Читать книгу Memory House - Rachel Hauck, Rachel Hauck - Страница 13
KAPITEL 4 Everleigh
ОглавлениеMai 1953
Waco, Texas
Das Leben als verheiratete Frau passte zu ihr, aber daran hatte sie auch nie gezweifelt. Die Ehe erfüllte sie mit Freude und so viel Glück.
Vor acht Monaten war Everleigh Novak in der First Baptist Church die Frau ihres Cowboy Ranchers geworden und heute würde sie das Märchen noch um ein Kapitel erweitern.
„Rhett, mein Schatz, ich bin schwanger.“
Der Arzt hatte an diesem Morgen die Schwangerschaft bestätigt, doch das romantische Abendessen mit ihrem Mann heute Abend hatte sie schon länger geplant, weil sie an diesem Abend das Haus der Applegates ganz für sich allein haben würden. Ihre Schwiegereltern, die Respekt einflößende Mama Applegate und der sympathische Papa Applegate, Königin und König der „Circle A Ranch“, würden nämlich mit Freunden zusammen in der Stadt essen gehen.
Everleigh legte ihre Hand auf ihren noch flachen Bauch und blinzelte in den strahlenden Sonnenschein im Stadtzentrum von Waco.
Gott hatte sie freundlich angesehen an dem Tag, als Rhett sie zu dem Tanz eingeladen hatte. Ausgerechnet Miss Everleigh Novak war dem begehrtesten Junggesellen von Baylor aufgefallen, und er hatte von all den Mädchen, die um seine Aufmerksamkeit buhlten, sie erwählt.
Und jetzt trug sie seinen Nachkommen unter dem Herzen. Vielleicht einen Sohn, den nächsten Erben der Applegate-Ranch. Oder eine Tochter, die in diesen modernen Zeiten vielleicht auch eines Tages die Ranch weiterführen würde.
Ihr Sohn, ein künftiger Fullback im Football an der Baylor University, genau wie einst sein Vater.
Und ihre Tochter – im Unterschied zur Mutter – vielleicht eine künftige Homecoming Queen. Obwohl man sich da nicht täuschen sollte, denn als Rancher-Tochter würde sie teils Prinzessin, teils Wildfang sein.
Aber egal, ob Sohn oder Tochter, dieses Kind – und alle, die noch folgen würden – würde geliebt sein, sehr, sehr geliebt.
Sie runzelte die Stirn, als sich vor dem Bürofenster Wolkenberge auftürmten, den Sonnenschein verdeckten und einen Schatten auf die Stadt und ihren Zeichentisch warfen.
Everleigh betrachtete ihre Arbeit, die neueste Werbeanzeige für Kestner’s Family Department Store. Wenn sie nicht bis zum Feierabend mit den Korrekturfahnen fertig war und sie ihrem Chef vorlegte …
Sie nahm also den Tintenstift wieder zur Hand und fuhr fort mit dem Schattieren. Momentan konnte sie es sich noch nicht leisten, ihren Job als Werbegestalterin zu verlieren. Sie und Rhett sparten nämlich auf ein eigenes neues Haus.
Solange sie noch in Rhetts Kinderzimmer bei seinen Eltern wohnten, konnten sie jeden Monat ihr gesamtes Gehalt auf ein Sparkonto einzahlen.
„Ich hätte nie gedacht, dass ich hier mal mit einem Mädchen zusammen sein würde“, hatte er in der ersten Nacht zu ihr gesagt, nachdem sie aus den Flitterwochen zurück waren.
„Also ich bin froh, dass ich die Einzige bin.“ Und dann hatte sie ihn geküsst, als wäre es das erste Mal.
Als sie jetzt noch einmal daran dachte, musste Everleigh leise lachen, denn als sie aus den Flitterwochen zurückgekommen waren, hatte er die Zimmertür abgeschlossen, bevor er ins Bett gekommen war, und dann war er noch einmal aufgestanden, um ein kleines Tischchen unter die Türklinke zu schieben.
„Das hier ist Mamas Haus. Wenn sie reinkommen will, glaub mir, dann kommt sie herein“, hatte er zur Begründung gesagt.
Everleigh war gerade dabei, den Stiefelabsatz zu schattieren, als ihr noch eine Erinnerung kam.
