Читать книгу Von Zeitlupensymphonien und Marzipantragödien - Radek Knapp - Страница 9
Zeitlupensymphonien und Marzipantragödien
ОглавлениеMeine Reise nach Österreich begann an einem lauen Abend in Warschau. Ich brütete gerade über der Landkarte Europas und überlegte, wohin ich reisen sollte. Ganz Polen war im Reisefieber. Meine Landsleute fuhren scharenweise nach Westeuropa, um zum ersten Mal echtes Geld zu verdienen oder gleich für immer im Paradies zu bleiben. Ich hatte meine eigenen Pläne. Ich war weder an Geld noch an der Emigration interessiert. Ich wollte den neuen Kontinent Westeuropa erforschen so wie einst Marco Polo China oder Amundsen den Südpol. Dafür brauchte ich erst mal ein großes Land und schwankte zwischen Frankreich und Deutschland. In Frankreich lebte schließlich der Held meiner Kindheit, d’Artagnan. Und meinem Landsmann Chopin gefiel es unter den Franzosen so gut, dass er dort sogar starb. Für Deutschland sprach die geografische Nähe und die Tatsache, dass dort eine Tante von mir lebte, was für einen Forscher, der kein Geld hatte, ein gewichtiges Argument war.
Während ich diese Probleme hin und her wälzte, kam mein Großvater mit seinem abendlichen Kräutertee herein. Er bemerkte die Europakarte auf dem Tisch und schätzte blitzschnell die Situation ein.
»Immer noch nichts gefunden?«, erkundigte er sich mit einem ironischen Lächeln.
»Ich bin nahe dran«, log ich. Das Letzte, was ich brauchen konnte, waren die Ratschläge eines Mannes, der vor dem Zweiten Weltkrieg zur Welt kam und sich von Kräutertee ernährte.
»Ich hätte einen Vorschlag, der deine Probleme mit einem Schlag löst«, sagte mein Großvater. »Schon mal was von Österreich gehört?«
»Österreich?«, staunte ich. »Und ob. Und zwar, dass dort nichts los ist.«
»Ganz im Gegenteil«, widersprach mein Großvater, »dort hat man die Psychoanalyse erfunden, um sich vom jahrhundertelangen Walzertanzen zu erholen. Und mit Schnee macht man dort mehr Geld als anderswo mit Erdöl. Ganz zu schweigen davon, dass dort der weltgrößte Komponist zur Welt kam«, er hob bedeutungsschwanger den Finger, »auch wenn in Amerika jeder Dritte immer noch glaubt, Mozart hätte unlängst eine olympische Medaille im Riesenslalom geholt.«
»Ich fürchte, ich habe kein Interesse am österreichischen Schnee oder an Mozart«, erwiderte ich höflich, »außerdem ist Österreich für das, was ich vorhabe, zu klein.«
»Wieder falsch«, widersprach mein Großvater und machte eine Handbewegung, als würde er etwas zusammenpressen, »würde man die österreichischen Berge platt drücken, wäre Österreich so groß wie Deutschland und Frankreich zusammengenommen. Außerdem misst man ein Land nicht in Metern. Die Österreicher schauen auch nicht dauernd nach links oder rechts, sondern graben in die Tiefe unter ihren Füßen. Sie haben die besten Katakomben, originelle Keller und überhaupt ist dort unterirdisch viel los.«
»Das hört sich nett an. Aber mich interessiert trotzdem, was so alles auf der Oberfläche los ist.«
»Dann zeige ich dir mal was.«
Mein Großvater suchte etwas auf der Europakarte und deutete auf etwas, das wie ein kleiner verschütteter Kaffeefleck aussah.
»Auf diesen sechs Quadratzentimetern leben zurzeit acht Millionen Leute, die ziemlich guter Laune sind. Hier gibt es genug Platz für Hunderte Städte, große Museen und ein Ding namens Riesenrad. Und obendrein noch für Tausende Kaffeehäuser und eine Menge Skilehrer.«
Mein Großvater hob wieder den Finger.
»Von Zeitlupensymphonien und Marzipantragödien ganz zu schweigen.«
»Und was soll das sein? Diese Zeitlupensymphonien und Marzipantragödien?«, machte ich mich über seine Begeisterung lustig. »Österreichische Kochrezepte?«
»Das könnte ich dir verraten. Aber muss ein Forscher so etwas nicht selber herausfinden?«
»Kommt nicht infrage«, machte ich reinen Tisch, »ich fahre nicht in ein Land, das die Form eines verschütteten Kaffeeflecks hat.
Mein Großvater ging wieder zur Tür: »Mach, was du willst. Es ist ja schließlich nicht wichtig, wohin du fährst, sondern wie viele Überraschungen man dir dort bereitet. Wobei Österreich dich diesbezüglich bestimmt ganz schön auf Trab halten würde.«
Er drehte sich ein letztes Mal um: »Aber eins rate ich dir. Wo immer du auch landest, kauf dir ein Heft und notier alles, was dir dort widerfährt. Auf Reisen funktioniert das Gedächtnis schlechter und die Uhren laufen viel schneller als zu Hause. Mit einem Kugelschreiber und einem Notizbuch kannst du beides in Schach halten.«
Er verließ das Zimmer und ich betrachtete noch einmal den kleinen, kläglichen Kaffeefleck auf der Europakarte. Ich schüttelte den Kopf über die Naivität meines Großvaters. Wie konnte er nur glauben, dass er mich dazu bringen würde, ein Land zu erforschen, das so klein war, dass sich nicht einmal das Wort »Österreich« darauf ausging? Und was bedeutete dieser Unsinn von Zeitlupensymphonien und Marzipantragödien?
Nein, nach Österreich würden mich keine zehn Pferde kriegen. Das war so sicher wie das Amen im polnischen Gebet. Ich machte das Licht aus und ging zu Bett. Erstaunlicherweise schlief ich zum ersten Mal seit Tagen gleich ein.
Zwei Wochen später stand ich auf einem Bahnhof in Wien. Und so hat alles begonnen.