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Beck

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Den ganzen ersten Tag nach ihrer Suspendierung verschlief sie, um wieder in den normalen Tag-Nacht-Rhythmus hineinzufinden. Schon am zweiten Tag wurde sie rastlos und suchte im Internet nach einem billigen Flug nach Florida.

Am dritten Tag nahm sie endlich ihren Arzttermin wahr und ließ die Sprechstundenhilfe, die sie mit Verachtung strafte, weil sie ihre Schwangerschaftsvorsorge vernachlässigte, kühl abblitzen.

Die Ultraschalluntersuchung ergab, was sie ohnehin schon wusste, nämlich dass sie ein Mädchen erwartete. Der Arzt verschrieb ihr Vitamine und gab ihr einen neuen Termin in vier Wochen. Nur mit Mühe gelang es ihr, den Termin noch zwei Wochen länger hinauszuschieben mit der Begründung, sie müsse nach Florida.

Sie würde also wirklich dorthin fliegen. Na gut, warum nicht? Selbst wenn sich herausstellen sollte, dass die Sache mit dem Haus ein Scherz war – und etwas anderes hielt sie für eher unwahrscheinlich – konnte so eine Reise nach Florida ja auch Spaß machen. Zumindest konnte sie dadurch dem Winter in New York und Hunter eine Weile entfliehen.

Am vierten Tag rief sie Miss Everleighs Anwalt Mr. Joshua Christian an, und ließ sich von ihm bestätigen, dass sie tatsächlich als Erbin eingesetzt war. Er sagte, er freue sich und würde sie gern vom Flughafen abholen, aber sie wollte sich lieber ein Taxi nehmen.

Am Nachmittag des fünften Tages ihrer Suspendierung nahm Beck den Zug nach Brooklyn Height und klopfte an Phil Hogans Tür.

Obwohl er sie bei der internen Ermittlung verpetzt hatte, brauchte sie seinen väterlichen Rat, weil sie nicht wusste, was sie tun sollte, obwohl sie auch schon mit ihrer Mutter und Flynn gesprochen hatte – über das Haus, nicht über das Baby – und beide sie gedrängt hatten, nach Florida zu fliegen und sich das Haus anzuschauen.

„Mist, vielleicht schlage ich auch mal jemanden, damit ich suspendiert werde“, scherzte Flynn und warf dann rasch einen Blick zu ihrer Mutter. Er tat, was er immer tat. Er versuchte, die Situation aufzulockern.

Ihre Mutter reagierte auf die für sie typische pragmatische Weise. „Vielleicht hilft dir das ja, dich wieder zu erinnern, Beck. Miss Everleigh hat dich wirklich geliebt. Eigentlich uns alle, aber dich ganz besonders.“

„Warum denn das?“

„Dein Vater hat immer gesagt, dass ihr wie Seelen-Zwillinge wart, die mit sechzig Jahren Altersunterschied geboren wurden. Er war Miss Everleighs Sommerhandwerker. Ich frage dich, wer fährt in den Urlaub, um dort Reparatur- und Wartungsarbeiten an einem alten Haus durchzuführen? Den größten Teil des Sommerurlaubs hat er mit Hammer oder Pinsel in der Hand verbracht. Das gefiel ihm. Ich habe Bücher gelesen, beim Kochen geholfen und bin mit dir und dem Nachbarsjungen Bruno an den Strand gegangen …“ Ihre Mutter seufzte. „Das war wirklich eine schöne Zeit.“

In dem Moment ging die Tür auf. Hogan trat zur Seite und bat sie in seine warme Wohnung. „Mit dir habe ich wirklich nicht gerechnet“, sagte er nur.

„Ich hätte vorher anrufen sollen“, entschuldigte sie sich, schaute sich in seiner Junggesellenbude um und wünschte, er hätte eine gemütliche, einladende Wohnung gehabt statt einer Schlafstätte, die eingerichtet war wie die eines Mannes, der alles verloren hatte und nicht glaubte, eine echte, zweite Chance verdient zu haben. Die Wohnung war kärglich mit gebrauchten, aber hübschen Möbeln möbliert, und an den Wänden hingen Fotos und Gemälde.

„Hast du geschlafen?“, fragte Beck und entschied sich für den Stuhl an der Tür.

„Nein, ich bin schon eine Weile auf.“ Er ging in die kleine Küche, die direkt neben dem Wohnzimmer lag und erklärte: „Ich schlafe nicht gut ohne Claudia. Weiß nicht, ob sich daran noch jemals etwas ändert. Möchtest du was zu trinken?“

„Wasser“, antwortete Beck, stellte ihren Rucksack auf den Boden und zog ihre Jacke aus.

