Читать книгу Prinzessin wider Willen - Rachel Hauck, Rachel Hauck - Страница 6
EINS
ОглавлениеSie hatte ihr Glück gefunden. Vielleicht sogar die wahre Liebe – hinter dem Lenkrad eines 71er Dodge Challenger, der auf den Stand eines Slant – Six und damit zur Perfektion gebracht worden war.
Reggie bremste in der Kehre des Feldwegs ab, der sich durchs westliche Tallahassee zog, schaltete in den vierten Gang und brachte den Wagen auf Hochtouren. Der Kitzel der Geschwindigkeit setzte ihr ganzes Wesen unter Strom.
Der Motor brummte voller Autorität, während die Räder über den Weg surrten und Staub aufwirbelten, als wollten sie das Gestern ein für alle Mal begraben. Während Reggie geradewegs auf das rosengoldene Licht der Dämmerung zuhielt, flog auch das letzte bisschen Zweifel, das an ihr genagt hatte, mit der kühlen Septemberbrise davon.
Hierfür war sie geboren worden – vergessenen, schrottreifen alten Autos zu ihrer ursprünglichen, klassischen Schönheit zurückzuhelfen. Und sie hatte nur 29 Jahre gebraucht, das herauszufinden.
Haha. Komm schon, Süßer. Zeig mir, was du draufhast.
Die Jungs – Al, Rafe und Wally – winkten wie verrückt mit ihren Mützen, als sie an ihnen vorbeifuhr.
Das war unglaublich. Einfach unglaublich. Sie hätte das schon vor Jahren tun sollen. Von dem riesigen Schiff der Wirtschaftsprüfung hinüberspringen auf das kleine Floß der »Schrauberträume«, das sich gerade so über Wasser hielt.
Sechs Monate waren vergangen, seit sie ihren Hosenanzug gegen den Blaumann getauscht hatte und mit Al, der wie ein zweiter Vater für sie war, ins Restaurationsgeschäft eingestiegen war. In dieser Zeit hatte sie mehr als genug schlaflose Nächte gehabt.
Den Challenger zu restaurieren war ihr erster großer Auftrag gewesen. Und ihr erster echter Härtetest.
Reggie warf einen Blick auf den Tacho. Die Nadel schob sich unbeirrt auf die Hundert zu.
»Juchuuu!« Sie schoss über die Ziellinie. Eine Hupe ertönte. Johlende Männerstimmen erhoben sich. Sie hatte es geschafft. Sie hatten es geschafft, gemeinsam. Und das, ohne eine Spur aus Autoteilen auf der Rennstrecke zu hinterlassen.
Reggie schaltete runter und steuerte auf die Mitte des Platzes zu. Sie ließ das Auto eine Reihe Achter ziehen, malträtierte die Hupe, gab wieder Gas und ließ den 440er so noch einmal zu Wort kommen.
Himmel hilf, was hatte ihnen der Auf- und Einbau dieses Motors nur abverlangt. Diese Zeit war besonders von Zweifeln geprägt gewesen. Manchmal hatte Reggie ernsthaft darüber nachgedacht, ihre alte Firma, Backlund & Backlund, anzurufen und zu fragen, ob sie ihre Stelle wiederhaben könnte.
Ein letzter Kreisel auf dem Feld. Reggie hielt den Wagen an und sprang heraus. Den Motor ließ sie laufen. Rafe hob sie hoch und wirbelte sie herum. »Wir haben es geschafft!«
Nachdem er sie abgesetzt hatte, nahm Al sie in seine dunklen Teddybärenarme. »Ich bin so unsagbar stolz auf dich, mein Mädchen.«
»Nein, Al. Ich bin stolz auf dich. Es war deine Idee.«
»Aber du warst bereit, den Sprung zu wagen.« Al war Sergeant der Marines im Ruhestand und der beste Freund ihres Vaters, seitdem die beiden in den Sechzigern die Sullivan Elementary School besucht hatten. Und Kopf und Rückgrat des Unternehmens.
Als Al vor sechs Monaten mit seiner Idee auf Reggie zugekommen war, hatte ihre einzige Frage gelautet: »Wo kann ich unterschreiben?«
Dann hatte er Rafe eingestellt, der kurz vor Als Ruhestand mit ihm zusammen bei den Marines gedient hatte. Rafe hatte die Marines nach drei Einsätzen in Afghanistan verlassen und war auf der Suche nach »Sergeant Al« von North Carolina bis nach Tallahassee getrampt.
