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KAPITEL 3 Beck

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Als sie aufwachte und Tageslicht in ihr Schlafzimmer in East Flatbush strömte, grummelte sie und blinzelte gegen die Helligkeit an. Sie kuschelte sich noch einmal unter die Decke und stieß dabei gegen einen warmen Körper, der zusammengerollt neben ihr lag.

Als die Erinnerung an die Ereignisse des vergangenen Abends zu ihrem noch schlaftrunkenen Hirn durchdrang, setzte sie sich auf und schlug die Bettdecke zurück. Boudreaux – der Hund – vier Stunden in der Tierklinik.

„Hey, mein Kleiner. Frohes neues Jahr.“ Ganz vorsichtig kraulte sie den Hund hinter den Ohren. „Hast du gut geschlafen?“

Mit einem leisen Winseln versuchte er, die Augen zu öffnen, aber die Erschöpfung und die Medikamente, die er bekommen hatte, hatten ihn noch fest im Griff.

Laut Tierarzt war er ein Zwergschnauzer, fünf bis sechs Jahre alt, unterernährt, dehydriert, und von Flöhen und Würmern befallen.

Sie hatten ihn geröntgt, mithilfe einer Ultraschalluntersuchung eine Bestandsaufnahme von seinen inneren Verletzungen gemacht, ihn dann mit Antibiotika und Flüssigkeit versorgt und schließlich Beck mit Spezialnahrung und Instruktionen für seine Behandlung nach Hause geschickt.

„Kommen Sie in zwei Wochen wieder, dann können wir ihn gründlicher untersuchen“, hatte es geheißen.

Der kleine Kerl sprach zwar sofort gut auf die Flüssigkeitszufuhr und die Nahrung an, aber der Tierarzt war besorgt, dass es doch noch zu unvorhergesehenen Komplikationen kommen könnte.

Beck stand auf, zog die Vorhänge zu und legte sich wieder neben ihren neuen Freund.

Er seufzte leise, als sie seine Pfote streichelte. Auf dem Weg zur Klinik hatte sie ihn Beetle Boo genannt, und nachdem der Tierarzt diesen Namen dann auch auf die Patientenkarte geschrieben hatte, war es besiegelt gewesen.

Es klopfte leise an ihrer Tür. „Frohes neues Jahr, Beck. Bist du wach?“, sagte ihre Mutter leise und spähte vorsichtig ins Zimmer. „Du bist später nach Hause gekommen als …“ Sie verzog den Mund und sah jetzt in ihrer pinkfarbenen Krankenhauskleidung und der blassen Winterhaut aus wie ein zorniges Eis am Stiel. „Ein Hund? Also bitte, Beck, du weißt doch, dass Flynn allergisch ist.“

„Ich wünsche dir auch ein frohes neues Jahr, Mama“, sagte Beck darauf, drückte mit geschlossenen Augen ihre Stirn gegen das winzige Hundegesicht und atmete den Duft des sauberen Fells ein. Sie hatte den Raum verlassen müssen, als der Tierarzt angefangen hatte, den Hund zu säubern, indem er ihm dicke Klumpen völlig verfilzten Fells abrasierte, so furchtbar hatte Beetle Boo dabei gejault und gewinselt.

„Gibt es zu dem Hund auch eine Geschichte?“, fragte ihre Mutter jetzt.

„Keine Sorge, ich suche mir eine eigene Wohnung. Du brauchst also nicht lange ein Haustier zu ertragen“, sagte Beck nur.

„Jetzt sei doch nicht gleich so kratzbürstig. Es ist nur, weil Flynn allergisch gegen Hunde ist.“

Sie hatte nie die Absicht gehabt, mit einunddreißig Jahren noch bei ihrer Mutter, ihrem Stiefvater und ihrem kleinen Bruder zu wohnen, aber als letztes Jahr ihre beste Freundin und Mitbewohnerin Sarah in Stuytown geheiratet hatte, war Beck vorübergehend wieder in ihr altes Zimmer in East Flatbush gezogen.

Aus Tagen waren Wochen und aus Wochen Monate geworden und im Nu war ein Jahr vergangen. Inzwischen hatte sie genug gespart, um sich eine eigene Wohnung zu nehmen und gerade einen Mietvertrag unterschreiben wollen, als sie gemerkt hatte, dass ihr Abend im Rosie’s und das Zusammentreffen mit Hunter Ingram Folgen hatte.

