Читать книгу Von Zeitlupensymphonien und Marzipantragödien - Radek Knapp - Страница 11

Die aussterbende Spezies

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Wenn mir etwas in Wien von Anfang an keine Ruhe ließ, dann ein sonderbares Paradoxon. Man hörte zwar überall den Wiener Dialekt, aber sein Erfinder, der echte Wiener, war nirgendwo zu sehen. Ich weiß noch, wie verblüfft ich war, als ich erfuhr, dass der Kellner, der mich aus der Bahnhofskneipe auf die Straße gesetzt hatte, nur eine billige Kopie war. Er kam aus einem ominösen Ort namens St. Pölten, der mit Wien so viel gemeinsam hatte wie ein Ramschladen mit dem Louvre. Und das war nur die Spitze des Eisberges. Sobald ich meine Nachforschungen ausdehnte, stellte sich heraus, dass Wien voller Kopien war, die die Stadt regelrecht überflutet hatten. Besser noch: Je weiter einer von Wien weg auf die Welt kam, umso leidenschaftlicher spielte er das Original. Die Fiaker kamen scharenweise aus dem Burgenland. Die als Mozart verkleideten Kartenverkäufer redeten im Tiroler Dialekt. Ganz zu schweigen von den vielen Fremdlingen, die von überallher kamen und sich überhaupt keine Mühe mehr machten, als Wiener durchzugehen.

Eines Tages wurde ich Zeuge einer pikanten Szene in einem eleganten Innenstadtcafé, die mich nicht mehr in Ruhe ließ. Der Kellner kam aus Amstetten (ich hatte es später nachgeprüft) und bediente gerade ein deutsches Ehepaar aus Hannover.

»Wir hätten gerne einen Kaffee«, sagte der Mann aus Hannover in seiner Naivität, mit seinem Hochdeutsch durchzukommen, und fügte noch unvorsichtigerweise hinzu: »Wenn es Ihnen möglich wäre, ihn uns bald zu bringen, wäre es wunderbar. Unser Bus wartet schon.« Die Ehefrau begleitete sicherheitshalber jedes Wort ihres Ehemannes mit einem freundlichen Lächeln.

Die erstklassig verkleidete Kopie aus Amstetten wartete, bis der Gast ausgeredet hatte, und antwortete derart gekonnt, dass man sie nicht mehr vom Original unterscheiden konnte: »Sich i aus, als hätt i irgendwo an Knopf? Und der Kaffee hat a kan Knopf«, rief er durch den ganzen Raum (Sehe ich aus, als hätte ich irgendwo einen Einschaltknopf? Und der Kaffee besitzt ebenfalls keinen Knopf).

Man hätte die Gesichter des deutschen Ehepaars sehen sollen. Sie würden ab jetzt nur noch mit einem Universalübersetzer ausgehen, wie er auf dem Raumschiff Enterprise üblich war, um den Erstkontakt mit fremden Spezies herzustellen.

Spätestens da begann mir zu dämmern, dass diese zahllosen Fälschungen, die im Umlauf waren, kein Zufall waren. Im Gegenteil. Sie deuteten auf eine beunruhigende Entwicklung hin, die einen schrecklichen Verdacht nahelegte: Der echte Wiener war im Aussterben begriffen. Genauso wie der Borneo-Orang-Utan oder die Seekuh im Amazonas. Bloß während am Aussterben der Orang-Utans die Kurzsichtigkeit und die Habgier der menschlichen Spezies schuld waren, erwiesen sich die Gründe für das Verschwinden der Wiener als viel komplexer. Es begann schon mit den Auswahlkriterien, die noch strenger waren als bei der Astronautenauswahl der NASA. Der Kandidat für den echten Wiener musste beweisen, dass seine Vorfahren sich bereits in der Steinzeit im Prater von Ast zu Ast gehangelt hatten. Gleichzeitig schadete es nicht, wenn seine Großeltern aus Budapest oder aus Tschechien kamen. Hieß man zusätzlich »Böhm« oder »Nagy«, war es wie ein Lottogewinn. Mit einem Namen wie »Schmidt« oder »Schulz« konnte man es gleich bleiben lassen, weil der Verdacht aufkam, dass das Wiener Blut durch deutsches Element verunreinigt wurde. Dieser Spagat dezimierte die Anwärterschaft bereits beträchtlich, aber der andere Grund wog noch schwerer. Er war den neuesten gesellschaftlichen Entwicklungen geschuldet. In den letzten Jahrzehnten hatte der natürliche Lebensraum der echten Wiener rapide zu schrumpfen begonnen. Alte Gast- und Wirtshäuser wichen modernen Lokalen, die nicht nur wie Aquarien aussahen, sondern tatsächlich rohen Fisch oder andere unverdauliche Seltsamkeiten wie »Tofunudeln« oder »Doradeterrine« auftischten. Gleichzeitig mit der neuartigen Nahrung erschien eine neue, raumfordernde Spezies namens »Bobo« auf der Bildfläche.