Eines Nachmittags war Rhett zum Lunch nach Hause gekommen, und als er festgestellt hatte, dass Mama Applegate in die Stadt gefahren war, hatte er geglaubt, die Luft sei rein, und er könne seine frischgebackene Ehefrau für ein nachmittägliches Schäferstündchen nach oben in ihr gemeinsames Zimmer tragen.
Doch in der Aufregung hatte er ganz vergessen, die Tür abzuschließen, und dann war es gekommen, wie es kommen musste …
Noch vier Monate später sträubte sich in Everleigh alles, wenn Rhett in Gegenwart seiner Eltern auch nur andeutungsweise seine Zuneigung zeigte. Besonders, wenn seine Mutter dabei war.
„Mr. McCann möchte wissen, ob du mit den Stiefeln fertig bist“, sagte Betty Jo und überreichte Everleigh ein Layout-Muster der Zeitungsanzeige für die nächste Woche. Everleigh war richtig dankbar für die Unterbrechung, weil dadurch die peinlichen Erinnerungen beendet wurden.
„Er hat gesagt, du sollst darauf achten, dass die Maße der Anzeige ganz genau stimmen. Deine Zeichnungen von letzter Woche haben auf den Spaltenzwischenraum abgefärbt.“ Dann griff die Frau nach Everleighs Hand mit dem Ring und bemerkte: „Ich habe am Anfang gedacht, dass dein Kerl nicht die hellste Kerze auf der Torte wäre – viel Hut und wenig Hirn –, aber mit diesem Ring hat er mich überzeugt. Der ist wirklich fantastisch.“
„Dafür hat er auch ziemlich lange gespart“, erklärte Everleigh, zog ihre Hand weg und schaute sich das Layout-Muster für den Tribune Herald genauer an.
„Weißt du, was mein Mann mir zur Verlobung geschenkt hat? Ein Kind.“
Betty Jo lehnte sich an den Zeichentisch und kaute geräuschvoll Kaugummi. Sie war Anfang vierzig und eine Südstaaten-Giftspritze mit platinblondem Haar und knallroten Lippen wie Marilyn Monroe. Ihre Röcke waren so eng, dass sie sich nicht normal hinsetzen konnte, sondern sich auf ihren Stuhl fallen lassen musste. Und ihre Bluse, nun ja, der Ausschnitt offenbarte schon ziemlich viel.
„Ein Kind?“, fragte Everleigh, legte das Layout-Muster beiseite und nahm ihr Pica-Lineal zur Hand. Sie hatte die Anzeige fünf Punkte zu lang gemacht. „Was denn für ein Kind?“
„Na, ein Baby“, antwortete Betty Jo und tätschelte ihren Bauch. „Deshalb haben wir überhaupt geheiratet. Es war ein ziemlich holpriger und schwieriger Start, aber wir haben es überlebt. Das Kind ist jetzt fast zwanzig und nächstes Jahr mit dem College fertig.“ Sie nahm eine Zigarette aus dem Etui, das sie immer bei sich hatte.
„Mir ist schon klar, dass du jetzt so frisch verheiratet glücklich bist. Wie lange ist es jetzt her, sechs Monate?“
„Acht.“
„Na, dann warte mal ab.“
„Was soll ich abwarten?“, fragte Everleigh nach, legte das Lineal an die untere Kante der Anzeige und fuhr fort: „Rhett und ich lieben uns. Wir werden uns immer lieben und ein perfektes Leben haben.“
„Perfekt? Ach du liebe Güte. Nimm mal deine rosarote Brille ab, Pollyanna“, sagte Betty Jo und blies Everleigh Rauch ins Gesicht. „Junge Leute sind doch solche Traumtänzer. Alle Bräute glauben, dass ihre Ehe eine endlose Aneinanderreihung von Süßigkeiten, Blumensträußen, zärtlichen Küssen und Romantikwochenenden sein wird, und dass er pfeifend beim Geschirrspülen und Versorgen der Kinder und im Haushalt hilft. Aber dann sind zehn Jahre vergangen, und ohne dass man es merkt, kommt der Mann mittlerweile jeden Abend müde und missmutig von der Arbeit nach Hause, schüttelt seine stinkigen Stiefel ab und fragt: ,Was gibt’s zu essen?‘ Und er gibt dir nicht einmal mehr ein Begrüßungsküsschen. Höchstens noch auf die Wange – wenn du Glück hast. Und während du fertig kochst, den Tisch deckst, die Kinder zum Essen rufst und ihnen sagst, dass sie sich die Hände waschen sollen, sitzt er auf dem Klo und liest Zeitung, bis ihm die Beine einschlafen …“
„Betty Jo!“ Ein dicker Tropfen Tinte kleckste aus Everleighs Tintenstift mitten auf die Zeichnung. „Jetzt mach doch nicht alles schlecht, nur weil es bei dir so ist“, sagte sie empört und griff nach einem Lappen, um die Tinte wegzuwischen, aber vergebens. Sie musste den Fleck also in die Stiefelzeichnung einarbeiten.