Vielleicht war das der Grund, weshalb sie sich unbedingt um Beetle Boo kümmern wollte – als Ablenkung von der Tatsache, die sie bisher phänomenal ignoriert hatte, indem sie den Kopf in den Sand steckte.

„Beck?“ Die eine Seite des Bettes sackte unter dem Leichtgewicht ihrer Mutter nach unten und Beck schaute sie von schräg unten an.

„Hast du mich gehört? Ich gehe jetzt zur Arbeit. Das Abendessen steht im Backofen. Flynn müsste eigentlich gegen sechs zu Hause sein. Nach dem Kalender am Kühlschrank hast du heute Nachtschicht. Bitte iss was, bevor du gehst, ja? Du bist ja nur noch Haut und Knochen. Flynn hat gesagt, dass dir im letzten Monat öfter mal schlecht gewesen ist …“

„Ja, ich hab wohl zu viel Fast Food gegessen. Viel Spaß bei der Arbeit, Mama.“

„So viel Spaß, wie eine Zwölf-Stunden-Schicht im Kings County eben hergibt. Aber heute ist Neujahr, da gibt es immer jede Menge Gutes zu essen. Apropos Essen …“

„Ich habe dich schon gerade eben verstanden, Mama“, sagte Beck, setzte sich auf und strich sich ihr langes, dunkles Haar aus dem Gesicht. „Iss was, bevor du zur Arbeit gehst.“

„Was ist denn los mit ihm?“, fragte ihre Mutter und schaute Beck an. Die zog sich ihre Decke über den Bauch und schaute den Hund an. „Er ist ja in richtig übler Verfassung“, fuhr ihre Mutter fort.

„Ich hab ihn einem Täter abgenommen, der ihn eine Tüte mit Drogen hat fressen lassen, damit er sie später wieder ausscheidet.“

Ach du liebe Zeit… genau im richtigen Moment schlug jetzt wieder die Morgenübelkeit zu. Immer ungefähr zehn Minuten nach dem Aufwachen. Sie hatte eigentlich gedacht, dass das langsam vorbei sein müsste, aber …

„Und wieso hast du nicht die Tierrettung verständigt?“

„Weil …“, einatmen, ausatmen, einatmen … und der Moment war vorbei, jedenfalls fürs Erste, „… ich das Gefühl hatte, dass er meine Hilfe brauchte.“

Beck schaute zu ihrer Mutter hin – die Krankenschwester war eine Kümmerin, die alles liebte, was lebte –, die doch eigentlich verstehen musste, wenn jemand Hilfe brauchte, auch wenn sie und ihre Mutter eigentlich nie ein besonders enges Verhältnis gehabt hatten. Beck war ein Papakind gewesen – so war es ihr jedenfalls erzählt worden. Doch dann war der Terroranschlag am 11. September passiert, eine Katastrophe, die bis heute bei ihr nachwirkte.

Der Einsturz des Nordturms hatte Mutter und Tochter gleichermaßen zusammen- wie auseinandergebracht, und zwar auf eine Weise, die keine von ihnen so ganz verstand.

Also ließen sie einander Freiraum – und ignorierten einfach, wie die jeweils andere sich nur humpelnd fortbewegte. Ihre Mutter, indem sie einfach ihr Leben fortsetzte und nie zurückschaute. Und Beck, indem sie vergaß.

„Interessant“, sagte ihre Mutter, stand auf und strich ihren Arbeitskittel glatt. „Du hast sonst nie Gefühle gezeigt, wenn es um Tiere oder Babys ging. Deinen kleinen Bruder hast du erst richtig angeschaut, als er schon fast zwei war.“

„Vielleicht habe ich mich ja verändert – ein bisschen.“

„Wunder über Wunder“, bemerkte ihre Mutter, schaute auf die Uhr und fragte: „Dann ist der Hund also ein dauerhafter Neuzugang?“

„Ich weiß es nicht. Vielleicht. Wie gesagt, ich habe genug gespart, um mir selbst eine Wohnung zu nehmen.“

„Habe ich gesagt, dass du ausziehen sollst? Ich muss nur wissen, was ich Flynn sagen soll. Er ist …“

„… allergisch. Ich weiß.“

So und ähnlich lief es zwischen ihnen fast immer seit dem Tod von Becks Vater. Damals war sie vierzehn gewesen. Jeder Versuch, irgendwie miteinander in Kontakt zu treten, führte zu einer unsichtbaren Spannung, aber irgendwie immer auch mit einem kleinen Schuss Geduld und Liebe.

