Читать книгу Ensō - Radka van Bashuisen - Страница 6

**3**

Оглавление

Die Jahre vergehen, vielem Neuen begegne ich auf meinem Weg, der unendlich zu sein scheint und das bereits Erlebte in Vergessenheit geraten lässt. Viele Gedanken und Fragen schwirren in meinem Kopf herum. Die Suche nach den Antworten ist mir aber zu anstrengend und so widme ich mich lieber dem puren körperlichen Vergnügen. Es hat schon einen besonderen Reiz, sich dem Spaß, ohne viele Gedanken, hinzugeben. Wir sind so jung, so hübsch und fangen an, so unterschiedlich zu werden. Die Körperformen verändern sich jetzt rasant und auffallend. Oft sitze ich in der Schule ganz vertieft in der Beobachtung der Mitschüler, deren Gesten und Mimiken. Studiere jede ihrer Bewegungen. So einzigartig ist jeder für sich und so sehenswert. Keiner gleicht dem anderen.

Die ersten verlieben sich und trennen sich wieder, ganz schnell wechseln unsere Sympathien. Das, was noch gestern erstrebenswert gewesen ist, stellt sich am nächsten Tag als uninteressant heraus. Wir sind so sorglos, so ausgelassen.

Das Highlight des Schuljahres steht an. Die Skifreizeit. Die berühmte Skifreizeit wird geplant und organisiert. Jeder von uns freut sich, schon allein deswegen, weil wir nach langer Zeit wiedermal für ein paar Tage nicht nur die Schulbänke, sondern auch die Familien verlassen werden und uns auf ein nicht nur sportlich orientiertes Abenteuer begeben. Für mich ist es absolutes Neuland, ich bin aber Gott sei Dank nicht die Einzige, die mit ihrem grandiosen „Nichtkönnen“ glänzen wird.

Alles ist gepackt, der Abschied von den Eltern fällt keineswegs schwer, schließlich hat man sie sonst jeden Tag um sich und somit ist Verzicht dieser Art sehr willkommen. Also, auf geht`s auf die Ski-Klassenfahrt.

Kaum in den Bergen angekommen, geht der Streit schon los, wer mit wem und wo übernachten wird. Es gibt zwei Optionen: Im Hotelgebäude selbst oder in kleinen Holzhüttchen auf dem angrenzenden Hotelgelände. Wir warten mit meiner besten Freundin entspannt ab, bis sich alle anderen ihre Köpfe eingeschlagen haben, und lassen uns überraschen, wohin uns beide das Unterkunft-Schicksal verschlägt. Und so, wie es offensichtlich sein soll, bleiben wir tatsächlich übrig und müssen uns ein Holzhäuschen mit zwei anderen aus der Parallelklasse teilen. Man kennt sich zwar kaum, aber in unserem Alter fällt das Kennenlernen nicht allzu schwer. Also holen wir unser Gepäck und richten uns gemütlich in unserer vorrübergehenden Bleibe ein. Wie süß gemacht: Hinter dem kleinen Eingangsbereich, wo unsere Ski und Schuhe mit den Jacken Platz finden, trennt ein kleiner Flur, der mit einem Bad endet, die beiden Schlafräume. Viel Platz haben wir zwar nicht, aber wozu auch. Den ganzen Tag sollen wir uns ja dem Skifahren widmen und nur zum Schlafen reicht es allemal aus.

Im Häuschen nebenan schlafen Jungs, das haben wir beim Lüften schon festgestellt und uns von Fenster zu Fenster freundlich begrüßt. Eins ist damit absolut klar: Die Fensterläden müssen wir abends schließen, damit sie uns nicht beim Umziehen beobachten können. Wir kennen ja unsere Pappenheimer. Wo sie nur können, versuchen sie ein Stück nackte Haut zu erblicken. Es sind zwar keine Jungs aus unserer Klasse, aber alle Männer sind gleich. So viel ist uns in unseren jungen Jahren schon zu Ohren gekommen. Alles wird sofort erprobt. Fensterläden zu, eine zieht sich drinnen aus und die andere stiefelt im Schnee ums Häuschen, um zu schauen, ob man tatsächlich nichts sehen kann. Die Ritzen im Holz sind nämlich schon ordentlich groß, da weiß man nie. Es geht gerade so, lautet das Ergebnis der Umziehstudie, man müsse schon nah am Fenster stehen und direkt durch die Ritzen schauen, um etwas mitzubekommen. Aber wer weiß, wie neugierig unsere Nachbarn sind. Daher beschließen wir, sicherheitshalber auch noch das Licht auszuschalten. So soll es sein! Wir mögen uns zwar schon und werfen auch ab und zu das eine oder andere Auge aufeinander, aber das Thema der Intimität ist schon ein besonderes, fast ein heiliges.