Ole Wally kam als Letzter bei dem Auto an, das im Leerlauf vor sich hin schnurrte. »Ich finde, er ist traumhaft schön. Reg, du fährst besser als Danica.«
Sie warf ihre Arme um den Hals des schrumpeligen Alten, dem die dünnen weißen Strähnen unter seiner Jeff-Gordon-24-Mütze hervorkrochen.
»Wally, ich würde meinen Erstgeborenen darauf verwetten, dass deine Arbeit an Motoren die beste in der ganzen Branche ist.«
»Reg«, Wally spuckte aus, eine alte Angewohnheit, die aus seinen Kautabakzeiten stammte, »spiel hier nicht um Dinge, die du nicht hast. Finde einen Mann, geh mit ihm aus und heirate ihn, damit du an einen Erstgeborenen kommst.«
Wally schlenderte um den Wagen herum. »Rafe, hast du mitbekommen, wie da irgendetwas im Motor ›Ping‹ gemacht hat? Ich dachte, ich hätte da was am achten Zylinder gehört.«
Wally, der Autoflüsterer.
»Lasst uns auf der Fahrt zurück zur Werkstatt die Ohren aufsperren«, antwortete Rafe, der sich schon über die Motorhaube beugte und lauschte.
Die Werkstatt war eine alte rote Scheune, die Al weit draußen am Blounstown Highway aufgetan hatte. Sie erfüllte ihren Zweck, weil sie viel Platz und ein dichtes Dach hatte. Und vor allem war sie billig.
»Sag mal, Reg«, ein lauter Bass dröhnte über das Feld, »war da nicht irgendwas mit sieben Uhr?«
Reggie kniff ihre Augen zusammen und sah zwischen den langen Schatten Mark auf sich zukommen, mit dem sie für heute Abend verabredet war.
»Mark … hey!« Reggie wühlte ihr Handy aus einer der Taschen ihres Overalls. War es etwa schon sieben? Nein, es war nicht sieben. Es war halb acht. 19.31 Uhr, um genau zu sein. Sie hatte sich verspätet. »Es tut mir so leid.« Sie traf auf der anderen Seite des Autos auf Mark und schaute noch einmal zu Wally hinüber, dem sie einen bittenden Blick zuwarf. »Wir mussten den Wagen noch ein letztes Mal ausprobieren. Wally hat da so ein Ping gehört.« Na ja, hat er doch wirklich. »Danny Hayes holt ihn morgen früh ab, und wir müssen sichergehen, dass er auch hundertprozentig läuft.«
»Wally und Al kommen schon mit einem Ping zurecht, Reg.« Mark fuhr mit dem Finger über die staubige Motorhaube und machte eine große Geste daraus, auf seine Armbanduhr zu sehen. »Willst du das etwa tragen?«
»Ja, das ist der neue Modetrend aus New York für die Saison, Mark. Ölverschmierte Overalls.« Reggie hob ihren Fuß. »Aber ich zieh mir noch schnell ein paar schicke Stiefel an. Wird das nicht elegant?«
»Zeig’s ihm, Reg.« Rafe knuffte sie solidarisch in die Seite, als er herüberkam, um sich auf den Fahrersitz zu setzen.
»Fahr vorsichtig, Rafe. Bring den Wagen zurück zur Scheune und mach ihn sauber, okay?« Sie zog den Reißverschluss ihres Overalls auf und zog ihn aus. Darunter trug sie eine Jeans und ein schwarzes, plissiertes Top mit V-Ausschnitt – das perfekte Outfit für ein Fischessen in Wakulla County. Selbst wenn der Gastgeber wahnsinnig reich war.
Sie reichte Rafe ihren zusammengeknüllten Overall durch das Fenster und zuckte innerlich zusammen, als sie sich des Glucken-Tons ihrer Worte bewusst wurde. Trotzdem … »Kontrolliert den Wagen innen und außen mit den weißen Handschuhen, auch die Radkästen.«
»Verstanden, Chef.« Rafe grinste und gab Gas, während Wally sich immer noch über den Motor beugte, ganz Ohr für das mysteriöse Ping.
Al winkte Reggie zur Seite. »Reg …« Seine Stimme brach, und als er aufsah, zeigte sich ein feuchter Glanz in seinen braunen Augen. Er zog die Nase hoch, hob das Kinn und atmete tief ein. »Gut gemacht, Mädchen.«
»Ja, das haben wir gut gemacht.« Ihr stiegen ebenfalls die Tränen in die Augen. »Ich schulde dir was, Al. Was Großes. Jetzt müssen wir nur überlegen, woher wir den nächsten Auftrag bekommen. Ich habe mir gedacht …«
»Mach dir einen schönen Abend, Reg.« Al nahm sie bei den Schultern und drehte sie herum. »Ich wollte dir nur sagen, dass ich stolz auf dich bin. Geh jetzt. Amüsiere dich. Lache. Genieße deinen Erfolg.«
»Wir sind ein echtes Erfolgsteam, nicht wahr?« Sie lächelte.