„Was für ein Hund ist das noch mal?“, fragte ihre Mutter und streckte ihre Hand zu Beetles Nase aus. Aber der Hund war zu erschöpft, um auch nur den Kopf zu heben. „Vielleicht ist es ja eine Rasse, die nicht haart.“

„Er ist ein Zwergschnauzer“, antwortete Beck mit einem Lächeln und wärmte damit die Seele ihrer Mutter. „Ich bin wirklich dankbar für alles, was Flynn und du für mich tut, und dass ich hier mietfrei wohnen kann, aber ich brauche es auch, einfach mal für mich zu sein.“

Ihre Mutter nickte nur kurz und sagte dann: „Ich erinnere mich, dass ich damals auch mit den Hufen gescharrt habe, das Nest zu verlassen. Und ich war zwanzig, als ich mich dann Hals über Kopf in deinen Vater verliebt habe.“ Sie beugte sich vor, um Beck einen Kuss auf die Stirn zu geben, wünschte Beetle Boo einen guten Tag und ging zur Tür. „Ach ja, unten liegt Post für dich“, sagte sie noch im Hinausgehen. „Ein Einschreiben.“

„Von wem denn?“

„Von einem Anwalt in Florida“, antwortete ihre Mutter, schaute wieder auf die Uhr und zog ein Gesicht. „Ich muss jetzt aber wirklich los. Und vergiss nicht, dein Essen steht im Ofen.“

Im selben Moment, als die Tür geschlossen wurde, stürzte Beck aus dem Bett ins Bad und ging vor der Kloschüssel in die Knie – Erleichterung. Wie war es nur möglich, dass das, was für sie sonst immer fast das Schlimmste auf der Welt gewesen war – nämlich sich zu übergeben –, ihr eine solche Erleichterung verschaffte?

Dann betrachtete sie sich in ihrem T-Shirt, das am Bauch bereits spannte, im Spiegel.

Sie hatte ein Problem. Ein großes, vielschichtiges Problem, vor dem sie nicht davonlaufen konnte. Das Baby machte sich bemerkbar und sie konnte es nicht länger ignorieren.

Die ersten beiden Monate hatte sie gedacht, dass sie zu viel arbeitete, weil sie ständig müde war, aber dann hatte die Übelkeit angefangen.

Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte sie sich einfach zusammen mit Beetle Boo in ihrem Zimmer verkrochen, bis der Winter und all ihr Ach und Weh vorbei waren. Aber nach dem, was man so hörte, war eine Geburt mehr als nur ein Weh.

Die Geburt …

Die würde sie wohl allein durchstehen müssen.

Nachdem sie sich die Zähne geputzt und das Gesicht gewaschen hatte, ging sie wieder ins Bett, legte sich neben Beetle, starrte zur Decke und versuchte, an nichts zu denken.

Als sie noch klein war, hatten ihre Eltern immer mit ihr gebetet, wenn sie sie ins Bett gebracht hatten. Die Erinnerungen daran waren verschwommen und außer ihrer Mutter hatte niemand mehr klare bildhafte Erinnerungen an ihren Vater.

Neben ihr regte sich jetzt der Hund mit einem leisen Winseln und versuchte, aus dem Bett zu springen. Beck hob ihn herunter, setzte ihn auf den Boden und schaute zu, wie er kurz schwankte und dann zu seiner Wasserschüssel tapste.

Sie würde bald mit ihm nach draußen gehen müssen. Er brauchte Hilfe dabei, sein Geschäft zu machen, weil er sein Hinterbein beim Fall auf den Beton verletzt hatte, und auf den Röntgenbildern waren außerdem noch zwei ältere Brüche zu erkennen gewesen. Der Schlag sollte Boudreaux treffen.

Ohne nachzudenken flüsterte sie ein Gebet für den Hund – und dann auch noch eines für sich selbst. Sie hatte im Beruf so oft das verzweifelte Flehen sterbender Opfer, verängstigter Täter und trauernder Angehöriger gehört und war deshalb mittlerweile davon überzeugt, dass der Impuls, an den Himmel zu appellieren normal und auch legitim war.

