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KAPITEL 7 Bruno
ОглавлениеEr hatte Abschiede noch nie leiden können, ganz besonders, wenn es endgültige waren, aber Miss Everleigh hatte ein Recht darauf, dass er ihr die letzte Ehre erwies und auf seine Anwesenheit.
Er stand beim Eingang der Gemeinde, in die er schon als Kind gegangen war, und schaute zu, wie die Trauergäste eintrafen und sich gegenseitig unter Tränen mit Umarmungen begrüßten.
In seiner Kindheit und Jugend hatte er diesen Ort so gar nicht gemocht – seine Mutter hatte ihn zur Sonntagsschule und zur Jugendgruppe geschleppt, bis er endlich ausgezogen und aufs College gegangen war. Heute dagegen waren die vertrauten Gemeinderäume eher tröstlich für ihn.
Jetzt, da er älter war, verstand er das Bedürfnis seiner Mutter nach Gott und der Gemeinde während der Zeit als alleinerziehende Mutter. Gott und die Menschen, die zu ihm gehörten, waren eine gute Option.
Der Abschiedsgottesdienst für Miss Everleigh fand in dem Gottesdienstraum statt, der früher einmal ein Lagerhaus gewesen war, aber eigentlich für die wachsende Gemeinde längst zu klein, und deshalb immer überfüllt war. Die Tore an den ehemaligen Laderampen waren geöffnet, sodass die Januarbrise mit einem Hauch von Himmel hindurchwehte und der Westeingang wie ein Rahmen für den feuerroten Sonnenuntergang wirkte. Die perfekte Ehrung für Miss Everleigh.
Seine Mutter und ihr Team hatten den eher rustikalen Gottesdienstraum in eine Art Wunderland verwandelt, indem sie überall an den Deckenbalken Lichterketten kreuz und quer durch den Raum gespannt und an den Seiten Kerzen aufgestellt hatten.
Vorn auf dem Podium standen die Sänger und Musiker und ein großes gerahmtes Bild von Miss Everleigh aus jüngeren Jahren. Sie war eine Schönheit gewesen. In dem Moment, als er gerade Mr. Smock zunickte, der sich neben ihn stellte, hörte er den Signalton seines Handys. Es war eine Nachricht von der Ohio State University, Todd Gamble, seinem Neuzugang.
Haben Sie früher in LA gearbeitet?
Ja.
Können Sie mich mit Sabrina Fox bekannt machen?
Das war typisch für hochkarätige Neulinge. Sie wollten, dass man ihnen den Mond und die Sterne vom Himmel holte. In einem Jahr hatte bei Watershed einmal ein Junge, der als Top-Kandidat ausgewählt worden war, verlangt, Beyoncé kennenzulernen. Und Bruno hatte es hinbekommen.
Klar. Ich werde sehen, was ich machen kann.
Es war das Eine, wenn ein Spieler materielle Dinge wollte oder Kontakte. Eine Agentur, die genug Geld hatte, konnte alles möglich machen. Ein romantisches Treffen zu zweit war da schon etwas ganz anderes. Es machte Bruno nervös – so wie Herzensangelegenheiten allgemein.
Doch er brauchte unbedingt einen Vertrag mit einem Top-Talent, und wenn Todd ein schönes Starlet kennenlernen wollte, dann würde er ein wunderschönes Starlet kennenlernen.
Außerdem war Sabrina Bruno noch einen Gefallen schuldig, und deshalb war es wahrscheinlich gar nicht so schwer, sie dazu zu bewegen, wenigstens mit dem Spieler zu reden.
Während immer noch Trauergäste eintrafen, tippte Bruno noch eine Nachricht an Todd, einen als All-American ausgezeichneten Abwehrspieler.
Komme Dienstag mit dem Flieger. Privatjet. Schicke eine Limo, um dich vom Campus abzuholen. Bring mit, wen du möchtest, solange wir Zeit haben, auch Geschäftliches zu besprechen.
Cool! Bis dann.
Als er sein Handy wieder einsteckte, tätschelte Mrs. Gunter seine Hand. „Ich weiß, dass du Miss Everleigh sehr gern gehabt hast. Sie war doch wie eine Großmutter für dich, nicht wahr?“
„Ja, das war sie.“
Die Frau sah ihn mit abwartend verkniffener Miene an, als wartete sie darauf, dass er zusammenbräche.