»Ein Ein-Auto-Erfolgsteam, aber ja, so weit, so gut.«
»Al, sag mal, wenn wir …«
»Nun lauf, Mädchen, und hab Spaß mit deinem Verehrer.«
»Er ist nicht mein Verehrer.«
»Auch gut. Geh einfach. Vergnüge dich. Miriam wartet zu Hause mit den Enkeln auf mich. Für mich sind heute Abend Popcorn und Disneyfilme angesagt.« Al lachte laut und unbekümmert. Er hatte die Zeit seines Lebens.
»Na gut, okay.« Sie klopfte sich mit den Händen gegen die Beine. »Dann – Abmarsch.«
»Gut. Abmarsch«, wiederholte Al ihre Absichtsbekundung.
»Also, wenn ihr irgendetwas braucht, ruft mich an.«
»Was könnten wir an einem Dienstagabend um halb acht wohl noch brauchen?« Al nahm sie wieder bei den Schultern und drehte sie einmal mehr zu Mark. »Amüsiere dich. Das ist ein Befehl.«
»Jawoll, Sergeant Love.«
Während sie mit Mark zu dessen Wagen hinüberging, atmete sie tief durch und presste sich die Hand auf den Bauch. Sie hatte es geschafft. Sie hatten es geschafft. Einen kompletten Wagen restauriert.
»Wir sind bis zum Fahrgestell runter, als wir angefangen haben, an dem Challenger zu arbeiten«, sagte sie mehr zu sich selbst als zu Mark.
»Der alte Mr. McCandless wird sich wundern, wo ich bleibe.« Mark zielte mit seinem Schlüssel auf das neue Porsche – Modell, das am Anfang des Feldwegs stand. »Was war denn jetzt an sieben Uhr so schwierig, Reg?«
»Ich habe gearbeitet.« Sie rannte vor ihm her. Sie winkte und jubelte und jagte dem Challenger ein paar Schritte nach, als Rafe, Wally und Al aus dem Feldweg abbogen und in Richtung Werkstatt davonfuhren.
»Lass uns fahren!«, rief Mark.
Reggie traf ihn am Porsche und ließ sich mit einem untrüglichen Gefühl der Zuversicht, dass sie endlich ihre Bestimmung gefunden hatte, auf den Beifahrersitz gleiten.
Eine sanfte Hunter-Hays-Melodie erklang aus Marks Lautsprechern, während der Porsche auf die Golfküste zuhielt.
Reggie kuschelte sich in das italienische Leder und betrachtete die leuchtend roten Streifen am westlichen Horizont. Konnte das Leben perfekt sein? Oder fast perfekt? Das erste Mal, seitdem Mama gestorben war, als sie noch ein Kind gewesen war, ergab ihr Leben einen Sinn. Oder? Aber sicher doch.
Mit Al eine Firma zu gründen und an dem Challenger zu arbeiten, hatte ihr Halt gegegben, hatte ihre Ruhelosigkeit gezügelt. Ihr Herz hatte aufgehört zu fragen, ob da noch etwas sei.
»Gestern habe ich mit Eric Backlund Golf gespielt.« Mit seinen dreißig Jahren war Mark einer der führenden Immobilienunternehmer in Florida. Er aß mit Kongressabgeordneten zu Mittag und spielte mit Vorstandsvorsitzenden Golf. Er entwickelte sich immer weiter fort von dem knochigen Schlüsselkind mit den traurigen Augen, das in einem gammeligen Wohnwagen gelebt hatte.
»Hat er immer noch ein Handicap von sieben?«, fragte sie. Ihr ehemaliger Chef nutzte jede Gelegenheit, um den Leuten in seinem Büro zu erzählen, wie gut er doch darin war, einen kleinen weißen Ball mit einem dünnen Schläger sonstwohin zu befördern.
»Er hat nach dir gefragt. Er wollte wissen, wann du wiederkommst.«
»Wenn ein Schneesturm Tallahassee begräbt.« Sie öffnete ihr Fenster. Die feuchte Luft flog an ihrem Gesicht vorbei und kühlte die aufkommende Hitze in ihrer Unterhaltung.