„Frohes neues Jahr, Gott, ich bin’s Beck Holiday. Ich brauche Hilfe.“

Mit geschlossenen Augen wartete sie auf eine Art Stimme oder auf ein Gefühl, auf irgendeine Antwort vom Allmächtigen, aber das Einzige, was sie hörte, war der Signalton ihres Handys, der ihr mitteilte, dass eine Nachricht eingegangen war.

Stöhnend drehte sie sich zum Nachttisch um. Die ganze Serie einzeiliger Nachrichten kam von ihrem Vorgesetzten Lieutenant Hunter Ingram.

Beck?

Ruf mich an.

Wo bist du?

Was ist passiert?

Ich muss es wissen.

Ich kann dich sonst nicht decken.

Weiß nicht, ob ich es überhaupt kann.

Sergeant?

AUFWACHEN!

Sie hob Beetle Boo wieder zu sich ins Bett und überlegte, welche Optionen sie hatte.

Von zu Hause ausreißen? Nein, dazu war sie zu alt. Sie wäre liebend gern abgehauen und in ein neues, surreales, perfektes Leben geschlüpft, in dem es vernünftig war und einen Sinn ergab, schwanger zu sein, und in dem ihr Zustand ihr nicht Angst, sondern Hoffnung machte.

In ein Leben, in dem sie ein eigenes Zuhause hatte, einen Mann, der ihrem Baby ein Vater sein würde – wenn sie sich überhaupt dafür entscheiden würde, es zu bekommen –, in dem ihre Kindheitserinnerungen zurückkommen würden, und ein Zuhause, in dem der Schmerz über den Tod ihres Vaters sie nicht von ihrer Mutter trennte, sondern beide verband.

Aber das war nur ein Traum und wahrscheinlich zu viel verlangt vom Leben. Nach achtzehn Jahren machte sie sich keine Hoffnung mehr.

Das war auch der Grund, weshalb sie gern Polizistin war. In dem Job kannte sie sich aus, wusste, was von ihr erwartet wurde und fand sich selbst Tag für Tag in den Routineabläufen wieder.

Durch eigene Dummheit hatte sie sich in dieser einen blöden Nacht selbst in Schwierigkeiten gebracht. Dafür konnte sie niemand anders verantwortlich machen – abgesehen von ihm. Sie waren beide betrunken gewesen, aber wenn ihre ziemlich verschwommene Erinnerung sie nicht trog, war sie es gewesen, die im Rosie’s die Initiative ergriffen hatte.

Inmitten all der Nachrichten von Ingram war auch eine von Hogan.

Wie geht‘s dem Hund? Ruf mich an. Boudreaux‘ Anwalt ist hier schon aufgekreuzt, bevor ich den Bericht fertig hatte.

Sie wollte ihm gerade zurückschreiben, als ihr Handy klingelte. Ah, das war Ingram. Am Klingeln merkte sie, dass er die Geduld verlor.

Trotzdem drückte Beck ihn weg, warf das Handy zwischen die Papiertücher, Papiere, Bücher und Duftöle in der Nachttischschublade und vergrub sich mit ihren Sorgen im Kissen.

Vielen Dank auch für deine Hilfe, Gott.

Sie musste wieder eingeschlafen sein, weil ein Klopfen an der Tür sie aus einem traumlosen Schlaf aufschreckte.

„Ja?“ Sie räusperte sich und warf einen Blick auf ihren Wecker. Es war sieben Uhr abends.

Ihr Stiefvater Flynn betrat in seiner Polizeiuniform mit dem Dienstgrad eines Captains ihr Zimmer. „Du hast wirklich auf Streife deinen Posten verlassen?“

Beck zog jetzt die Bettdecke etwas zurecht, sodass Beetle Boo zum Vorschein kam. „Nein, ich habe nicht den Posten verlassen, sondern ich bin nur mit dem kleinen Kerl hier beim Tierarzt gewesen“, antwortete sie. „Hogan hat den Verdächtigen aufs Revier gebracht – was reine Zeit- und Geldverschwendung war. Gibt es noch Gerechtigkeit auf der Welt, Flynn?“

„Ja, es gibt Gerechtigkeit. Und irgendwann steht jeder vor seinem Richter.“ Er deutete jetzt mit dem Kopf auf den Hund und bemerkte: „Du hättest die Tierrettung verständigen können. Das ist deren Job. Deiner ist es …“

„… ein unschuldiges, verletztes, bettelndes Tier zu ignorieren, um einen Wiederholungstäter festzunehmen? Der, nebenbei bemerkt, schon wieder auf freiem Fuß war, bevor Hogan auch nur den Bericht fertig geschrieben hatte. Nein, Flynn. Ich habe den kleinen Kerl hier gerettet.“ Sie kraulte Beetles Nase, woraufhin der den Kopf hob und ihre Hand mit seiner rosa Zunge berührte.

