Читать книгу Passion Laufen - Rafael Fuchsgruber - Страница 21

Оглавление

DER GRÖSSTE TRIUMPH. ODER: WIE MARCO OLMO DIE ZEIT STILLSTEHEN LIESS

Zahlreiche Szenen, ohne viele Worte. Trocken. Schlechtes Wetter. Gutes Wetter. Atmosphärisch. Über das Leben. Die Höhen und die Tiefen. Valley deep – Mountain high. Bergläufer halt. Ich finde ja seit jeher, dass das Unspektakuläre dem Laufen sehr gut steht – auch den Läufern. Man kann ihnen viele verrückte Dinge nachsagen, aber es sind anständige Leute.

Im gleichen Jahr startet Marco Olmo beim Ultra-Trail du Montblanc (UTMB) über die Strecke von 165 km mit 9.000 positiven Höhenmetern. Ein Lauf der Superlative: eine vollständige, durch drei Länder (Frankreich, Italien und die Schweiz) führende Runde um das Montblanc-Massiv – sieben Täler, 71 Gletscher, 400 Gipfel. Und Marco Olmo wird kurz vor seinem 59. Geburtstag Weltmeister beim Ultra-Trail du Montblanc.

Damals sieht der Gewinn dieses Titels für mich so aus, als könnte Marco die Zeit stillstehen lassen. Als gäbe es eine reelle Chance, die Lebenszeit, den Prozess des Älterwerdens, in die Irre zu führen. Er wird Weltmeister – nicht nur in seiner Altersklasse, sondern im Gesamtklassement. Der Zweitplatzierte ist eine knappe Stunde langsamer und fast zwanzig Jahre jünger. Leute! Wir sprechen nicht von Dart oder Dressurreiten. Weltmeister im Laufen, mit knapp 59 Jahren auf einer der schwersten Strecken überhaupt. Mein Respekt – unser Respekt – dafür ist zeit- und grenzenlos.

Bevor wir unser Treffen in Mailand angehen wollten, war ein Besuch zuhause bei ihm und seiner Frau Renata in den Alpen geplant. Allerdings hatte mich eine ausdauernde Lungenentzündung und in der Nacht vorm Abflug zusätzlich ein Norovirus so aus den Latschen gehauen, dass nix mehr ging. War ich vorher durch die Lungenentzündung etwas matschig, hatte der Virus meinen Aggregatzustand endgültig Richtung Ursuppe verschoben. Mein Hirn funktionierte nur noch nach ausdrücklicher Aufforderung. Das sind die Tage, an denen ich mich diebisch freue, wenn ich ein Zimmer betrete und noch weiß, was ich eigentlich da will. Ich versuchte alles und war morgens noch ganz früh beim Doc, aber auf dem Weg dorthin hatte ich schon gemerkt, dass selbst Autofahren grenzwertig ist. In Italien hätte ich vom Flughafen Turin noch 200 km mit dem Wagen in die Berge fahren müssen. Das war einfach kein guter Plan. In meinen Überlegungen, wie man mit Norovirus am besten fliegt – außer am besten natürlich gar nicht –, hatte ich grundsätzlich den obligatorischen Spuckbeutel oder auch die Kotztüte im Flieger einkalkuliert. Mein Arzt Doktor Maylahn klärt mich aber über zwei Dinge auf: »Tut man nicht in Ihrem Zustand, und wenn es ein unruhiger Flug wird, müssen sie aus Sicherheitsgründen angeschnallt auf ihrem Sitz bleiben. Das setzen die Flugbegleiter gegebenenfalls physisch durch.« Okay! Beim Norovirus liegen die Wörter Überfall und Durchfall eng beieinander und erfordern schnelles Handeln. Soweit hatte ich noch nicht gedacht, und wir wollen hier nicht weiter »ausmalen«, was da in dem Sitz hätte passieren können.

Somit komme ich eine Woche später zu unserem Treffen nach Mailand. Paolo Zubani – der italienische Repräsentant des Marathon des Sables – ist seit 20 Jahren ein sehr guter Freund von Marco und dolmetscht, da meine mittlerweile 20 Worte Italienisch nicht reichen werden. Paolo ist selbst ein alter Hase und startet dieses Jahr zum 29. Mal beim MdS. Er weiß fast alles über Marco. Das ist gut, beim Gespräch wird das noch hilfreich sein, da Marco ein ehrenwerter, großer Mann der Berge, des Laufens ist, aber auch ein Gentleman, der manchmal gar nicht so gern und wenig über sich spricht. Das ist ein feiner Charakterzug. Macht ein Interview oder ein Gespräch im ersten Moment jedoch nicht einfacher.