„Sie wird fehlen“, sagte er aber nur.
„Ohne sie wird unser Gebetskreis nie mehr so sein, wie er war. Ach, da kommt ja Letty Macintosh, die muss ich begrüßen.“
Wieder allein, schrieb Bruno seinem Freund, dem Piloten Stuart Strickland, noch rasch eine Nachricht.
Dienstag? Alles klar? Ich weiß das wirklich zu schätzen, Mann.
Wer hätte gedacht, dass der Verlust seines lukrativen Jobs, sein Umzug einmal quer durchs Land in ein Strandapartment und ein beruflicher Neuanfang den Bonus eines Privatpiloten mit sich bringen würden?
Dieser Luxus war Stuarts reichem Großvater zu verdanken.
Stuart antwortete auf seine Nachricht.
Geht klar. Zehn Uhr.
Und da er jetzt das Handy sowieso schon in der Hand hatte, konnte er sich auch ebenso gut gleich mit Sabrina in Verbindung setzen.
Sabrina, ich hab da einen Spieler, der dafür sterben würde, dich kennenzulernen. Ist ein guter Typ. Von der Ohio State. Interessiert? Hoffe, es geht dir gut. Und vergiss nicht, du bist mir einen Gefallen schuldig.
Eigentlich war sie ihm gar nichts schuldig, aber er hatte sie vor ein paar Jahren auf einer Party vor einem betrunkenen Spieler von den LA Lakers gerettet. Sie war jung und unerfahren und ganz neu in der Hollywood-Szene gewesen und hatte sich mit einem riesigen, ausgehungerten Sportler, der es gewohnt war zu bekommen, was er wollte, in eine unangenehme und peinliche Situation gebracht.
Seit damals waren sie gute Freunde.
Bruno ließ seinen Blick durch den Raum wandern und sein Blick fiel auf das Kreuz ganz hinten im Gottesdienstraum. War es angebracht, während des Trauergottesdienstes für eine so liebenswerte und gottgefällige alte Dame um etwas Persönliches zu bitten?
In dem Moment kam seine Mutter zu ihm und berührte ihn sanft am Arm. Sie sah sogar in Schwarz hübsch aus.
„Ich habe uns ganz vorn zwei Plätze freigehalten. Schau doch nur, wie viele Leute gekommen sind.“
„Die Überfüllung verstößt bestimmt gegen die Brandschutzbestimmungen“, sagte Bruno, stieß sich von der Wand ab und seine Mutter hakte sich bei ihm unter.
„Das haben wir geklärt. Chief Hayes von der Feuerwehr sitzt in der ersten Reihe“, entgegnete seine Mutter, und zeigte auf einen ernst dreinblickenden Mann in Ausgehuniform, der sie begrüßte, als sie nach vorn kamen.
„Wirklich großartig, dass Sie das hier organisiert haben“, sagte er zu seiner Mutter und fuhr fort: „Miss Everleigh hat sich um meine Mutter gekümmert, als sie krank war. Ich weiß wirklich nicht, was wir ohne sie getan hätten. “
„Wohl die Hälfte der Menschen hier im Raum haben so eine Geschichte zu erzählen. Als Stone mich damals verlassen hat und dann gestorben ist, war sie für mich ein Fels in der Brandung. Und natürlich hat sie mir dadurch jeden Tag den Weg zu Jesus gezeigt.“
Seine Mutter ging jetzt weiter zu den beiden Plätzen, die sie reserviert hatte, und Bruno setzte sich auf einen davon am Ende der Sitzreihe.
Pastor Oliver bat um Ruhe, und als es schließlich still war, durchbrach ein Signalton von Brunos Handy die Stille.
„Schalte das aus“, sagte seine Mutter und sah ihn dabei so böse an, wie sie konnte. „Die Arbeit kann jetzt wirklich einmal für ein paar Stunden warten.“
Er fügte sich mit einer „Ja-sofort“-Geste, aber in der Spielerberater-Branche gab es so etwas wie „jetzt nicht“ oder „heute nicht“ nicht, denn ein einziger verpasster Anruf konnte einen Klienten kosten, und junge Männer, die Millionen auf dem Konto hatten, warteten auf niemanden.