»Reg, nun komm schon. Du musst klug sein, an die Zukunft denken. Ja, bravo, du hast einen Oldtimer restauriert.« Er nahm für einen kurzen Applaus die Hände vom Lenkrad. »Du hast dir und allen anderen bewiesen, dass du es mit den großen Jungs aufnehmen kannst. Aber jetzt ist es Zeit, an deine Zukunft zu denken.«
»Noch nicht mit den ganz großen Jungs. Wir haben einen einzigen Wagen restauriert. Und dein Sarkasmus ist mir egal.« Wollte er sie im selben Atemzug ermahnen und ernüchtern?
Reggie ignorierte das Schuldgefühl, das anklopfte, das Streben in ihr, allen gefallen und sich fügen zu wollen. Das zu tun, was andere von ihr erwarteten, hatte sie überhaupt erst in diese ganze Wirtschaftsprüfergeschichte hineingebracht. Daddy hatte gedacht, es sei ein guter Beruf für sie. Er hatte Recht gehabt. Eine Zeitlang. Aber sie hatte ihre Lektion gelernt. Jetzt war sie an der Reihe. Jetzt war es Zeit, das zu tun, was sie wollte.
»Ein bisschen Sarkasmus hilft manchmal dabei, blinde Augen sehend zu machen«, sagte Mark.
»Komisch, dass Jesus nie welchen gebraucht hat, als er herumging, Gutes tat und Leute heilte.« Sie wandte sich ihm zu. »Schau her, Mark, ich gehe nicht wieder zu Backlund & Backlund zurück. Auch nicht, wenn das mit der Autorestauration nicht klappen sollte. Also schlag dir das aus dem Kopf. Oder aus den Köpfen anderer Leute. Da tüte ich lieber im Supermarkt Einkäufe ein.« Sie lehnte sich zurück und sah nach vorne, beobachtete, wie die Scheinwerfer eine Schneise in die Dunkelheit schlugen, und spürte, wie sich das Wohlgefühl von eben auflöste.
»Na gut, dann vergiss die Buchhaltung«, sagte Mark. Seine Stimme machte sich für Plan B bereit. Sie kannte Mark nun seit fast zwanzig Jahren, und er hatte immer einen Plan A und zusätzlich einen Plan B, C, D und E. »Aber Reg, um Himmels willen, Autos? Noch dazu alte Autos? Du bist zu klug und zu talentiert und viel zu schön, um den ganzen Tag im Blaumann zu stecken und den Kopf unter einer stinkenden Motorhaube zu versenken.« Er verlangsamte die Fahrt und lehnte sich nach vorne, um einen Wegweiser an einer Nebenstraße besser sehen zu können, der hinter einem Baum versteckt war.
»Du kannst gut mit Menschen«, fuhr er fort. »Sie gehen einfach auf dich zu und erzählen dir ihre Geschichte. Erinnerst du dich an die Frau aus meinem Büro bei der Weihnachtsfeier im letzten Jahr? Sie hat dir in der Schlange am Büfett mal eben ihre Lebensgeschichte erzählt. Die redet immer noch von dir.« Er schüttelte den Kopf und gab Gas, während er auf der Suche nach dem nächsten Wegweiser den Hals reckte. »Wie wäre es, wenn du in die Politik gingst?«
»Ha! Politik? Da würde ich dann doch lieber für die Gauner der freien Wirtschaftsprüfer von Backlund & Backlund arbeiten.
»Haha. Backlund hat einen tadellosen Leumund, und das weißt du auch.«
»Selbst wenn das nicht so wäre, würde ich lieber für sie arbeiten, als in die Politik zu gehen.« Sie sah Mark an. »Kennst du mich denn so gar nicht? Nach all den Jahren?«
»Doch. Ich kenne dich. Vielleicht kenne ich dich sogar besser, als du dich selbst kennst. Reg, du wärst eine gute Politikerin. Du würdest dir mehr Gedanken um die Menschen machen, als um deine eigene Macht oder deinen Wohlstand.« Er bremste am nächsten Straßenschild und bog von der Straße nach links in eine weiche, sandige Auffahrt ab. Mit einem Knurren schaltete er herunter. »McCandless managt millionenschwere Bauvorhaben. Man sollte meinen, er könnte seine eigene Auffahrt pflastern lassen.«
Aber er hatte zu früh gejammert. Das Auto kam auf einer Lichtung heraus, und sie fanden sich auf einer geschwungenen Kiesauffahrt wieder, die sich unter einem Säulengang auf den Haupteingang zuschlängelte.