Ihr alter Freund und Mentor kam mit einer Flasche kaltem Wasser für sie und einer Limoflasche für sich selbst zurück und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Es vergingen einige Sekunden, in denen sie schweigend so taten, als müssten sie erst einmal ihren rasenden Durst stillen.

„In einer Stunde muss ich los zur Arbeit“, sagte er.

„Ja klar.“ Beck saß mit geradem Rücken auf der Stuhlkante, die Hände zwischen die Knie geklemmt. „Ich wollte dich nur fragen …“

„Hör mal“, sagte er und beugte sich auf seinem Stuhl vor. „Ich hatte keine andere Wahl. Meine Body-Cam hat aufgenommen, wie du Boudreaux geschlagen hast.“

„Ich weiß. Ich weiß ja …“

„Sie haben die Geschichte schon gekannt, bevor sie nachgefragt haben, und dann haben sie Zeugen angerufen, die sich beschweren sollten. Alles Zeugen, die auf Vinny Campaniles Gehaltsliste stehen. Aber die Polizeiführung hat es ihren Leuten diesmal nicht durchgehen lassen. Dazu kommt ja noch, dass du einfach den Dienst verlassen hast, Beck, und das konnte ich wirklich nicht decken.“

„Tut mir leid, dass ich dich in Schwierigkeiten gebracht habe.“

„Du kennst meine Geschichte, Beck. Ich kann es mir nicht leisten, aus der Reihe zu tanzen, und zwar kein einziges Mal. Meine Weste muss blitzsauber bleiben.“

„Ich bin schwanger, Hogan“, sagte sie jetzt ganz sachlich.

Mit der Flasche an den Lippen starrte er sie an. „Was?“

„Ich bin schwanger.“ Sie wand sich, als sie es noch einmal aussprechen musste.

„W… wie denn? Wann?“

„Wie? Na, auf die ganz altmodische Art und Weise. Wann? Letzten August bei Rosie’s nach dem aufgeflogenen Undercover-Einsatz “

„Von wem denn? Jetzt sag bloß nicht von Detective Myron. Das ist so ein …“

„Myron? Also bitte …“, sagte Beck und zog ein Gesicht. „Glaubst du wirklich, mit dem würde ich mich einlassen …?

„Okay, okay, ist ja schon gut“, sagte Hogan mit erhobenen Händen, als müsse er sich gegen ihr Trommelfeuer wehren. „Von wem denn dann? Als ich damals gegangen bin, hast du mit Lieutenant Ingram Billard gespielt. Und du warst ziemlich voll.“

„Von wem spielt keine Rolle“, sagte sie, weil er der Wahrheit schon viel zu nah kam. „Es ist eben einfach passiert.“ Sie hatte schon viel zu viel preisgegeben. Wieso hatte sie das Rosie’s überhaupt erwähnt? Das grenzte die Anzahl der infrage kommenden Väter nämlich schon viel zu sehr ein.

„Wer ist der Vater, Beck?“

„Ein Mann.“

„Das ist ja wohl Voraussetzung. Weiß er es?“

Sie nickte. „Ich habe es ihm gesagt, frage mich aber schon jetzt, ob ich es nicht lieber für mich behalten hätte.“

„Was hat er denn gesagt?“

„Das ist alles ziemlich kompliziert. Ich regle das jedenfalls alleine.“

„Sag mir, wer es ist, Beck“, sagte Hogan und stellte mit Wucht seine Limoflasche ab. „Er kann doch nicht einfach seinen Spaß haben und sich dann vor der Verantwortung drücken.“

„Das ist geregelt, Hogan“, sagte Beck darauf nur, nahm ihr Wasser in beide Hände und wiegte sich nervös vor und zurück.