Bruno ging in Richtung der breiten Doppeltür, während er das Gespräch annahm.
„Mr. Endicott, hier ist Tyvis Pryor. Wie geht’s Ihnen? Ich hoffe, ich störe Sie nicht, weil ja Sonntag ist.“
„Ich bin gerade auf einer Trauerfeier, Tyvis. Kann ich dich später zurückrufen?“
Bruno sah die vielen Autos, die dicht an dicht an der Straße geparkt waren, und dann blieb sein Blick an einer groß gewachsenen, brünetten Frau mit offenen Haaren und weichen Rundungen hängen, die rasch und energisch in seine Richtung gegangen kam.
Irgendwie kam sie ihm bekannt vor. Die selbstbewusste, fast draufgängerische Haltung, aber auch der Hauch von Unsicherheit in dieser Situation, in der sie nicht recht wusste, was auf sie zukam.
„J… ja klar, das wäre großartig. Hören Sie, ich will Sie wirklich nicht stören, aber …“
Tyvis Zögern und seine mangelnde Selbstsicherheit fühlten sich seltsam ungewohnt an und waren sehr untypisch für die Branche. „Ich habe mich nur gefragt, ob Sie schon entschieden haben, ob Sie mich nehmen. Ich verspreche auch, dass ich hart für Sie arbeiten werde.“
Im Hintergrund war jetzt eine Stimme zu hören, die sagte: „Tyvis, ich brauch dich jetzt hier am Grill.“
„Ich muss jetzt Schluss machen, Mr. Endicott.“
„Bruno. Bitte nenn mich doch Bruno.“
„Klar, Bruno.“
Als das Gespräch beendet war, steckte er sein Handy wieder ein und sah, wie die Frau näherkam. Irgendwoher kannte er sie. Aber woher?
Was Tyvis betraf, so tat ihm der Junge wirklich leid, aber Bruno konnte keine Firma aufbauen mit einem Jugendlichen vom Junior College als Grundlage. Es wäre komplett verrückt, ihn unter Vertrag zu nehmen und für sein Training und die Unterhaltskosten zu zahlen, wenn nicht der Hauch einer Chance bestand, dass er es je in eine Profi-Kartei schaffen würde.
Die Frau ging an ihm vorbei und hinterließ einen Duft nach grüner Wiese. In der großen zweiflügeligen Eingangstür blieb sie stehen.
Bruno beugte sich etwas vor, damit er ihr Gesicht sehen konnte, und spürte so etwas wie Vertrautheit.
„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte er sie.
„Nein danke“, antwortete sie schroff, fast kalt und ohne ihn auch nur anzusehen.
Bruno betrachtete noch eine Weile ihr Profil und ging dann zurück zu seinem Platz. Woher kannte er sie nur?
An dem Stehpult aus Metall sprach jetzt Pastor Oliver über Mrs. Everleigh Callahan – für alle, die sie kannten, Miss Everleigh – während gleichzeitig Bilder aus ihrem Leben hinter ihm auf eine Leinwand projiziert wurden.
„Als Everleigh Louise Novak wurde sie am 15. Juni 1929 in Waco, Texas geboren …“
Eine junge, schöne Miss Everleigh lächelte in schwarz-weiß von der Leinwand. Dann wechselte der Beamer zum nächsten Bild – einem verblichenen Farbfoto von ihr auf einer Veranda, die Arme um einen gut aussehenden Kerl geschlungen, der wie John Wayne aussah.
Bruno stupste seine Mutter an und fragte: „Weißt du, wer die Frau da an der Tür ist?“
„Pst!“ Sie legte sich den Zeigefinger auf ihre Lippen und richtete den Blick wieder auf die Bilder aus Miss Everleighs Leben.
Bruno setzte sich so, dass er noch einmal kurz in die Richtung schauen konnte, in der die Frau stand. Sie war noch da, stand mit stoischer Miene an den Türrahmen gelehnt.