Reggie sah durch die Windschutzscheibe zum Obergeschoss mit seinen hohen Regenrinnen. »Ein Palast, hier in Wakulla County.« Sie lachte. »Und ich dachte, ich hätte schon alles gesehen.«
»McCandless ist ein bisschen exzentrisch, aber er kennt sich mit Immobiliengeschäften aus.«
»Lass mich raten. Du möchtest, dass er dir bei einem deiner Projekte den Rücken stärkt.«
»Ein Projekt drüben auf St. George.« Mark legte den Leerlauf ein, während ein Angestellter in einer roten Uniform die Treppe am Haupteingang heruntereilte. Ein zweiter Bediensteter öffnete Reggies Tür. Ihr Magen meldete sich, als sie das kräftige Aroma von gebratenem Fisch roch.
»Angestellte«, sagte sie, als Mark auf ihre Seite kam und zusah, wie der Mann seinen Wagen wegfuhr. »Schick, schick. Das ist jedenfalls nicht typisch Wakulla County.«
Wakulla County, das waren Rednecks, Hinterwäldler, wie die Menschen hier spaßhaft genannt wurden. Keine Dienstboten, die die Freitreppe zum Haupteingang eines Palastes heruntereilten.
»Das alles hier …«, Mark legte ihr einen Arm um die Taille, »das alles hier wird eines Tages genau meine Kragenweite sein, Baby.«
Baby?
»Nun ja, meine jedenfalls nicht.« Reggie wand sich aus seinem Arm und ging vor ihm einen beleuchteten Weg entlang. Vielleicht litt sie ja unter Verfolgungswahn, aber ihr kam es so vor, als wollte Mark sie Stück für Stück in seine Feine-Pinkel-Landschaft hineinmalen. In eine Umgebung, in die sie nicht hineingehörte. Was war los mit ihm? Wann hatte sich die Atmosphäre zwischen ihnen verändert? Sie waren jetzt schon so lange befreundet. Und zwar nur befreundet.
Obwohl sie eine »Verabredungs-Verabredung« hatten. Wenn einer von ihnen eine Begleitung zu einer Hochzeit, Weihnachtsfeier, einem Familienfest oder einer geschäftlichen Veranstaltung brauchte und sonst niemanden fand, kam der andere mit. Aber Mark hatte eine Menge Freundinnen. Er war schon mit vielen Traumfrauen ausgegangen.
»Hast du mal wieder was von Monica gehört?«, fragte Reggie beiläufig, als er zu ihr aufschloss. Mark hatte die dunkelhäutige Schönheit bei einem Mittagessen im Kongress getroffen, und Reggie hatte ihn hinterher vier Monate lang nicht mehr gesehen. »Ich dachte, sie wäre vielleicht die Richtige.«
»Sie ist wieder nach Hause gezogen und hat sich mit ihrem Freund vom College verlobt.«
»Was, schon? Das ging ja schnell.«
»Ich war nur ein Trostpflaster, und ich habe ehrlich gesagt auch nie eine Zukunft für uns gesehen.« Mark berührte sie am Ellbogen und lenkte sie behutsam den Weg hinunter zu einem weißhaarigen Mann, der aussah wie Colonel Sanders, dem Gründer und Gesicht von Kentucky Fried Chicken. McCandless.
Reggie war noch nie verliebt gewesen. Nicht dass ihr nichts daran lag, aber, nun ja, sie hatte ihn einfach noch nicht getroffen. Den einen. Die Liebe ihres Lebens.
Außerdem fand sie nicht, dass sie einen Mann brauchte, um ein glückliches Leben zu führen. Lieber ging sie alleine zu Partys oder auf Hochzeiten und traf sich dort mit Freunden und ihrer Familie. Wenn sie wirklich eine Verabredung brauchte, fragte sie eigentlich auch lieber ihre beste Freundin, Carrie Mitchell, statt Mark, weil sie Carrie damit eine Ausrede lieferte, sich ein neues Paar Schuhe zu kaufen.
»Bevor wir ins Partygetümmel eintauchen …« Mark nahm sie bei der Hand und zog sie unerwartet vom Gartenweg herunter. Eine dunkle Vorahnung jagte ihr einen Schauer über den Rücken.
Mark, lass das besser …
»Wir haben schon so lange …«
Reggies Telefon klingelte in ihrer Jeanstasche. Gott sei Dank. Sie riss ihre Hand aus seiner und angelte nach ihrem Handy. Gerettet vom Handyklingeln. Nie hatte sie den Schlachtengesang der Florida State University lieber gehört.