„Jetzt verstehe ich auch, wieso du Boudreaux geschlagen hast. Das lag an den Hormonen.“

„Nein, Hogan, das lag einzig und allein an Boudreaux. Hormone hin oder her, er hatte es verdient.“ Sie sprang auf, ging zur Küche und lehnte sich dort an die Wand. „Ich weiß nicht, was ich tun soll, Hogan. Jedes Mal, wenn ich mich hinsetze und über die ganze Sache nachdenke, werde ich verrückt. Ich habe das Gefühl, dass ich gleich anfange zu weinen und im nächsten Moment werde ich wütend, weil ich es hasse zu weinen. Ich bin Polizistin bei der Polizei in New York, Hogan. Ich sorge für Recht und Ordnung und zerbrösele doch nicht einfach so. Das ist meine Art, meinen Vater zu ehren, auch wenn ich mich nicht an ihn erinnern kann.“

„Jeder zerbröselt und zerbricht ab und zu. Jeder braucht Gerechtigkeit, Beck, und ich glaube, dass auch du nicht über dem Wunsch stehst, selbst etwas gegen Unrecht zu tun. Die Tatsache, dass du Polizistin bist, bedeutet doch nicht, dass du kalt und gefühllos sein musst. Du bist in erster Linie eine Frau, und es ist absolut in Ordnung, wenn du dich auch so verhältst. Du brauchst weder die Eiskönigin zu sein noch der Vorstellung gerecht zu werden, die du vom heldenhaften Vermächtnis deines Vaters hast.“

„Eiskönigin? Wer sagt denn das über mich?“ Vom ersten Tag bei der Polizei an war sie zwar immer sehr direkt und völlig schnörkellos gewesen, aber nie kalt oder gefühllos. „Und wie sollte ich denn nicht den Wunsch haben, dem Vermächtnis meines Vaters gerecht zu werden? Ich bin doch ständig davon umgeben, weil die Kollegen von damals doch bis heute Geschichten über ihn erzählen.“

„Aber es ist völlig in Ordnung, dass du nicht er, sondern du bist. Nicht mehr und nicht weniger erwarten wir von dir. Und was die Eiskönigin betrifft …“ Hogan lächelte. „Ich dachte, den Spitznamen würdest du kennen. Dann wirst du jetzt also Mutter?“

Den? Wie viele gibt es denn noch?“

Er hob kapitulierend eine Hand. „Nur diesen einen – der ja gar nicht zutrifft und das weißt du auch. Du bist gar nicht so eisig, wie manche Leute gern glauben möchten.“

„Vielleicht“, lenkte sie ein und trank ihr Wasser in einem Zug aus. „Ich habe mich selbst nie als Mutter gesehen, Hogan, einmal ganz abgesehen davon, dass sie auch noch ohne Vater aufwachsen muss. Und das möchte ich nicht für sie. Jedes Mädchen braucht seinen Vater.“

„Dann lass doch ihren Vater nicht einfach ziehen, nur weil es kompliziert ist, Beck, sondern zieh ihn zur Verantwortung.“

„Er ist verheiratet, Hogan.“ Da hatte er es. Zufrieden?

„Ach so.“ Das war eine schlichte, aber gewichtige Aussage.

„Und wie kann ich dir helfen?“

Eine kleine Träne sammelte sich in ihrem Augenwinkel. „Sag mir, was ich tun soll.“

„Es sieht doch ganz so aus, als ob du dich schon entschieden hättest. Wie weit bist du denn? Wenn es nach dem Undercover-Einsatz passiert ist, müsstest du ja schon fast im sechsten Monat sein. Weiß deine Mutter schon Bescheid?“

„Nein, noch nicht. Mir ist gerade nicht besonders nach einem Vortrag.“

„Komm schon, Beck, jetzt trau ihr doch mal was zu.“

„Mama und ich haben uns nie besonders nahegestanden, Hogan, besonders nach Papas Tod. Wir haben nur nebeneinander her gelebt und dann kam Flynn und dann waren sie auch schon verheiratet und ich kann mich an nichts aus meiner Kindheit mehr erinnern.“

Beck ging wieder zurück zu ihrem Stuhl, zog den Reißverschluss des Rucksacks auf, nahm Everleigh Callahans Testament heraus. Sie gab es ihm und fragte: „Was hältst du hiervon?“ Wenn sie das Gespräch in Gang hielt, dann würden ihre Tränen sicher wieder vergehen. „Ich habe ein Haus in Florida geerbt.“

„Du hast ein Haus geerbt?“, fragte Hogan erstaunt und nahm ihr das Schreiben ab. „Ich wusste gar nicht, dass du Verwandtschaft in Florida hast.“