„Ich mochte ihre starken weichen Hände“, sagte Pastor Oliver gerade. „Ich wusste immer schon, wenn es Miss Everleigh war, die mir nach der Predigt die Hand auf die Schulter legte, bevor sie sagte: ,Gute Predigt, Pastor.‘“
Als Pastor Olivers Stimme jetzt stockte, ging es Bruno durch Mark und Bein, und plötzlich kam alles wieder hoch, was er an Miss Everleigh geliebt hatte.
Ihre freundlichen Augen und die sanfte Stimme, ihre Geduld und ihre festen Umarmungen. Wie sie jeden Tag nach dem Mittag die Hintertür für ihn offen gelassen hatte, damit er nach der Schule gleich hereinkommen konnte, und wie dann immer schon ein Teller mit selbst gebackenen Cookies und ein Glas Milch auf ihn gewartet hatten.
Wie sie gelacht hatte, wenn er nach dem Football Training mit der gesamten Abwehr der Mannschaft völlig verdreckt nach Hause gekommen war.
„Setzt euch, Jungs, setzt euch doch. Ich backe noch ein paar Cookies mehr. Möchte jemand ein Sandwich?“
Und jedes Mal waren alle Hände hochgegangen.
Er biss die Zähne zusammen und kämpfte mit den Tränen und gegen die Reue, die ihn jetzt packte.
Er hätte öfter aus LA herkommen sollen, um seine Mutter und Miss Everleigh zu besuchen. Aber er hatte immer gedacht, er hätte noch viel Zeit, hatte gedacht, seine Karriere sei wichtiger.
Als seine Mutter jetzt schluchzte und ihr weißes Taschentuch an ihre nasse Wange drückte, nahm Bruno ihre Hand und machte sich auch auf seine eigene Trauer gefasst.
„Sie war bekannt als eine Frau mit Charakter und als Beterin“, fuhr Pastor Oliver fort. „Wenn Miss Everleighs Leben und ihre Gebete auch Einfluss auf Ihr Leben gehabt haben, dann stehen Sie doch bitte einmal auf.“
Daraufhin erhoben sich alle Anwesenden.
Als Nächstes betrat ein junger Mann mit einer Gitarre das Podium, trat ans Mikrofon und stimmte einen Choral an. „Singen Sie doch jetzt mit mir ,The Old Rugged Cross‘, eines von Miss Everleighs Lieblingsliedern.“
„On a hill far away, stood an old rugged cross.“
Die vielen Stimmen, die Melodie und der Text forderten Brunos Entschlossenheit heraus, nicht zu weinen. Er sehnte sich nach seiner alten Freundin, nach den vergangenen Zeiten, nach der Ferien-Bibelschule bei ihr im Garten hinter dem Haus und nach ihrer bedingungslosen Liebe.
Verschämt wischte er sich rasch eine Träne weg, die sich gerade aus seinem Augenwinkel lösen wollte. Aber Tränen änderten nichts. Sie sorgten nicht dafür, dass Wünsche in Erfüllung gingen und erweckten weder Väter noch alte Freundinnen wieder zum Leben.
Miss Everleigh ist deiner Tränen würdig.
Während weiter gesungen wurde, ließ Bruno seinen Erinnerungen freien Lauf, aber genau in dem Moment vibrierte sein Handy wieder, und holte ihn in die Realität zurück.
Er ließ die Hand seiner Mutter los und ging wieder zum Eingang.
„Endicott“, meldete er sich.
„Hier ist Coach Brown.“
Bruno seufzte und schaute nach unten auf den rissigen, fleckigen Beton, der einmal die Laderampe des Lagerhauses gewesen war.
„Ich bin gerade bei einem Trauergottesdienst.“
„Mein Beileid“, hörte er den Coach nur noch sagen und dann war es wieder still in der Leitung.
Bruno nahm an, dass der Coach Tyvis noch einmal hatte anpreisen wollen, indem er beispielsweise damit prahlte, wie der Junge sich nachts zwischen zwei und vier noch ehrenamtlich in einem Kinderheim engagierte.
Er steckte sein Handy wieder ein und stand jetzt nur ein paar Meter von der irgendwie vertrauten Fremden entfernt. Noch einmal ließ er sich zu einem Blick in ihre Richtung hinreißen, und diesmal wusste er plötzlich, wer sie war.