Flynn starrte sie einen Moment lang an, hin- und hergerissen zwischen seinen Rollen als Polizei-Captain und als Stiefvater.

Flynn und ihr Vater waren seit der Schulzeit beste Freunde gewesen. Mit zweiundzwanzig waren sie beide zusammen zur Polizei gegangen und von da an tagein, tagaus, von Mitternacht bis acht Uhr morgens auf der Jagd nach Straftätern und dem nächsten Kaffee gewesen.

Nach den Anschlägen vom 11. September hatte Flynn oft vorbeigeschaut, um nach „Dales Witwe“ zu schauen, und ein Jahr später hatten er und ihre Mutter dann geheiratet.

„Was ist denn passiert?“, fragte er mit einem tiefen Seufzer.

„Ich hab einen Wiederholungstäter beim Dealen erwischt, und als ich ihn verfolgt habe, hat er einen Beutel fallen lassen, in dem der kleine Kerl hier war. Hat ihn als Drogenkurier missbraucht.“

Flynn beugte sich vor, um einen Blick auf den Hund zu werfen, kam aber nicht näher.

„Der sieht ja zum Erbarmen aus. Was hat denn der Tierarzt gesagt?“

„Er hat gesagt: ,Das macht dann eintausendfünfhundert Dollar.‘“ Beck schlüpfte in ihre Hausschuhe, zog das T-Shirt ein bisschen von ihrem Bauch ab und griff nach ihrem Bademantel. „Dann hat er mich mit Medikamenten, Spezialfutter und Instruktionen nach Hause geschickt. Der Kleine sieht jetzt schon zehn Mal besser aus als gestern Abend.“

„Aber du weißt, dass ich allergisch bin, oder?“

„Jap“, sagte sie nur und ging aus dem Zimmer.

Bitte, bitte, erst mal Kaffee.

Als sie vor etwa sechs Wochen eines Morgens angefangen hatte, koffeinfreien Kaffee zu trinken, hatte ihre Mutter eine Augenbraue hochgezogen. Beck hatte sich damit getröstet, dass sie schon so viel Koffein im Blut gehabt hatte, dass es vermutlich für ein ganzes Leben, wenn nicht gar zwei, reichte.

Aus der Küche duftete es nach Boeuf Stroganoff und einen Moment lang empfand sie einen tiefen Frieden. Beck liebte ihr Zuhause. Das war der gemütliche, geborgene Ort, an den man sich zurückzog, um sich vor den Problemen der Welt zu verkriechen.

Sie wünschte sich das, was ihre Mutter und Flynn hatten, einen Ort, an dem man sich von unliebsamen Überraschungen erholen, sich ein Leben aufbauen und vielleicht ein Kind großziehen konnte.

Es gab da eine Wohnung an der Rockway Avenue, die sie hätte haben können, aber die war längst nicht so gut wie die piekfeine Wohnung in Stuytown, die sie und Sarah sich bis vor Kurzem geteilt hatten.

Flynn ging in der Küche umher, bereitete alles fürs Essen vor, und seine starke Ausstrahlung und sein stabiler Körper bewirkten, dass der Friede noch etwas anhielt.

„Wyatt ist heute zum Essen nicht da“, sagte er, nahm zwei Teller aus dem Schrank und stellte sie auf den Tisch. „Er schaut sich mit ein paar von seinen Jungs die Halbfinals der National Championships an.“

„Wer spielt denn?“, fragte Beck und nahm die leere Kanne aus der Kaffeemaschine. Traurig. Sehr traurig. Sie schob die Kanne wieder auf die Wärmeplatte zurück und entschied sich für Orangensaft. Der war sowieso besser für sie.

„Ohio State gegen Texas.“ Flynn nahm Salat und Bier aus dem Kühlschrank. „Willst du auch eins?“, fragte er und hielt eine Bierflasche hoch.