»Es ist Al«, sagte sie und zeigte ihm das Display. »Hallo, na, ist alles in Ordnung?« Reggie lachte leise. Sie war erleichtert, dass sie Mark noch einmal davongekommen war und schüttelte die Hand aus, um die Wärme seiner Berührung loszuwerden. »Bitte erzähl mir jetzt nicht, dass ihr den Challenger geschrottet habt.«
»Reg, bitte … Dem Challenger geht es gut. Rafe hat ihn blitzeblank gewienert. Ich rufe an, weil ich mir dachte, du würdest bestimmt gerne hören, dass wir vielleicht unseren nächsten Auftrag haben.«
»Was? Wer?« Ihr Herz pochte gegen ihre Rippen. Das ist ja großartig! »Ein Starfire #89?« Sie lachte. »Wenn du ja sagst, schwebe ich den ganzen Weg bis nach Hause.«
»Ein Starfire #89? Hast du den Verstand verloren, Mädchen?« Al lachte schallend. »Sag mal, was glaubst du denn, wie das seltenste Auto auf dem Planeten Erde sich in die Südstaaten verirren sollte? Und dann auch noch ausgerechnet in unsere kleine Werkstatt?«
»Man wird ja wohl noch träumen dürfen, oder?« Warum nicht? Das Träumen war es gewesen, was sie, zusammen mit einem bisschen Segen von oben, von Backlund & Backlund befreit hatte.
Träume hatten ihre erste Restaurationsarbeit inspiriert. Al hätte sich die Werkstatt erträumen können, aber es war Reggie gewesen, die Danny Hayes dazu überredet hatte, ihnen eine Chance zu geben, indem er ihnen seinen Challenger anvertraute.
Es war also nichts dabei, ein bisschen zu träumen. Eines Tages würde sie schon einen Starfire #89 bekommen. Okay, vielleicht auch nicht, aber immerhin würde sie hinter dem Lenkrad eines Starfire sitzen. Eines Tages.
»Es gibt Träume, und es gibt Absurditäten, Reg. Sollte mir jemals ein Starfire #89 begegnen, dann würde ich dich nicht anrufen, sondern höchstselbst zu dir hinschweben, um es dir persönlich zu sagen. Und du würdest dann, schon bevor ich überhaupt den Mund aufmache, wissen, was ich dir erzählen will, weil mein schönes schwarzes Gesicht so weiß sein wird wie das eines Geistes.«
Sie lachte. »Darauf freue ich mich schon. Welches Auto haben wir denn dann?«
Al hatte Recht. Wenn sie im Restaurationsgeschäft bleiben wollten, sollten sie besser realistisch sein. Es waren nur sieben Starfire #89 produziert worden – eines der ersten Rennautos der Welt. Der Großherzog von Hessenberg hatte ihn 1904 in Auftrag gegeben. Von sechs Exemplaren wusste man, wo sie sich befanden. Vier waren in Museen. Zwei im Besitz von Milliardären. Einer, das Original, war in Zeit und Raum verschollen. Vielleicht hatten die Kriege ihn auf dem Gewissen oder Regen und Schnee, oder einfach jemand, der auf der Suche nach Altmetall gewesen war. Wer wusste das schon? Vielleicht wartete er auch irgendwo auf jemanden, der ihn rettete.
»Ich habe die nächstbeste Alternative zu einem Starfire, Reg. Einen Duesenberg.«
Sie atmete jedes Molekül Luft aus ihrer Lunge aus. »Al, nein. Komm schon … Das kannst du nicht … einen Duesi?« Um sie herum wirbelte die Luft, schnell, kühl und mit dem Duft gebratenen Fischs, und einen Moment lang dachte Reggie, sie würde schweben. »Du machst Witze. Nein. Nein, das kann nicht sein. Du würdest keine Witze über einen Duesenberg machen!« Sie zitterte. »W-wie? W-wer? Wann?«
»Ein Kamerad von den Marines …«
»Gott segne die Marines.«
»Er hat vor einiger Zeit den Dienst quittiert. Er hat es mit einer zweiten Karriere ordentlich zu was gebracht und sich einen 1933er Duesenberg Tourenwagen zugelegt. Er hat angerufen und gefragt, ob ich nicht jemanden kenne, der qualifiziert genug dafür wäre, ihn zu restaurieren.«
»Wir. Ich. Du. Er meint uns.« Reggie schlug sich die Hand vor die Brust. »Hast du ihm gesagt, dass wir das können?«
Mark zog sie am Ärmel. »Reg, du bist mit mir hier. Ruf Al später zurück. McCandless bewegt sich hierher, und ich möchte dich ihm vorstellen.«
Mit einer Handbewegung ermahnte sie ihn zur Stille.
