kätzchen?“, krächzte Henry heiser und fuhr hoch. Doch da war niemand, er starrte verwirrt umher und erkannte im selben Augenblick, dass es wieder nur ein Traum gewesen war. Ein Traum, den er so oft schon geträumt hatte, von ihm und ihren glücklichen Zeiten und der nun endgültig geplatzt war. Amanoue war fort, das machte ihm auch der zurückgelassene Armreif unmissverständlich klar. Seinetwegen. Und er wusste noch nicht einmal, wohin.
Obwohl es sehr kalt in dem seit Wochen ungeheizten Raum war, hatte er stark geschwitzt und so fröstelte er nun, als er sich aus den wärmenden Decken schälte. Die Kerzen waren heruntergebrannt, er musste also mehrere Stunden geschlafen haben, aber wie lange? War es schon morgens? Er sollte schnellstens wieder in seine Gemächer gehen, bevor noch irgendjemand nach ihm suchen und ihn hier entdecken würde. Rasch griff er nach der obersten Decke, damit er nicht noch mehr auskühlte und legte sie sich zitternd um. Dass es die Fuchsfelldecke war, fiel ihm gar nicht auf.
Verdammt, war ihm kalt. Seine bloßen Füße fühlten sich eisig an, als er über den kalten Steinboden zurück in seine Gemächer eilte. Er setzte sich aufs Bett, ließ die Decke von seinen Schultern gleiten und starrte das goldene Armband an, das er noch immer krampfhaft in seiner rechten Hand festhielt. Langsam öffnete er die steifen Finger und betrachtete die Linien, die die Kanten in seiner Haut hinterlassen hatten. Wie in Trance legte er es sich um sein linkes Handgelenk, verschloss es sorgfältig und ohne sich noch vorher zu waschen, zog er sich rasch an. Allein.
Klar, er hatte ja auch die Anweisung gegeben, niemanden mehr hereinzulassen und wahrscheinlich stand der arme Kai schon mit dem Frühstück wartend vor der Tür. Doch dem war nicht so, denn als Henry diese öffnete, erblickte er nur die beiden Wachen. „Ist es schon morgens?“, fragte er und die Gardisten sahen ihn fragend an.
„Eure Majestät?“
„Wie spät ist es?“
„Bereits Vormittag, Eure Majestät“, antwortete einer der Soldaten verwirrt.
„Wie bitte?! Warum hat mich keiner geweckt?“, fuhr der König ihn an.
„Vergebung, Eure Majestät, aber wir haben die Weisung bekommen, niemanden zu Euch vorzulassen und, naja, es war auch niemand da“, antwortete der Mann.
„Niemand? Wieso? Was ist mit Kai? Und meinem Frühstück?“, zeterte der König sie verständnislos an und die beiden wirkten fast geknickt. „Ach, egal!“, winkte Henry ab und marschierte an ihnen vorbei. „Ich fasse es nicht“, brummte er, als er die Treppe hinabstieg und wenig später die leere Halle betrat. „Nanu? Warum ist hier keiner?“, fragte er die Wachen, die ihm selbstverständlich gefolgt waren und die sahen sich seltsam erstaunt an.
„Eure Majestät? Heute ist Samstag, da finden keine Audienzen statt“, meinte einer von ihnen.
„Ach ja! Hab ich ganz vergessen“, murmelte der König fahrig. „Naja, dann begebe ich mich eben in mein privates Audienzzimmer! Könnte mir einer von euch was zum Essen besorgen?“, fragte er, als sie dort angelangt waren und wieder sahen die sich auf diese merkwürdige Art an.
„Sofort, Eure Majestät“, antwortete diesmal der andere und marschierte die Augen verdrehend, davon.
Henry war dies nicht entgangen, allerdings sah er einfach darüber hinweg und eigentlich war er froh, in diesem Moment allein zu sein. Er machte die Türe hinter sich zu und setzte sich vor den brennenden Kamin. Warum fror er nur so? Hoffentlich hatte er sich nicht erkältet…