„Beck?“, flüsterte er. „Beck Holiday?“
Sie wandte sich ihm zu. „Ja?“
„Wow, ich glaub’s ja nicht.“ Er ging zu ihr hin und sagte leise: „Wie lange ist das jetzt her? Achtzehn, neunzehn Jahre?“ Ihr ausdrucksloser Blick hätte ihn beinah abgeschreckt, aber er sagte dann trotzdem: „Du bist gekommen. Traurig, das mit Miss Everleigh, oder? Hat meine Mutter dich schon angesprochen?“
Als er sie jetzt aus der Nähe sah, verliebte er sich sofort wieder ein bisschen. Genau wie damals, als er sie zum ersten Mal gesehen hatte. Er war acht gewesen und mit seinem Fahrrad die Memory Lane hinauf- und hinuntergefahren, während sie mit ihrem Vater in Miss Everleighs Vorgarten einen Drachen hatte steigen lassen.
Und dann wieder mit neun, zehn, elf, zwölf, dreizehn und vierzehn. Jeden Sommer hatte er sich ein bisschen mehr in sie verknallt. Und dann kam der 11. September und er hatte sie nie wiedergesehen.
In einer dunkelblauen Stoffhose mit passender Jacke und einer engen weißen Bluse darunter strahlte sie unter ihrer mittlerweile erwachsenen Schönheit auch etwas Herbes, fast Hartes aus.
„Ihre Mutter? Nein. Ich habe mich erst im letzten Moment entschlossen zu kommen.“ Dann schaute sie wieder in den Gottesdienstraum, wo die Gemeinde gerade zum letzten Mal den Refrain sang.
„So I’ll cherish the old rugged cross.“
„Kannst du begreifen, dass sie nicht mehr da ist?“ Er stand neben ihr, ahmte ihre abwehrende Haltung, die verschränkten Arme nach und war gleichzeitig amüsiert und verärgert darüber, dass sein Puls schneller wurde. War er denn immer noch ein bisschen wie ein Teenager? „Als Pastor Oliver angefangen hat zu sprechen, sind bei mir unglaublich viele Erinnerungen wieder hochgekommen“, sagte er und sah sie an. „Erinnerst du dich, als …“
Ihr durchdringender Blick sorgte dafür, dass ihm die Worte im Hals stecken blieben. „Tut mir leid, aber wer sind Sie?“, fragte sie.
Da ließ er die Arme sinken, brachte ein kleines Lächeln zustande und antwortete: „Okay, ich hab’s kapiert. Wir haben uns aus den Augen verloren, aber du hast mir ja auch nicht geschrieben. Moment mal …“ Er drehte sich noch einmal zu ihr um. „Ich habe dir eine E-Mail geschrieben, direkt nach dem 11. September, aber du hast nicht geantwortet. Und dann habe ich dir noch mal geschrieben, als mein Vater gestorben ist.“
Sie schaute ihn finster an und ihre Miene wurde noch härter. „Hören Sie, wer auch immer Sie sind, ich kenne Sie nicht und ich erinnere mich auch nicht an Sie.“
Jetzt war er an der Reihe, finster zu schauen. „Aber du bist doch Beck Holiday, oder? Die Tochter von Dale und Miranda Holiday, die ihre Sommerferien immer bei Miss Everleigh verbracht haben? Die in der Ferien-Bibelschule im Garten neben mir gesessen hat? Die mit mir auf dem Fahrrad die Memory Lane hoch- und runtergefahren ist? Die Miss Everleighs Haus Memory House genannt hat?“
Sie zögerte kurz, nickte dann aber, den Blick wieder geradeaus in den Gottesdienstraum gerichtet. „Ich glaube, die Frau da vorn möchte etwas von Ihnen“, sagte sie dann, und als er in die entsprechende Richtung schaute, winkte ihn seine Mutter nach vorn. Was wollte sie? Aber was auch immer es sein mochte, es konnte jedenfalls nicht so faszinierend sein wie dieser Austausch mit Beck. Bruno sah sie noch einen Moment länger an, bevor er wieder zurück zu seinem Platz ging.