»Ja, aber das ist ein ziemlich besonderes Auto. Unsere Referenzen sind noch ein bisschen dürftig, aber wir sind Freunde, und er vertraut mir. Er überlegt es sich.«
Reggie schob ihre Schulterblätter zusammen. »Was? Du rufst wegen eines ›Er-überlegt-es-sich–Duesis‹ an? Häng dich ans Telefon. Sag ihm, dass wir die Richtigen sind für den Job.«
»Wir wollen doch auch nicht übereifrig wirken, Reg. Lass ihm einen Tag Bedenkzeit. Er hat gerade sechs Millionen Dollar für ein Auto ausgegeben. Wenn wir ihn drängen, verliert er das Zutrauen.«
»Okay, richtig …« Sechs Millionen Dollar. Reggies Wirtschaftsprüfer-Gehirn überschlug das Gewicht einer Sechs-Millionen-Dollar-Investition, und ihre Aufregung kühlte sich ein bisschen ab. »W-wir können das doch schaffen, oder?«
»Ja, aber wir müssen sehr vorsichtig dabei sein. Wir werden viel recherchieren und viel Arbeit darauf verwenden müssen, die richtigen Materialien und Teile zu finden. Das, was wir nicht finden oder kaufen können, müssen wir selbst herstellen. Aber ja, Reg, wir können das schaffen. Immer einen Tag auf einmal. Immer ein Stück nach dem anderen.«
Als Reggie das Telefonat beendet hatte, sah sie, dass Mark immer noch am Ende des beleuchteten Pfades auf sie wartete.
»Das vergeht wohl nicht wieder, oder? Das mit dir und den Autos?«
»Nein.« Sie blieb neben ihm stehen und verstaute ihr Telefon in ihrer Hüfttasche. Im Kopf ging sie noch einmal Als Anruf durch und durchlebte die Aufregung, die damit verbunden war. »Als Freund hat einen Duesenberg gekauft. Er sucht jemanden, der ihn restauriert.«
Mark pfiff durch die Zähne und sagte nach einer kurzen Pause:
»Nur, damit du’s weißt: Ich gehe auch nicht weg.«
Sie sah ihn durch den Glanz der goldenen, flackernden Flammen der Partyfackeln an. Mark sah gut aus, wirklich süß. Ein bisschen arrogant. Sein überbordendes männliches Selbstvertrauen wurde nur von ihren Erinnerungen an den einsamen kleinen Jungen in Schach gehalten, der unter dem nackten Licht des Wohnwagenvordachs darauf wartete, dass seine Mama endlich nach Hause kam. In vielerlei Hinsicht nahm Reggie ihn immer noch so wahr. Das Kind, das einen Freund brauchte. Das dazugehören wollte. Und sie liebte ihn. Aber nur als Freund.
»Ich meine das ernst«, sagte er und strich vorsichtig mit den Fingerspitzen über ihr Kinn.
»Mark …«, sie zog seine Hand von ihrem Gesicht weg, »du bist einer meiner besten Freunde …«
»Stopp.« Er machte eine abweisende Handbewegung. »Ich bin hungrig. Lass uns was essen. Mir lief bei dem Gedanken an den Fisch schon das Wasser im Munde zusammen, bevor wir hier ankamen.«
»Dass du es mich nicht sagen lässt, ändert nichts, weißt du.«
Er hielt mitten in einem seiner großen Schritte inne und wandte sich ihr zu. »Wir sind uns ähnlich, du und ich. Wir sind beide vom Leben verletzt worden. Bei mir war es, dass uns mein Vater verlassen hat und Mom zwei, drei Arbeitsstellen auf einmal haben musste, um das Essen auf den Tisch zu bringen. Bei dir war es der Tod deiner Mutter, als du zwölf warst. Und trotzdem haben wir etwas aus uns gemacht. Du wenigstens eine Weile lang. Bis diese Geschichte mit der Autowerkstatt anfing. Ich betrachte das als eine Art Lebenskrise in jungen Jahren …«
»Ich habe keine Krise, Mark, du hörst nicht zu. Das ist das Leben, das ich will. Ich habe mich, was Schule und Ausbildung anging, an Daddys Rat gehalten, aber die Zeit ist vorbei. Jetzt folge ich meinem Herzen.«
»Alte Autos? Willst du mich veräppeln?« Er streckte die Hand nach ihr aus. »Wir wären ein starkes Paar, Reg. Dein Talent mit Zahlen und im Umgang mit Menschen, mein Gespür, gute Investitionsmöglichkeiten und Geschäfte ausfindig zu machen.«
»Kommt Liebe in deiner Gleichung auch vor?« Sie drängte sich an ihm vorbei und ging in Richtung Büfett. Sollte er McCandless alleine begrüßen. Nicht mit ihr im Schlepptau als Teil seines »starken Paares«.