„Wie du meinst. Wenn du dann irgendwann ankommst und von der guten alten Betty Jo einen Rat willst, dann verspreche ich dir auch, nicht ,Siehste!‘ zu sagen.“ Sie zwinkerte Everleigh zu, ließ ihre Zigarette auf den alten, abgenutzten Holzfußboden fallen und trat sie mit der Schuhspitze aus. „Jedenfalls nicht so oft.“
Und mit diesen Worten ging sie wieder. Die schwere dunkle Eichentür fiel hinter ihr ins Schloss, und ihr lautes Lachen hallte noch lange im Zeichenraum nach.“
„Was weiß denn die schon? ,Weißt du, was mein Mann mir geschenkt hat? Ein Kind.‘“
Everleigh stellte sich Betty Jos Mann Jeb vor und wand sich innerlich bei der Vorstellung, wie er auf dem Klo saß. Also die Frau konnte wirklich mit Worten Kopfkino erzeugen.
Everleigh mochte Jeb, einen schwer arbeitenden Mann, der auf den Ölfeldern schuftete und eher ein Macher war als ein Mann vieler Worte. Es konnte ja durchaus sein, dass Betty Jo die beschriebenen Probleme mit ihm hatte, aber bei Everleigh und Rhett war es anders.
Seit ihrem ersten Date konnte einer den Satz des anderen beenden, und wenn sie nicht zusammen gewesen waren, hatten sie miteinander telefoniert. Unmittelbar vor der Hochzeit hatte Rhett angefangen, ihr kurze liebe Briefchen zu schreiben.
Ich denke an dich. Nur noch zwei Monate, Rhett.
Nein, der Tag, an dem Rhett müde und missmutig nach Hause kommen und ihr kaum ein Küsschen geben würde, bevor er auf dem Weg ins Bad seine Stiefel abschütteln und dann dort sitzen bleiben würde, bis ihm die Beine einschliefen, dieser Tag würde nie kommen.
„Das wird nicht passieren, Betty Jo“, sagte Everleigh vor sich hin, stützte ihre Ellenbogen auf den Zeichentisch und schaute sich dann die Stiefel, die sie gezeichnet hatte, noch einmal ganz genau an. Wie lange würde sie wohl warten müssen, bis sie Betty Jo gegenüber damit angeben konnte, dass Rhett sie immer noch jeden Abend auf den Mund küsste?
Bis dahin stellte sich allerdings die Frage, was sie jetzt mit dem Tintenklecks machen sollte. Noch einmal von vorn anzufangen, kam nicht infrage, weil dazu die Zeit nicht mehr reichte.
Als sie gerade beschlossen hatte, weißes Papier über den Fleck zu kleben, spürte sie, wie zwei große Rancherhände ihre Taille umfassten.
„Hallo, meine Schöne“, flüsterte Rhett und drückte ihr seine warmen Lippen in den Nacken.
Everleigh drehte sich um und schaute ihm ins Gesicht. Wie kam es nur, dass er sie immer noch atemlos machte? „Was machst denn du hier?“
„Kann ein Mann seine Frau nicht mal bei der Arbeit besuchen?“
„Nicht mitten am Nachmittag, wenn er eigentlich gerade dabei sein sollte, auf der Südweide Zäune zu reparieren.“
„Ich habe mir den Nachmittag freigenommen, um mich um etwas anderes zu kümmern.“
„Und was ist dieses Andere?“ Sie suchte in seinem Blick nach Hinweisen auf sein Geheimnis. War es etwas Gutes? Etwas Schlimmes? „Was ist es? Sag’s mir.“ Er trug sein zweitbestes Sonntagshemd und darüber eine legere Sportjacke.