Wie bei allen Eroberungen freundete sich ein Teil der Einheimischen mit der Lebensweise seiner Peiniger an. Er fing nicht nur an, Hochdeutsch zu sprechen, sondern wurde sogar noch päpstlicher als der Papst, indem er seine eigene Art verleugnete und diese als »Proleten« oder »Ewiggestrige« abstempelte.

Den bereits auf diese Weise beträchtlich dezimierten »Proleten« und »Ewiggestrigen« blieb nichts anderes übrig, als sich an den Stadtrand zurückzuziehen, wo sie von da an in den umliegenden Gemeindebauten ein Schattendasein führten.

Wenn ich also einen echten Wiener in seiner natürlichen Umgebung zu Gesicht bekommen wollte, musste ich noch weiter hinausfahren als bis zum Schönbrunner Zoo. Am ehesten konnte man den echten Wiener in einem »Heurigen« aufspüren. In diese speziell dafür eingerichteten Lokale brach er im Schutz der Dunkelheit am Wochenende auf, wo er in Begleitung von Weißwein sogenannte Hausmannskost zu sich nahm, die in der Innenstadt inzwischen von der Cholesterin-Inquisition verboten worden war.

Aus jener unheilbaren Neugier heraus, die bei mir familiär-genetisch bedingt ist, beschloss ich eines Tages, mir diese aussterbende Spezies aus der Nähe anzusehen. Nachdem ich unter größter Mühe die Adresse eines Heurigen herausgefunden hatte, begab ich mich an einem Samstagabend dorthin. Die Fahrt dauerte zwei Stunden, da ich zwei Mal die Schnellbahn wechseln und noch einen halbstündigen Fußmarsch bergauf hinlegen musste.

Am Ende wurde ich aber fürstlich belohnt. Schon als ich das Lokal betrat, wusste ich, dass ich einen Volltreffer gelandet hatte. Der ganze Raum war voller echter »Proleten« und »Ewiggestrigen«, die zusammengepfercht an großen Holztischen saßen und hocherfreut über etwas, das nur sie verstanden, mit den Köpfen hin- und herwackelten. Vor jedem standen ein Gläschen Weißwein und ein Teller mit ihrer natürlichen Nahrung, einem Kümmelbraten, der vor Fett im grellen Licht des Lokals nur so glänzte. Eine Salzstange ergänzte alles als Vitaminbombe und im Hintergrund zupfte ein Mann, der Kaiser Franz Joseph wie aus dem Gesicht geschnitten war, an der Alpenharfe, auch Zither genannt.

Ich nahm diskret in einer abgeschiedenen Ecke Platz und bestellte ein Glas naturtrüben Apfelsaft. Hätte ich einen »Sturm« bestellt, wären meine Nachforschungen nach einem Glas beendet gewesen. Dieses beliebte Wiener Getränk ging zwar runter wie Limonade, lähmte aber bereits nach zwei Gläsern das gesamte zentrale Nervensystem.

Anschließend verwandelte ich mich in eine menschliche Antenne, die jeden kleinen Impuls und jedes Signal, das von meinen Forschungsobjekten ausging, minutiös aufnahm. Bereits nach einer halben Stunde konnte ich erste aufschlussreiche Verhaltensweisen und artspezifische Marotten des echten Wieners festmachen. Zum Beispiel war der am häufigsten ausgesprochene Satz eine Frage, die lautete: »Trinken wir noch ein Gläschen?« Sie wurde dann auch prompt mit dem zweithäufigsten Satz beantwortet: »Aber nur eins bitte.« (Alle Sätze wurden von mir automatisch ins Deutsche übersetzt.)

Während auf diese Weise eine Weinflasche nach der anderen »vernichtet« wurde, erörterte man Themen aus der Politik, Wirtschaft oder privater Natur. Für eine Spezies, die freiwillig die Isolation gewählt hat, waren die Wiener überraschend gut auf dem Laufenden.