„Das Haus ist auch gar nicht von Verwandten“, erklärte sie daraufhin. Ihre Mutter hatte an diesem Tag beim Frühstück mehr Einzelheiten verraten. „Papa hatte Ende der Fünfziger-, Anfang der Sechzigerjahre einen Onkel, eine Tante und eine Cousine in Florida, die aber irgendwann nach New York gezogen sind. Jedenfalls lebte gegenüber von diesen Verwandten eine ältere Frau, die für die Familie wie eine Oma oder eine alte Tante war. Papa hat da als Kind ein paar Jahre lang mit seiner Familie Ferien gemacht, wahrscheinlich bis sein Onkel umgezogen ist. Mama konnte sich nicht mehr so genau erinnern. Als ich dann geboren wurde, wollten sie jedenfalls noch mal in dieses … Fernandina Beach reisen, damit ich auch so schöne Erinnerungen an Sommerferien sammeln konnte wie mein Vater. Anscheinend haben wir damals bei dieser alten Dame, Everleigh Callahan, gewohnt. Jetzt ist sie an Thanksgiving gestorben und hat mir ihr Haus vererbt.“

Hogan blickte von dem Testament auf und sagte: „Dein Vater hat in einem Frühjahr mal versucht, ein paar von uns zu überreden, mit ihm zum Angeln da runterzufahren. Aber daraus ist nie etwas geworden.“ Er gab Beck das Dokument zurück und fragte: „Kannst du dich an den Ort erinnern?“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Alle Erinnerungen, die mit meinem Vater zu tun haben, sind weg.“

Das stimmte, und sie war es so sehr gewohnt, dass ihr oft gar nicht mehr bewusst war, was für eine tief greifende Bedeutung diese Worte hatten. Jede Erinnerung, die in Verbindung mit ihrem Vater stand, war vor achtzehn Jahren ausgelöscht worden.

Als ihr Vater nach den Terroranschlägen vom 11. September tot aus den Trümmern des Nordturms geborgen worden war, war ihre Mutter wie erloschen gewesen und hatte voller Trauer und Angst versucht, ihre neue Lebenswirklichkeit zu begreifen. Dabei hatte sie nicht gemerkt, wie ihre Tochter halt- und ziellos hinter ihr her irrte.

Beck hatte Trost bei ihrer Mutter gesucht, aber die war gar nicht anwesend gewesen. Ihr Licht leuchtete nicht mehr, und das war vielleicht der Grund, weshalb Beck als Vierzehnjährige Trost im Schatten der Nacht und Frieden im Vergessen gefunden hatte.

Sie lebten in einer funktionierenden, aber emotional leeren Welt. Das zeigte sich darin, dass ihre Gespräche oberflächlich waren und sich eigentlich ausschließlich um praktische Dinge drehten.

„Wie kommst du denn heute vom Training nach Hause?“

„Ellies Mutter.“

„Kannst du heute putzen? Ich muss Überstunden machen.“

„Kann ich eine Taschengelderhöhung bekommen?“

„Nein, ich brauche jeden Cent, damit ich das Haus halten kann.“

Beck verbrachte viele Abende allein bei Popcorn und Diät-Cola als Abendessen, ohne etwas zu fühlen und ohne sich zu erinnern.

„Du solltest hinfahren und es dir wenigstens anschauen“, riet Hogan ihr.

„Das sagen meine Mutter und Flynn auch.“ Und Hunter.

Flynns Liebe hatte zwar ihre Mutter wieder ins Leben zurückgeholt, aber nicht Beck. Das frischgebackene Paar hatte sich große Mühe gegeben, sie in ihr Märchen einzubeziehen, aber da war Beck schon fünfzehn gewesen, und ihre Schutzschilde waren undurchdringlich geworden.

„Ich glaube, diese Testamentsgeschichte könnte dir neue Möglichkeiten eröffnen, und Beck, hey, Vinny Campanile hat Kontakte nach Nordflorida. Du könntest doch dort ein bisschen die Augen offen halten …“

„Du hörst dich an wie Ingram. Außerdem bin ich sus-pen-diert, du erinnerst dich? Wenn ich dort hinfahre, dann privat.“

„Gut, dann fährst du also.“

„Aber was fange ich denn da unten an, solange ich dort bin?“

„Was jeder in den Ferien macht. Du brauchst doch nicht schon im Voraus alles zu wissen.“

„Doch, muss ich wohl, weil mir das Ganze sonst zu viel Angst macht.“ Papa ist auch in den Nordturm gerannt, ohne zu wissen …

„Und das sagt das Mädel, das ohne zu zögern auf einen dunklen Hinterhof läuft. Komm, es ist doch dein Leben, Risiken einzugehen.“ Aber stimmte das wirklich? Dunkle Hinterhöfe waren eine andere Form des Unbekannten. Sie waren lediglich Hindernisse bei der Jagd nach Tätern oder bei der Rettung von Opfern. „Geh das Risiko ein, lass dich überraschen und schau, was das Leben, oder auch Gott, noch alles für dich bereithält. Versuche zu glauben. Vielleicht kommt ja dort …“

„Ich habe meinen Teil an Überraschungen von Gott gehabt, Hogan – vielen Dank auch.“

„… deine Erinnerung wieder zurück“, beendete er seinen Satz.