„Nein danke, ich arbeite heute Nacht.“

Er zog ein Gesicht. „Das tut mir leid. Ich dachte, du hättest frei. Das ist ein frohes neues Jahr, was?“

„Seit ich bei der Polizei bin, habe ich jedes Jahr an Neujahr Dienst gehabt. Ich wüsste gar nicht, was ich an dem Tag mit mir anfangen soll, wenn ich nicht Dienst hätte.“

Sie stürzte den letzten Schluck Orangensaft hinunter und warf dann die Flasche in den Mülleimer. „Ich muss vor dem Essen noch den Hund füttern.“

„Du kannst ihn nicht behalten, Beck, auch ganz abgesehen von meiner Allergie. Wir arbeiten doch alle zu unterschiedlichen Zeiten und haben auch so schon Mühe, Zeit füreinander – geschweige denn für einen Hund – freizuschaufeln.“ Flynn ging zum Thermostat im Esszimmer und sagte: „Deine Mutter ist anscheinend wild entschlossen, diese Wohnung in eine Sauna zu verwandeln.“

„Ich nehme mir eine eigene Wohnung“, erklärte sie und spürte in dem Moment ein ganz leises Flattern in ihrem Bauch. Das war das Baby. Es bewegte sich.

„Wie willst du dich denn bei deinen Arbeitszeiten um einen Hund kümmern? Und dann auch noch um einen kranken Hund?“, fragte Flynn und sah sie an, während er einen Schluck Bier trank. Und dann fragte er ganz unvermittelt: „Geht es dir eigentlich gut in letzter Zeit?“

„Das schaffe ich schon“, antwortete sie, ohne auf die letzte Frage einzugehen und fügte hinzu: „Es gibt viele Polizisten, die einen Hund haben.“

„Ja, Polizisten mit Familien, die bei der Betreuung des Hundes helfen können“, wandte er ein.

„Ich kann mich um ihn kümmern“, wiederholte sie, fuhr sich mit der Hand durchs Haar und rückte dann ihren Morgenmantel zurecht, indem sie den Gürtel etwas lockerte. „Ich … ich könnte in die Tagschicht wechseln.“

„Wegen eines Hundes?“, fragte Flynn lachend, aber das Lachen war eher freundlich als spöttisch. „Ruf mich bitte an dem Tag an, wenn du deinen Lieutenant darum bittest. Soll ich mal im meiner Abteilung herumfragen, ob jemand den Hund haben möchte? Erinnerst du dich noch an Michael und Esther Greaves? Die waren letzten Sommer am 4. Juli zur Unabhängigkeitsfeier hier. Du hast mit ihrem behinderten Sohn Basketball gespielt. Mike hat mir erzählt, dass sein Therapeut ihnen ein Haustier empfohlen hat.“

„Ach, ich weiß nicht.“ Sie blickte nach unten. „Ich … ich weiß nicht, ob ich ihn an jemanden abgeben kann. Er hat so viel durchgemacht.“

„Das sind liebe Menschen, Beck. Du solltest mal sehen, wie sie mit ihrem Sohn umgehen. Dein Hund würde sich da bestimmt wohlfühlen und gut entwickeln.“

Beck nickte, ging zur Treppe und murmelte: „Ich überleg’s mir.“

In ihrem Zimmer kniete sie sich neben ihr Bett und weckte Beetle Boo ganz sanft. Er sah sie mit traurigen braunen Augen an, auch wenn sie heute schon aufmerksamer und lebendiger waren als noch vor zwölf Stunden.

„Hast du Hunger?“, fragte sie, öffnete eine Dose mit Hundefutter, hob ihn vorsichtig vom Bett herunter, setzte ihn sich auf den Schoß und fütterte ihn aus der Hand. Dann ließ sie ihn aufstehen, und er lief auf wackeligen Beinen noch einmal zum Wassernapf, um zu trinken.

Danach trug sie ihn in den kalten, frischen Abend vors Haus. An den Häusern in den Straßen funkelte überall noch die Weihnachtsbeleuchtung.

Beetle humpelte zum Rasen, und sie stützte sein Hinterteil, als er sich hinhockte.

Dann nahm sie ihn wieder hoch, gab ihm einen Kuss auf den Kopf und flüsterte: „Du und ich, wir gehören zusammen. Ich geb dich nicht her.“

Wieder in ihrem Zimmer, kuschelte sie ihn in Decken, ging duschen und ließ das warme Wasser über sich und das Baby laufen.

Aber dann setzte die Realität wieder ein. Beck ließ sich an der gefliesten Wand der Dusche zu Boden gleiten und barg ihr Gesicht in den Händen. Verdammt! Wie hatte sie es nur so weit kommen lassen können?