Der erste Tag auf dem Berg, mit den nervigen Skilehrern und Unmengen an Schnee bei minus 15 Grad, geht endlich dem Ende zu. Definitiv nichts für mich. Ich kann es kaum abwarten, endlich zurück in unserem Minihäuschen angekommen zu sein und mich den nassen und kalten Klamotten entledigen zu können. Ich glaube, Skifahren wird nie meine Lieblingssportart werden und ebenso Winter nicht meine bevorzugte Jahreszeit.

Wieder zurück in der Hütte ziehen wir uns im Halbdunkeln um und eilen in unseren schicken Freizeitanzügen zum Abendessen ins Hauptgebäude. Jemand ruft uns nach, ob wir nicht warten und gemeinsam durch die, mittlerweile ganz in Dunkelheit versunkene Schneelandschaft stiefeln wollen. Niemand anderes ist es als unsere Hausnachbarn, vor denen wir uns so sicher hinter den verschlossenen Fensterläden verstecken. Naja, irgendwie komisch, aber warum denn nicht. Da wir uns schon am Fenster beim Lüften „näher“ kennengelernt haben, spricht doch eigentlich nichts gegen den gemeinsamen Weg. Und ab da warten wir jeden Morgen und jeden Abend aufeinander und laufen immer zusammen zum Essen. Und von Tag zu Tag fühlt es sich angenehmer und vertrauter an.

Die Tage am Berg und das langweilige Anstehen am Skilift wird durch die Anwesenheit unserer lustigen Nachbarsjungen viel erträglicher. Und so lernen wir uns besser kennen. Die anderen beiden Mädels aus unserer Hütte sehen wir nämlich kaum. Die sind in der Tat nicht unser Fall. Wir begrüßen uns zwar morgens mal im Flur auf dem Weg zum Bad, aber mehr auch nicht. Und so verbringen wir die Abende zwar zu viert, nicht aber mit unseren Hüttenmädels zusammen. Diese gesellen sich zu ihren Klassenfreundinnen und überlassen uns das Häuschen ganz allein. Die Gelegenheit macht bekanntlich Diebe, da es hier aber kaum was zum Stehlen gibt, nutzen wir diese Zeit anders und laden Abend für Abend unsere Sympathisanten zu uns ein. Unterhalten uns über alles Mögliche, lachen viel und genießen die doppelte Zweisamkeit. Im Nachhinein weiß zwar keiner mehr, was eigentlich unsere Themen waren, es spielt aber auch gar keine Rolle. Das Zusammensein ist die Prämisse. Und die Atmosphäre intensiviert sich von Mal zu Mal. Wir freuen uns regelrecht aufeinander und können es kaum abwarten, dass das lästige und anstrengende Skitraining vorbei ist und wir wieder unseren entspannten Abend zu viert genießen dürfen. Eine gewisse Aufregung spürt man schon in der Luft, wenn unsere Gesprächspartner hereinkommen. Ein besonderer Moment eben. Wir möchten ihn aber nicht missen und erfinden lieber jeden Abend Ausreden, um nicht an den gemeinsamen Unternehmungen der Klasse, wie Tischtennis oder Kartenspielen im Gemeinschaftsraum, teilnehmen zu müssen. Uns ist eben nicht danach. Wir genießen die kleine Runde, die irgendwie immer kuscheliger wird. Heute haben wir sogar die einzelnstehenden Betten zusammengeschoben, um gemütlicher beieinander sitzen zu können. Ein Zeichen vielleicht? Eine Aufforderung zu mehr Nähe? Was soll aber daraus werden? Schon nett, aber auch etwas angsteinflößend. Sind wir nicht zu weit gegangen? Anfangs ist alles ziemlich locker, wie immer, aber langsam löst sich die Distanz auf. Die Spannung steigt. Wir schauen uns immer länger und tiefer in die Augen, still und so intensiv, dass einem davon heiß wird. Was passiert mit uns? Wohin führt diese knisternde Stimmung? Wie spät ist es überhaupt? Sollen wir nicht lieber schon schlafen gehen? Die Uhr sagt ja, das Gefühl will aber weitermachen. Draußen schneit es so stark wie schon seit Tagen nicht mehr. Man sieht vor lauter Schneeflocken in der Luft die Dunkelheit nicht mehr. Unser Besuch reagiert auf den Vorschlag, schlafen zu gehen, mit Unmut. Wir werden sie bei diesem Wetter doch nicht im Ernst vor die Tür schicken? Ein wenig Mitleid sollen wir zeigen und noch etwas abwarten, bis der heftige Schneefall etwas nachlässt. Irgendwie nachvollziehbar, denken wir und schauen uns verständnisvoll an. Aber auch die Müdigkeit macht uns langsam zu schaffen. Unsere Blicke treffen sich erneut und die Hitze, die sie ausstrahlen, ist langsam im ganzen Raum zu spüren. Eigentlich ein Wunder, dass die Hütte kein Feuer fängt bei den Funken, die zwischen uns sprühen.