„Hör mal, Mister, bevor du weiterredest“, sagte Everleigh, hakte sich bei ihm unter und fuhr fort: „Egal, wie lange wir verheiratet sind, ich möchte einen richtigen Begrüßungskuss, wenn du abends nach Hause kommst. Und kein Sitzen auf dem Klo zum Zeitunglesen, bis dir die Beine einschlafen. Und ein Haus … Ach, Rhett, das wollte ich eigentlich gar nicht sagen, weil ich ja weiß, dass wir schon sparen, aber ich möchte so gern unser eigenes Haus. Können wir…“
„Hey, hey, Schätzchen, was ist denn los?“ Er hob ihr Kinn und küsste sie.
„Betty Jo hat gesagt, wie …“
Rhett lachte in ihr Haar. „Ach, die gute alte Betty Jo. Was hat sie denn jetzt schon wieder gesagt?“
Everleigh atmete Rhetts Duft nach Heu und Sonnenschein ein und antwortete: „Das Übliche. Nur Wäääh über die Ehe.“ Sie blickte zu ihrem Mann auf und fuhr ihm mit den Fingern durchs Haar. „Sie behauptet, dass die Flitterwochen bald zu Ende sind und du dann irgendwann nur noch müde und missmutig nach Hause kommst, vergisst, mir einen Begrüßungskuss zu geben, deine stinkigen Stiefel einfach irgendwo abschüttelst, mich fragst, was es zu essen gibt und dann zum Zeitunglesen auf dem Klo verschwindest.“
Rhett drückte sie mit einem Arm fest an sich. „Liebling, ich verspreche dir einen richtigen Kuss, wenn ich abends nach Hause komme, egal, was passiert ist, und der Mann, der auf dem Klo sitzt und Zeitung liest, ist mein Vater, nicht ich.“ Dann legte er die Hand aufs Herz, sah sie dabei mit seinen sehr blauen Augen an und fragte: „Glaubst du mir?“
„Ja, von ganzem Herzen.“
Daraufhin gab er ihr einen Kuss auf die Wange und flüsterte ihr ins Ohr, sodass sie von seinem warmen Atem eine Gänsehaut bekam: „Ich kann nicht aufhören an dich zu denken, weißt du das?“ Wieder fand sein Mund ihre Lippen und er fuhr fort: „Du lenkst mich ab. Mein Vater gibt mir Aufgaben, und ich erledige sie nicht, weil ich Tagträume von dir habe.“
Everleigh sah ihm in die Augen und spürte die Liebe, die sie dort sah, bis in ihr tiefstes Inneres. Sie wusste, dass ihr dieser Moment ewig in Erinnerung bleiben würde. „Wie komme ich bloß zu dem Glück, dich zum Mann zu bekommen?“
„Na, derjenige, der hier Glück gehabt hat, bin ja wohl ich. Aber könntest du mir vielleicht einen Gefallen tun? Bitte hör nicht mehr auf Betty Jo, ja?“
„Versprochen. Aber dann gibst du mir auch nicht mehr die Schuld, dass du deine Aufgaben nicht erledigst?“
Rhett lachte. „Abgemacht. Aber es stimmt ja. Ich kann tatsächlich an nichts anderes denken als an dich.“
Dabei funkelten seine Augen und weckten ihr Verlangen.
„Es sieht ja nicht gerade danach aus, dass die Flitterwochen vorbei sind, findest du nicht?“, fragte er.
„Keineswegs, Mr. Applegate“, antwortete sie darauf, stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihn zu küssen, und war froh, dass sie allein in dem Raum waren.
Es gefiel ihr, welche Macht sie über ihn hatte, aber auch der Zauber, den er auf sie ausübte, war nicht zu leugnen. Für ihn wäre sie zu Fuß bis ans Ende von Texas gegangen – sogar barfuß. Oder vielleicht ertrug sie für ihn fürs Erste einmal das Leben im Haus seiner Mutter.
Dort übernahm sie ohne sich je zu beklagen alle Aufgaben, die ihr aufgetragen wurden, und wenn Mama Applegate so redete, als wäre Everleigh Gast in ihrem Haus und nicht Familienmitglied, ertrug sie es klaglos, denn am Ende des Tages war sie Rhetts Frau. Sie allein war es, die seine Träume, sein Herz und sein Leben mit ihm teilte.