Sie saß fest, war in die Enge getrieben durch Umstände, die sie nicht wollte, und hatte in gewohnter Beck-Holiday-Art das Problem einfach ignoriert, hatte es sich weggewünscht und aus ihrem Bewusstsein geschoben. Im Vergessen war sie schließlich richtig gut.

Eigentlich hätte sie an der Wall Street arbeiten müssen, denn sie hatte an der Columbia University Internationales Finanzwesen studiert. Aber dann hatte sie ein Praktikum bei Goldman Sachs gemacht.

Was für eine Welt! Es war die Hölle für sie gewesen und sie hatte jede Minute dort gehasst. Aus einer Laune heraus hatte sie dann die Aufnahmeprüfung für die New Yorker Polizei gemacht und die zweithöchste Punktzahl aller Zeiten erreicht. Sieben Monate später hatte sie ihren Abschluss als Jahrgangsbeste in der Tasche.

Sie liebte ihren Job, denn er gab ihr das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun. Ihr gefielen die Kameradschaft unter den Beamten und der Zusammenhalt dieser wenigen in einer Millionenstadt.

Ihre Mutter war damals zu dem Schluss gekommen, dass Beck zur Polizei ging, um wie ihr Vater zu sein.

„Warum sollte ich das tun, wenn ich mich nicht einmal an ihn erinnern kann, Mama?“

Aber während jetzt ihre blasse Haut durch das heiße Wasser rosig wurde, fragte sie sich, ob die Vermutung ihrer Mutter nicht doch zum Teil zutraf. War ihr Wunsch, Polizistin zu werden, vielleicht der Versuch gewesen, etwas wiederzufinden, was sie verloren hatte? Aber war es denn falsch, wie ihr Vater sein zu wollen? War es falsch, den Wunsch zu haben, sich an ihn zu erinnern, immer noch, nach achtzehn Jahren?

Doch im Moment hatte sie wirklich dringlichere Probleme. War es möglich, alleinerziehend und Polizistin zu sein? Flynn glaubte ja nicht einmal, dass sie sich um einen Hund kümmern konnte.

Beck stand jetzt wieder auf und stellte das Wasser ab. Die Wärme und der Dampf hatten sie nur noch müder gemacht, sodass ihr all die Komplikationen noch deutlicher bewusst wurden.

Sie hatte sich gerade angezogen und das Haar geföhnt, als Flynn die Treppe hinaufrief: „Kommst du jetzt zum Essen? Ich habe das Spiel eingeschaltet.“

„Ich komme“, antwortete sie, griff nach ihrem Rucksack und Beetle Boo sah sie mit verlorenem Blick an. „Ich bin doch bei dir, Kumpel, keine Sorge.“

Sie trug ihn nach unten und setzte ihn aufs Sofa, während sie sich Essen auffüllte, und genau in dem Moment, als sie sich den ersten Bissen in den Mund steckte, gingen auf ihrem Handy zwei Nachrichten ein.

Die erste kam aus der Arztpraxis. Es war die Erinnerung an ihren Termin am 3. Januar. Wahrscheinlich sollte sie diesen endlich wahrnehmen, weil sie schon die letzten beiden einfach hatte ausfallen lassen.

Die zweite Nachricht kam von Sergeant Ingram.

Sobald du hier bist, in mein Büro.

Beck seufzte, warf ihr Handy ans andere Ende des Sofas und das cremige, fettige Boef Stroganoff wurde sauer in ihrem Mund.

Das würde eine lange Nacht werden.

Inzwischen hatte sich Flynn in seinem Ohio State Trikot und Jogginghose in seinem Fernsehsessel niedergelassen und feuerte sein Team an.

„Kannst du dich bitte um den Hund kümmern, während ich bei der Arbeit bin?“, fragte Beck. „Bitte?“

„Touchdown!“ Flynn riss die Arme hoch und eine Nudel flog in hohem Bogen durch die Luft. „Ich sag Wyatt, dass er das übernehmen soll.“

„Aber erinnere ihn bitte daran, ja? Er ist sechzehn und in erster Linie mit sich selbst beschäftigt.“ Ihr sehr viel jüngerer Bruder war wirklich ein netter Junge, lebte aber weitgehend in seiner ganz eigenen Welt, in der er ein erfolgreicher Sportler und der „Traum aller Ladys“ war – das waren seine Worte, nicht ihre.