Es war schon richtig, dass sie früher an diesem Abend gespürt hatte, wahres Glück und sogar ein bisschen Liebe hinter dem Lenkrad eines 71er Dodge Challenger gefunden zu haben. Und dort würde sie ihr Herz auch fürs Erste lassen.
Meadowbluff Palace, den 2. März 1914
Ein Jahr ist vergangen seit Vaters vorzeitigem und traurigem Heimgang. Mama, Esmé und ich sind immer noch verloren ohne seine kraftvolle, tröstende Gegenwart, doch wir haben ein wenig Freude und Lachen wiedergefunden.
Mama ist vollauf mit ihren Pflichten beschäftigt, ebenso wie Onkel Franz, der zögerliche Herzog, wie Mama ihn nennt.
Er ist mir sehr zugetan, da ich seine Thronfolgerin bin. Mama sorgt sich, seine Zuneigung für mich und sein Wunsch, mich als Großherzogin zu sehen, hätten ihn davon abgehalten, eine Braut zu wählen und selbst Kinder zu zeugen. Aber ich glaube, er hat nie geheiratet, weil er noch immer Lady Rosamond liebt.
Onkel spricht nie davon, aber ich bin sicher, sie hat ihm das Herz gebrochen, als sie seinen Heiratsantrag so rüde abgelehnt hat und kurz darauf gestorben ist. Armer Onkel!
Und so verhätschelt er nun mich und Esmé. Das hat er gemacht, solange ich mich erinnern kann, lange, bevor er der Großherzog von Hessenberg wurde.
Ich glaube doch, dass er Papa und Großvater in letzter Zeit sehr vermisst. Nach seiner Reise nach Russland und ins Deutsche Reich, wo er seine Vettern Nikolas und Wilhelm besucht hat, scheint er mir sehr in Sorge zu sein. Seit seiner Rückkehr spüre ich, wie schwer sein Herz ist. Er geht gesenkten Hauptes durch die Halle und verschränkt dabei die Arme hinter dem Rücken. Er war immer so fröhlich, voller Freude, und hat Esmé und mich besucht, um seinen geliebten Ragtime auf der Victrola zu hören.
Er hat einen neuen Schreiber engagiert, Otto Pritchard, einen jungen Studenten. Ich glaube, nicht lesen und schreiben zu können bekümmert Onkel sogar noch mehr als Rosamonds Zurückweisung. Wenngleich er weder über das eine noch über das andere jemals spricht.
Heute Morgen ist er nach Brighton gesegelt, um Cousin Nathaniel zu treffen, danach reist er weiter, um Cousin George zu besuchen.
Mama hat mir beim Tee zugeflüstert, dass Lord Chamberlain glaubt, ein Krieg sei im Anzug. Sie steht stets früh auf und nimmt eine Kutsche zur St. John’s Chapel. An den Nachmittagen sitzt sie vor der Teestunde mit der Bibel im Schoß am Feuer im Salon. Sie wiegt sich hin und her, und ihre Lippen bewegen sich im stillen Gebet. Onkel ist der Überzeugung, der Glaube sei etwas für die Schwachen. Mama sagt, der Glaube sei etwas für die Starken, denn es brauche ein kühnes Herz, um zu glauben, was man doch nicht sehen kann. Die Augen unseres Herzens erzählen unserem Verstand, was der Geist redet.
Was mich angeht, so bedrückt mich die Last, die Onkel und Mama tragen, wohl, und doch setze ich meine Studien auf der Scarborough fort. Onkel besteht darauf, dass Esmé und ich unsere Schulbildung bekommen, um »mit den Jungens mithalten zu können«, wie er so schön sagt. Mama hält ihn für zu fortschrittlich, aber mir gefällt die Gelehrsamkeit doch ziemlich, und in Mathematik bin ich erfreulich gut.
Ich beende diesen Tagebucheintrag nun besser. Der Duft von Bertas frischem Kuchen erreicht mein Zimmer, und ich habe plötzlich großen Hunger. Immerhin ist es Zeit für den Tee.
Danach muss ich lernen. Französisch bereitet mir solche Scherereien!
Alice