Und wenn sie nachts nicht schlafen konnte, war sein leiser Atem ihr Wiegenlied.
„So, ich muss jetzt wieder arbeiten, Liebling, sonst schaffe ich es nicht, rechtzeitig zum Abendessen wieder zu Hause zu sein“, sagte er schließlich. Sie zupfte an seinem Kragen und fragte: „Willst du mir nicht verraten, weshalb du hier in der Stadt bist?“
„Eigentlich wollte ich es dir erst heute Abend sagen, aber dann war ich so aufgeregt …“ Rhett ging hinüber zu dem Schreibtisch, der gegenüber von Everleighs stand, und hielt eine längliche weiße Pappröhre hoch. „Hier, mach auf. Ich fühle mich wie ein Kind zu Weihnachten kurz vor der Bescherung.“
„Was hast du getan, Rhett?“ Sie nahm die Verschlusskappe ab und zog einen Stoß Zeichnungen heraus.
„Komm, lass mich das machen“, sagte Rhett und rollte die Zeichnung eines wohnlichen Hauses mit einer umlaufenden Veranda, das von zwei Pappeln eingerahmt war, auseinander.
„Unser Haus, Everleigh. Ich habe die Skizzen, die du nach der Hochzeit gemacht hast, dem Architekten gegeben. Wie findest du es?“
„D… das ist unser Haus?“ Sie legte ihm den Arm um die Taille, lehnte sich gegen seinen starken Arm und schaute sich die Zeichnung genauer an.
„Ja, das ist unser Haus, Liebling.“
Es war genau so, wie sie es sich vorgestellt hatte. „Wirklich?“, fragte sie noch einmal und blickte zu Rhett auf. „Ich hätte nicht gedacht, dass wir dafür schon genügend Geld zusammen haben.“
„Wir haben jeden Cent unserer Gehälter gespart, und ich habe endlich den Zuchtbullen an Jacob Marshall verkauft, den er schon seit einem Jahr unbedingt haben will …“ Rhett hielt sie im Arm, während er mit der Hand die Zeichnungen durchblätterte. „Ich habe die viertausend Quadratmeter unten am Fluss gekauft. Du weißt schon, das Grundstück mit den Bäumen, das uns so gut gefällt. Mein Vater wollte es uns schenken, aber das möchte ich nicht. Ich kaufe es lieber, damit er es mir nicht irgendwann vorhalten oder Forderungen damit verbinden kann. Ich glaube zwar nicht, dass er das tun würde, aber Familienangelegenheiten können ja doch manchmal kompliziert werden.“
Everleigh beugte sich jetzt vor, damit sie auf der Zeichnung den Namen der Straße erkennen konnte, an der das Grundstück lag. Memory Lane stand da.
„Ist das das Stück Land direkt an der Memory Lane? Genau die Stelle, die wir uns gewünscht haben?“
Rhetts Großmutter hatte der Straße den Namen gegeben, als sie an eine große Familie mit vielen Enkelkindern gedacht hatte, die überall herumrannten – eine eigene Applegate-Bande.
Aber dann waren ihre Söhne Melvin und Earl in den Krieg gezogen, und nur Earl – der von allen Spike genannt wurde – war im Herbst 1918 wieder nach Hause gekommen. Er hatte dann die Ranch geerbt, Mama Applegate geheiratet und einen Sohn, Rhett, bekommen, der ein Einzelkind geblieben war.
Die beiden Töchter von Großmutter Applegate hatten geheiratet und waren weggezogen.