Zustimmung. Wir wollen nicht so sein. Sie dürfen noch eine Weile bei uns auf die Wetterbesserung warten. Aber sobald es aufhört zu schneien, müssen sie gehen. Zusammen beschließen wir jedoch, uns der Müdigkeit wegen jetzt schon hinzulegen. Reden kann man auch in dieser Position. Der lange Tag am Berg, alle Muskeln schmerzen, selbst die, von denen man gar nicht wusste, dass man diese besitzt. Im Liegen entspannt man doch etwas leichter. Und wer weiß, wie lange es noch schneien wird. Einer schlägt vor, um auch noch den müden Augen etwas Gutes zu tun, das Licht auszuschalten. So machen wir es und liegen alle Vier in vollkommener Dunkelheit auf unseren zusammengeschobenen Betten. Vom Entspannen kann hier aber keineswegs die Rede sein. Und Augen zu schließen, schaffen wir auch nicht. Die Atmung wird immer schneller und schneller wie nach einem Dauerlauf. Alles in uns spielt verrückt. Der Körper, die Gedanken und auch die Wahrnehmung. Niemand sagt etwas, aber wir alle verstehen. Die Fensterläden sind noch offen, wir schauen stillschweigend den lautlos fallenden Schneeflocken zu und warten, was passiert. Ein Kuss in meinen Haaren ist das erste, was ich spüre. „Du duftest so gut“, flüstert er leise und nimmt mich dabei an der Hand. Streichelt jeden meiner Finger, einzeln, ganz sanft. „Darf ich dich auch auf die Wange küssen?“, flüstert er weiter. In mir dreht sich alles, die innere Hitze ist kaum auszuhalten. Ich fühle mich auf einmal so unsicher und weiß eigentlich gar nicht, was ich will. Was soll ich jetzt antworten? Das erste, was mir einfällt: Schneit es überhaupt noch? Vielleicht können die jetzt endlich zurück in die eigenen Betten gehen! Er streichelt weiter über meine Haare und unterbricht damit meine unsinnigen Wetter-Gedanken, die in der Tat kaum zur Situation passen. „Darf ich deine Lippen berühren? Nicht küssen, nur berühren“, lautet seine nächste Frage. Ich bin so verwirrt, dass ich kein Wort herausbringe. Was passiert hier gerade? Wir haben uns doch immer nur unterhalten. Und jetzt? Ich liege wie gelähmt neben ihm und überlege, was wohl die anderen beiden so machen. Ich traue mich aber nicht, mich zu bewegen und nach ihnen zu suchen, aus Angst, jemanden vielleicht an der falschen Stelle zu berühren. Völlig außer Atem stimme ich zu, er darf meine Lippen berühren. Seine Finger sind zart, umkreisen meine Lippenkontur, als ob er sie malen würde. Immer wieder aufs Neue. Ich zittere vor Aufregung. Es fühlt sich so gut und schön an. Auf seine Frage, ob er mich endlich küssen darf, flüstere ich mein leises „Ja“. Er kommt mir so nah, so beängstigend nah, aber ich will es, es fühlt sich so gut an. Seine heißen Lippen berühren die meinen, eine ungeahnte Wärme durchflutet meinen ganzen Körper. Die Augen fallen zu und ich genieße mit jeder Zelle meines Körpers diesen wunderschönen Augenblick der innigen Verbindung. Seine Hände streicheln mich weiter und ich traue mich auch endlich, ihn zu berühren. Während des ununterbrochenen Küssens ziehen wir uns ein wenig die Oberteile hoch. Jede Nacht friere ich wie ein Schneider unter meiner Decke, doch jetzt glühe ich wie ein heißer Lavastein und schmelze regelrecht unter seinen Händen. Die wahnsinnig schöne und wohltuende Energie durchströmt unsere Körper, er küsst mich am Hals und Dekolleté, berührt ganz zaghaft meine Brust und wartet, wie ich darauf reagiere. Ich will es eigentlich gar nicht, aber es ist so schön. Mein Kopf blockiert das ganze Geschehen. Ich kann nicht weitermachen. Es soll nicht sein. Wir müssen aufhören. Ich nehme seine Hand von meiner Brust, küsse ihn dabei aber weiter und flüstere ihm ins Ohr, dass wir jetzt langsam schlafen sollten. Er streichelt über mein Haar ganz fein, umrundet meine Lippenkonturen mit seinen weichen Fingern und legt sich, die Bettdecke dabei über uns ziehend, eng an mich heran. Wir schlafen aneinander gekuschelt langsam ein. Das ein oder andere Küsschen und zarte Berührungen wiegen uns in den wohlverdienten Schlaf, wie auch die anderen beiden Bettbewohner. Es schneit und schneit weiter, der Winter hat doch was Schönes an sich. Das sind meine letzten Gedanken, bevor ich mich in der Dunkelheit völlig verliere.

Ensō

Подняться наверх