„Die Leute erzählen jetzt von Erlebnissen, die sie mit Miss Everleigh gehabt haben“, flüsterte seine Mutter. „Du solltest auch etwas sagen.“
„Nein danke. Ich bin eher der Typ hinter den Kulissen.“
„Mit wem hast du denn da gerade gesprochen?“
„Mit Beck Holiday.“
Da bekam seine Mutter ganz große Augen und schaute an ihm vorbei nach hinten. „Meine Güte, von den Holidays habe ich seit 2001 niemanden mehr gesehen. Schrecklich, das mit Dale. Ist sie das da?“
„Starr sie nicht so an.“
Seine Mutter zog eine Augenbraue hoch und stupste Bruno an. „Die hat sich aber gut gemacht.“
Pastor Oliver ging mit dem Mikrofon im Raum umher, während Dutzende von Trauergästen aufzeigten, weil sie etwas sagen wollten.
„Trilby, ich weiß, dass du etwas zu erzählen hast“, sagte der Pastor und übergab das Mikro an Trilby Thomas.
„Ich werde versuchen, mich kurz zu fassen“, sagte sie und wischte sich die Augen. „Mein Mann und ich waren ungefähr zehn Jahre verheiratet, als wir irgendwann gemerkt haben, dass wir nur noch stritten, und zwar über alles. Ich habe damals gedacht, dass unsere Ehe mit einer Scheidung enden würde. An einem Abend nach einem besonders schlimmen Streit habe ich mich ins Auto gesetzt und bin einfach in der Gegend herumgefahren, aber schon nach kurzer Zeit fand ich mich in der Memory Road wieder, bei Miss Everleighs Haus. Es goss in Strömen, aber sie muss die Scheinwerfer meines Wagens gesehen haben, denn sie kam mit einem Schirm angerannt und lud mich auf einen Tee ein. Es war, als hätte sie gewusst, dass ich komme. Sie hat mir zugehört, als ich ihr schluchzend erzählt habe, was los war, betete dann mit mir, und hat mich danach wieder nach Hause geschickt mit den Worten: ,So, und jetzt denk daran, dass du kein kleines Schulmädchen mehr bist, sondern eine erwachsene Frau, also benimm dich auch so. Finde eine Lösung und sei nicht so egoistisch.‘“ Viele Köpfe nickten und es war leises Lachen zu hören. „Wie ich sehe, bin ich nicht die Einzige, die diesen Rat bekommen hat. Ich bin also nach Hause gefahren und habe das Problem mit meinem Mann gelöst. Ich werde ewig für ihren Rat, ihre Stärke und ihre Gebete dankbar sein.“
Es war leiser Applaus zu hören, als Trilby sich wieder setzte und das Mikro an Scott Harrell weitergereicht wurde. Bruno drehte sich zu Beck um, die tatsächlich immer noch ein kleines Stückchen vor der Eingangstür stand.
Und dann stand Pastor Oliver plötzlich neben ihm. „Bruno Endicott, warum erzählst du uns nicht auch etwas über Miss Everleigh? Sie war doch deine Nachbarin und Adoptivoma.“
Seine Mutter stupste ihn an als Zeichen, dass er aufstehen solle, und dann drückte ihm der Pastor auch schon das Mikro in die Hand.