Einen Tisch weiter saß eine Gruppe von vier Männern über sechzig, die sich als eine ethnologische Goldgrube herausstellte. Ein Mann mit einem unnatürlich geröteten Gesicht, das einen nicht mehr weit entfernten Schlaganfall ankündigte, hatte sich zum Beispiel auf die politische Lage im Lande spezialisiert. Er gab ständig solche Sätze von sich wie »Unsere Politiker sind nichts als überbezahlte Kaffeeautomaten, die einen Einschalt- und Ausschaltknopf haben, und darunter ist ein riesiger Schlitz, wo man das Schmiergeld reinwirft«.

Sein Tischnachbar, ein dünner Mann mit einem traurigen Gesicht, hob hingegen immer wieder das Thema auf eine universelle Ebene. »Die Kaffeeautomaten machen mir weniger Sorgen als mein Bub«, beschwerte er sich, um das Problem in seiner ganzen Tragweite aufzuzeigen: »Wenn ich meinen Buben bestrafen will, muss ich seinem Computer eine Watsche geben. So weit sind wir schon. Das eigene Kind zu schlagen hilft heute überhaupt nichts mehr.«

Während man weiter derartige sozialkritische und kulturelle Erkenntnisse austauschte, griff man regelmäßig zum Glas, und die routinierte Bewegung, mit der man das tat, verriet, dass hier Leute am Werk waren, die ihre Situation identisch einschätzten: Wir befinden uns in einer Welt, vor der uns nur noch ein Besäufnis retten kann.

Nach zwei Stunden, als ich bereits selber einen Kümmelbraten verspeist und eine ganze Flasche Apfelsaft ausgetrunken hatte, war mein Wissen über die Wiener so weit befriedigt, dass ein Teil von mir nichts mehr dagegen hatte, in diese wohlige Atmosphäre einbezogen zu werden. Offenbar stand mir mein Wunsch ins Gesicht geschrieben, denn plötzlich prostete mir der Mann mit dem unnatürlich geröteten Gesicht zu und rief über den Tisch hinweg: »Du bist aber nicht von hier, oder? Das sieht man nämlich auf einen Kilometer.«

Voller Bewunderung über seine Fähigkeit, trotz überdurchschnittlichen Alkoholkonsums so treffsicher einen Fremdkörper auszumachen, rief ich zurück: »Das stimmt. Aber leider kann nicht jeder von hier sein.«

Da ich aber noch zu gut das Ehepaar aus Hannover in Erinnerung hatte, fügte ich schnell hinzu: »Aber ich komme nicht aus Deutschland.«

»Na immerhin«, nickte der Mann mit dem geröteten Gesicht und erkundigte sich: »Und wie gefällt dir Wien?«

»Sehr gut«, antwortete ich.

»Aber nur, weil du blind bist«, mischte sich sein Nachbar ein, der vorhin bedauert hatte, seinen Nachwuchs nicht mehr ohrfeigen zu dürfen. Er machte eine Geste, die das ganze Lokal miteinschloss: »Wir Wiener sind nämlich schreckliche Leute. Wir schauen niemandem auf der Straße in die Augen und sehen trotzdem alles.«

Darauf herrschte kurzes Schweigen in der Runde, wie immer, wenn man etwas verdauen muss, das größer als der eigene Magen ist. Ich schloss mich dem taktvoll an, um mich einzuschmeicheln: »Trotzdem bin ich froh, dass ich nicht auf der Straße, sondern hier bin«, sagte ich.

»Nicht blöd für einen, der nicht einer von uns ist«, stimmte mir der Mann mit dem unnatürlich geröteten Gesicht zu. Er hob sein Glas und sagte einen Trinkspruch auf, den man neben den Uffizien und den Niagarafällen zum Weltkulturerbe erklären sollte: »Dann lasst uns zusammen ein letztes Fluchtachterl kassieren, bevor man uns endgültig einkassiert.«

Das brauchte man mir nicht zweimal zu sagen. Ich hob mein Glas Apfelsaft und trank es in einem Zug aus. Ein paar Stunden später verließ ich gut gelaunt Arm in Arm mit meinen neuen Kumpanen das Lokal und schwor mir feierlich zwei Dinge: Am nächsten Wochenende wieder herzukommen. Und niemandem die Adresse dieses einzigartigen Refugiums zu verraten. Sogar wenn mich die CIA oder der KGB foltern sollte. Das war das Mindeste, was ich für eine aussterbende Spezies tun konnte.

Von Zeitlupensymphonien und Marzipantragödien

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