„Deine Oma wäre stolz auf dich, mein Schatz“, sagte Everleigh. „Jetzt fangen wir an, ihren Traum zu verwirklichen.“
„Ja, sie wäre stolz“, bestätigte Rhett, räusperte sich und hielt sich dabei die Faust vor den Mund. „Also … was meinst du?“ Er drehte die Zeichnung um, auf deren Rückseite sich ein Plan für das Obergeschoss befand. „Hier ist die Veranda hinter dem Haus mit einem Fliegengitter. Wir können dort also zuschauen, wie die Sonne über dem Fluss untergeht, ohne von Mücken zerfressen zu werden.“ Er nahm einen Stift von ihrem Zeichentisch und zeigte auf die Außenlinien der Veranda. „Hier sind dann das Wohnzimmer, das Esszimmer und die Küche. Ich habe dem Architekten gesagt, dass er eine große Küche mit den modernsten Geräten planen soll, damit du nach Herzenslust kochen und backen kannst. Ich weiß ja, dass meine Mutter mit ihrer Küche ein bisschen eigen ist.“
„Ach, Rhett“, seufzte sie und erklärte: „Ich habe noch nie etwas so Großartiges gesehen.“
„Hier ist mein Arbeitszimmer und eine Toilette, oben haben wir dann drei Schlafzimmer und ein großes Bad. Und das hier wäre dann unser Bereich, Liebling.“ Er deutete mit dem Stift auf ein großes Quadrat am Ende der zweiten Etage und erklärte weiter: „Hier ist ein Erkerfenster mit Blick auf den Teich und die Nordweide.“
„Das ist ja riesig, Rhett. Können wir uns denn ein so großes Haus überhaupt leisten?“
„Mit einem kleinen Kredit wird es schon gehen. Das haben wir uns hart erarbeitet, Everleigh. Und außerdem“, sagte er, und gab ihr einen zärtlichen Kuss auf die Schläfe, „ist für dich das Beste gerade gut genug. Schau dir dieses ans Schlafzimmer angeschlossene Bad mit Dusche und Badewanne an. Das brauchen wir nicht mit den Kindern zu teilen, wenn wir dann welche haben.“
Er lachte und seine entspannte Freude amüsierte Everleigh.
Sag’s ihm! Jetzt ist der perfekte Moment.
„Rhett, Liebling …“
Doch in dem Moment schaute er auf die Uhr und erschrak. „Ach du liebe Zeit, es tut mir wirklich leid, Liebling, aber ich habe meinem Vater versprochen, ihn in einer halben Stunde wieder beim Eisenwarenladen abzuholen.“ Er gab ihr noch einen schnellen, flüchtigen Kuss und erklärte: „Eigentlich wollte ich dir die Zeichnungen erst heute Abend zeigen, aber ich konnte einfach nicht abwarten.“ Er rollte die Pläne wieder zusammen und steckte sie zurück in die Papprolle. „Was wolltest du mir denn sagen?“, fragte er und schaute reflexartig noch einmal auf die Uhr.
„Ach, nichts“, antwortete sie lächelnd. „Wir sehen uns ja nachher. Dann können wir reden. Außerdem muss ich jetzt auch weiterarbeiten.“
„Bist du sicher?“
Everleigh lehnte sich an ihn und legte ihre Wange an seine breite Brust.
„Du lässt meine schönsten Träume wahr werden, Rhett Applegate“, sagte sie, woraufhin er sie noch einmal küsste, sie dann eine Armlänge von sich fernhielt und sagte: „Du bist wirklich eine wunderschöne Ablenkung, mein Schatz.“
„Jetzt geh schon. Dein Vater wartet“, sagte sie, sah ihm nach, rannte ihm dann in einem Anfall von Liebe noch einmal hinterher und bekam ihn auf der Straße gerade noch zu fassen.
„Rhett!“, rief sie.
Er drehte sich um und zog sie in seine Arme. „Was ist denn, Liebling?“
„Ich kann nicht warten. Ich kann einfach nicht.“ Ihr Herz pochte so heftig, dass ihr der eigene Herzschlag in den Ohren dröhnte, als sie tief Luft holte und dann sagte: „Ich bekomme ein Baby, Rhett. Im November wirst du Papa.“
Da stieß er einen Jubelschrei aus, nahm sie in die Arme und wirbelte sie herum, und als er sie wieder abgesetzt hatte, grölte er den Menschen, die an ihnen vorbeihasteten zu: „Ich werde Vater. Und das hier ist meine Frau Everleigh. Sie bekommt ein Baby“ – woraufhin die meisten Passanten lachend gratulierten.
Everleigh küsste Rhett noch ein letztes Mal zum Abschied und eilte dann zurück an ihren Arbeitsplatz. Ja, ihr Leben war perfekt, wirklich perfekt. Genauso, wie sie es sich immer erträumt hatte.