„Also …“, sagte er und schaute in den überfüllten Raum. „Wie Pastor Oliver schon ganz richtig festgestellt hat, war Miss Everleigh unsere Nachbarin und meine Adoptivoma.“ Er warf einen schnellen Bick zu Beck. An ihrer Haltung war nichts weicher geworden, und es waren bei ihr auch sonst keine Gefühle für die Frau zu erkennen, der hier die letzte Ehre erwiesen wurde. „Ich habe viel Zeit bei ihr zu Hause verbracht, wenn meine Mutter arbeiten musste. Äh …“ Er holte Luft, sammelte sich, weil seine Gefühle über ihm zusammenschlugen, und versuchte, an eine Geschichte zu denken, die die Leute zum Lachen und nicht zum Weinen bringen würde. Doch alles, was er vor seinem inneren Auge sah, war das liebe, runzelige Gesicht von Miss Everleigh. „Bei ihr war man gut aufgehoben. Sie war warmherzig und voller Mitgefühl und sie machte die besten Chocolate Chip Cookies in der ganzen Stadt.“ Überall wurde zustimmend genickt. „In einem Jahr haben Beck Holiday und ich …“, er deutete nach hinten zur Tür und alle Köpfe drehten sich um, „… einmal fünf Packungen Eis am Stiel verdrückt, damit wir genug Eisstiele für die Ferien-Bibelschule zum Basteln hatten.“ Ihm kamen die Tränen und gleichzeitig musste er bei der Erinnerung schmunzeln. „Miss Everleigh hat über Jesus gesprochen als wäre er jetzt da. Lebendig.“ Er konnte das Beben in seiner Stimme nicht unterdrücken. „Ich war fünfzehn, als mein Vater starb, und als ich es erfahren habe, bin ich aus unserem Haus gestürmt, wütend und völlig durcheinander, und ich weiß auch nicht, wie es kam, aber plötzlich war sie da“ – er schaute zu Trilby – „so als hätte sie es gewusst. Ich habe an ihrer Schulter Rotz und Wasser geheult. Sie hat mir damals gesagt, dass Jesus mich lieb hat und dass ich einen Vater im Himmel habe. Nie werde ich vergessen, wie sich ihre Umarmung angefühlt hat und was für einen Frieden sie ausstrahlte.“ Diese Erinnerung überraschte ihn. Seit siebzehn Jahren hatte er nicht über diesen Tag gesprochen. „Meine Mutter wusste nicht viel über das Leben von Miss Everleigh vor ihrer Zeit in Fernandina Beach, aber sie muss etwas sehr Heftiges erlebt haben, um einen solchen Frieden und so viel Einfühlungsvermögen zu haben. Ich hoffe, ich kann so leben, dass es sie stolz machen würde.“
Er gab Pastor Oliver das Mikro zurück und hatte sich durch sein eigenes Geständnis selbst überführt. So leben, dass …Wirklich? Wann denn? Wenn er ehrlich war, hatte er gar nicht vor, andere über sich selbst zu stellen.
Der Pastor räusperte sich und tätschelte Bruno die Schulter. Gut gemacht.
„Miss Ilene, ich weiß, dass Sie auch eine Geschichte zu erzählen haben …“
Während er sich hinsetzte, lief ihm eine kleine Träne die Wange hinunter, und seine Mutter drückte seine Hand.
Nach ein paar weiteren Zeugnissen kam der Sänger wieder aufs Podium und lud die Anwesenden ein, aufzustehen und mitzusingen.
„You’re a good, good Father.“
Bruno schloss die Augen und sang mit. Das war ein Bekenntnis, das er jetzt brauchte, eine Tatsache, die er für sich persönlich annehmen musste. Gott war wirklich ein guter Vater.
Als der letzte Ton verklang, drehte er sich noch einmal zu Beck um, aber sie war nicht mehr da, und er widerstand dem Drang, zur Tür zu rennen und auf der Straße nach ihr Ausschau zu halten.
Was auch immer passiert sein mochte, nachdem Dale gestorben war, es musste grauenhaft gewesen sein. Das harte Flackern in ihrem Blick sprach Bände.
Aber unter der Härte waren bestimmt auch noch Reste des sommersprossigen, fröhlich dreinblickenden Mädchens vorhanden, das völlig selbstvergessen durch Sonne und Wellen rannte; Reste des Mädchens, dem er das Surfen beigebracht hatte, dem er unter den Lichterketten beim Musikfestival den ersten Kuss gegeben hatte; und das ihn einfach so zum Lachen bringen konnte.
Würde er sie wiedersehen? Vielleicht war zu viel Zeit vergangen. So etwas passierte eben. Menschen veränderten sich und entfernten sich voneinander. Bruno hatte keine Ahnung, ob Beck Holiday überhaupt noch etwas mit dem Mädchen zu tun hatte, das er einmal geliebt hatte. Noch einmal schaute er zur Tür und dann in die verblassende Glut des orangeroten Sonnenuntergangs.
Sie war lange weg gewesen. Vielleicht war es gut, dass sie sich nicht mehr an ihn erinnerte. Welche Kindheitsträume er auch immer mit Beck Holiday gehabt haben mochte, sie gehörten der Vergangenheit an. Und es war besser, wenn es so blieb.