„Wenn ich mich recht erinnere, warst du in dem Alter auch ziemlich mit dir selbst beschäftigt“, bemerkte Flynn, sammelte die Nudel wieder auf und wischte mit seiner Serviette den Fleck vom Hartholzboden weg.

„Mit sechzehn hatte ich schon meinen Vater verloren und alle Kindheitserinnerungen, die mit ihm zu tun hatten“, entgegnete sie darauf und fuhr fort: „Meine Mutter war nicht für mich da, weil sie gearbeitet und getrauert hat, und dann brachte sie auch noch einen Stiefvater mit nach Hause und schenkte mir einen Flegel von einem kleinen Bruder. Also ja, vielleicht war ich ziemlich mit mir selbst beschäftigt. “

Flynn wandte sich jetzt vom Bildschirm ab und fragte: „War es wirklich so schlimm?“

Sie grinste, aß einen Bissen und sagte: „Na ja, Wyatt ist nicht ganz so schlimm.“

Da schmunzelte ihr Stiefvater. „Das freut mich“, sagte er und rief dann in Richtung des Fernsehers: „Hey, Schiri, was soll denn das? “

Beck hatte gerade ihren Teller leer gegessen und überlegte, ob sie sich noch einen Nachschlag holen sollte, als das Spiel durch eine Werbepause unterbrochen wurde.

Flynn brachte sein benutztes Geschirr und die leere Bierflasche in die Küche und fragte: „Hat deine Mutter dir gesagt, dass ein Einschreiben für dich gekommen ist?“

„Ja, hat sie.“ Beck stellte ihr Geschirr in den Geschirrspüler und beschloss, auf einen Nachschlag zu verzichten, damit sie sich auf dem Weg zur Arbeit einen Donut genehmigen konnte. Sie hatte schon seit ein paar Tagen richtigen Heißhunger auf einen Donut.

Sie fand den Brief auf dem Tischchen in der Diele und schaute zu Flynn hinüber, als der mit einer zweiten Portion Stroganoff an ihr vorbeiging. „Kennen wir jemanden in Fernandina Beach, Florida?“, fragte sie ihn.

„Da habt ihr als Familie oft Urlaub gemacht, als du noch klein warst und dein Vater noch gelebt hat.“ Den Blick fest auf den Fernseher gerichtet, saß Flynn mit dem Teller auf dem Schoß da und warf seine Serviette Richtung Fernseher. „Komm schon, Schiri, jetzt lass die Jungs doch mal spielen.“

Beck schaute auf den Umschlag, der ziemlich offiziell aussah. Ihre Mutter hatte einmal erzählt, wie sie immer zu zweit sechs Wochen von Becks Sommerferien in Florida verbracht hatten. Die letzten drei davon war ihr Vater nachgekommen.

Aber ihre Mutter sprach, wenn überhaupt, nur selten über die gute alte Zeit oder kramte mit feuchten Augen in ihren oder Becks Lebenserinnerungen vor dem 11. September.

Beck atmete jetzt einmal tief durch, riss den Umschlag auf und faltete ein langes Schreiben auseinander. „Das ist das Testament von Mrs. Everleigh Callahan.“

„Was?“ Flynn schaute kurz zu ihr herüber und dann wieder auf den Bildschirm. „Everett wer?“

„Everleigh, habe ich gesagt, du Knalltüte. Guck einfach dein Spiel. Da steht …“ Aber dann blieben ihr die Worte im Hals stecken. „… ich bin die einzige Erbin.“ Sie schaute sich noch einmal den Umschlag und den Briefkopf an. Ja, der Brief war tatsächlich an sie adressiert. „Das muss ein Scherz sein.“

Im Fernsehen kam schon wieder Werbung und Flynn griff nach dem Brief. „Ich bin zwar kein Anwalt, aber das sieht echt aus. Du hast ein Haus in der Memory Lane Nr. 7, Fernandina Beach, Florida geerbt.“ Er zog ein Gesicht. „Und ihren gesamten Besitz, einschließlich aller Konten.“ Er gab ihr das Schreiben auf dem Rückweg in die Küche zurück. „Darüber redest du wahrscheinlich am besten mit deiner Mutter. Wer um Himmels willen ist denn Everleigh Callahan und wieso setzt sie dich als Alleinerbin ein?“

„Gute Frage, Flynn. Das würde ich selbst auch gern wissen.“

Memory House

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