Sie zuckte zusammen, ging zum Fenster und schaute hinunter auf die Straße, an der auf beiden Seiten Autos geparkt waren. Sie sprach so gut wie nie über den Verlust ihrer Erinnerungen. Der war inzwischen einfach ein Teil von ihr. Aber jetzt, da er davon angefangen hatte …

„Das macht mir am meisten Angst, Hogan. Was ist das Schreckliche, das hinter der Amnesie lauert?“

Es waren nämlich nicht sämtliche Erinnerungen an ihre Kindheit weg. Sie erinnerte sich daran, wie sie mit dem Fahrrad in der Nachbarschaft herumgefahren war, wie sie bei Ellie Yarborough übernachtet hatte und wie sie in der fünften Klasse beim Krippenspiel mitgespielt hatte.

Aber Heiligabende, Geburtstage, Ferien, bei denen ihr Vater dabei gewesen war, waren schwarze Löcher. Er war eine Figur aus einer Geschichte, die Mama alle Jubeljahre einmal erwähnte.

„Überleg nicht lange, Beck. Fahr nach Florida, lass dir die Sonne auf den Pelz scheinen, atme, iss, denk nach und bete. Du kannst kein Baby austragen, wenn du dich nur von Kaffee und Donuts ernährst.“

„Na, ab und zu esse ich ja auch einen Hot Dog“, erklärte Beck und kam wieder zurück zu ihrem Stuhl. „Machst du dir gar keine Sorgen, dass die Sonne von Florida die Eiskönigin vielleicht schmelzen könnte?“

Hogan lachte. „Das wollen wir mal hoffen.“

„Ich nehme den Hund mit.“

„Gut. Der kann sicher auch ein bisschen Ruhe gebrauchen.“

Beck stellte sich vor, wie sie auf ihr unbekanntes Haus in Florida zuging – nach Aussage von Joshua Christian ein altes viktorianisches Gebäude –, mit ihrem Koffer und einem zappeligen Beetle Boo. „Wahrscheinlich spukt es da.“

Sie stellte sich vor, wie der Wind an den Dachtraufen entlang heulte und die Dielen unter ihren Füßen knarrten.

„Was soll denn da spuken? Deine verloren gegangenen Erinnerungen?“ Hogan zog die Augenbrauen hoch und schaute dann auf seine Uhr.

„W… was, wenn ich mich wieder erinnere? An meinen Vater?“ Beck nahm Hogans Wink auf und griff nach ihrer Jacke.

„Wäre das nicht gut?“, fragte Hogan, während er ihr in die Jacke half.

„Doch es sei denn, ich habe alles aus einem bestimmten Grund vergessen.“

„Aus welchem denn zum Beispiel? Er war doch völlig vernarrt in dich und du hast ihn vergöttert.“

Hogan schloss sie in die Arme und Beck lehnte sich entspannt an seinen starken Körper an. „Fahr hin, hab Spaß und lass mal ein bisschen Licht in dein Leben.“

„Ich werde schmelzen, ich sag’s dir“, sagte sie dazu und unterdrückte den Schluchzer, der in ihr aufstieg. Aber als Hogan ihr dann einen Kuss auf den Kopf drückte, brach sie zusammen und klammerte sich an seine Brust. Einen Arm um ihre Schultern gelegt hielt er sie fest und flüsterte Worte, die sie kaum verstehen konnte.

Dann sammelte sie sich wieder, wischte sich die Augen und ging zur U-Bahn. Als sie in dem dunklen, ratternden Waggon saß, atmete sie eine Frage gegen die Fensterscheibe.

„Was soll ich tun?“ Die Frage war an niemand Bestimmten gerichtet, eher ans Schicksal, das Universum, Gott.

Geh nach Florida.

Der Gedanke kam leise, fast flehend, und je mehr sie über diesem Drängen meditierte, desto mehr Adrenalin wurde ausgeschüttet – mit einer beinah überbordenden Wucht.

Also gut, dann würde sie gehen. Sie würde ihren Bikini – okay, vielleicht den dann doch nicht – aber ein paar Shorts und Flip-Flops einpacken, ein Ticket buchen, eine Hundetransportbox besorgen und dann die Flügel ausbreiten, um für den Winter nach Florida zu fliegen.

Memory House

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