Paolo verspätet sich. Das macht nichts. Als ich ankomme und Marco treffe, ist es wie immer. Er steht da vor dem riesigen Hauptbahnhof und wir begrüßen uns. Nur dass wir uns noch nie getroffen haben, wenn man mein Beobachten aus der Ferne in Zagora mal außen vor lässt. Aber es ist alles ganz vertraut. Das passiert gern unter Läufern. Hatte ich mit Jan Fitschen genauso. Man kennt sich nicht und man kommt sich vor, als hätte man sich nur ein paar Wochen nicht gesehen. Etwas aufgeregt bin ich allerdings schon, was man daran merkt, dass ich sofort losplappere. »Ciao – come stai? Bel tempo – a freddo!« Blieben meinerseits noch 13 Wörter über, die ich dann auch schnell verbraucht hatte. Mein Wortschatz war aufgebraucht und ich befreit. Wir verstanden uns von nun an prächtig. Ist mir ja immer sehr unangenehm, wenn ich eine Sprache nicht kann. Dann lieber vollkommen wild mit Händen und Füßen, mit Draufzeigen oder internationalen Wörtern und Gesten. Kauen für Hunger, Mittelfinger für die Politik etc., und wenn gar nix mehr geht, stelle ich fest, dass einige Worte aus meinem Lateinwortschatz helfen. Ich kann mir ja nix merken – aber manchmal den totalen Schwachsinn wie z.B. Lateinvokabeln von vor 40 Jahren. Beim Gespräch über Lieblingstiere wird mir zwei Stunden später das englische Wort für Esel fehlen. Das Lateinische habe ich aber gerade parat: Asinus. Wurde sofort verstanden, und wir kommen überein, dass Esel ganz wunderbare Tiere sind. Das ist halt so – treffen sich zwei alte Männer, die das Laufen lieben. Ohne Worte – die Kommunikation geht einfach weiter. Wir gehen auch weiter. Wir suchen uns ein kleines Restaurant und unterhalten uns auf dem Weg dorthin. Ein wenig – nicht viel. Wozu auch?

Paolo stößt dazu, und wenn es nicht im Winter mitten in Mailand gewesen wäre … ich glaube, wir hätten gemeinsam einen ganzen langen Nachmittag im Spätsommer auf einem Marktplatz in den Alpen sitzen können. Wir hätten Espresso, Wasser, leichten trockenen Weißwein und vielleicht einen Pastis zu uns genommen. Wir hätten die vor uns liegende Piazza beobachtet. Wir hätten vorbeifahrende Autos und Motorräder gesehen, spielenden Kindern zu- und Frauen hinterhergeschaut, und für die Kommunikation hätten meine zwanzig Worte italienisch gereicht – wahrscheinlich für uns alle Drei.

Ich liebe diese Momente, wenn man – oder Männer – zusammensitzt und es braucht keine Gespräche. Alle fühlen sich trotzdem sehr wohl. Aber für ein Interview ist das eine denkbar ungünstige Ausgangssituation.

Ich habe Fragen über Fragen, und es ist mir fast peinlich, sie zu stellen, aber ich will unbedingt die Geschichte des Marco Olmo erzählen. Hier in diesem Buch. In dem Moment, wo wir beschließen offiziell anzufangen, fällt mir schlagartig der Titel für ein weiteres Buch ein: »Ich wär’ viel lieber schüchtern geblieben!«

HERE WE GO …

Was war eigentlich dein allererstes Rennen, Marco?

Ich habe nie großartig gezielt Sport gemacht, war aber als Kind der Berge immer viel draußen unterwegs. Mit 26 Jahren hatten wir eine Sache laufen, wegen einem vier Kilometern langen Rennen bei uns im Dorf. Es ging mit 400 Höhenmetern viel rauf und runter auf der kurzen Strecke. Ich habe dafür das erste Mal trainiert, um dort gegen die anderen Jungs zu gewinnen. Es brachte enorm viel Spaß und ich wurde im Ziel Vierter.

Wie ging es danach weiter mit dem Laufen?

Ich bin bei Rennen in den Bergen mitgelaufen – meistens in unserer Gegend. Die Läufe waren sehr unterschiedlich, aber ich bin noch nie einen Marathon gelaufen. Erst später, mit 47 Jahren, ging ich dann zum Marathon des Sables. Zusammen mit Paolo, weil er ein Team für das Rennen gegründet hatte. Das war 1996, und der MdS war mit 200 Teilnehmern noch relativ klein. Heute sind es über 1.300 Starter in der Wüste.

Wenn du zurückblickst: Was war dein größter Erfolg?

Sicherlich der Sieg und die Weltmeisterschaft in 2007 beim UTMB. Ich hatte das Rennen im Jahr zuvor bereits gewonnen, aber diese Strapaze mit einem weiteren Sieg im darauffolgenden Jahr zu krönen, das war etwas Besonderes.

Du vergisst zu erwähnen, dass dies kurz vor deinem 59. Geburtstag passierte, und tatsächlich ist das Meisterstück mit zwei Siegen in Folge danach nur noch einmal vollbracht worden: von Kilian Jornet. Wie war das im Ziel für Dich?

Überwältigend war die Freude, der Zuspruch, den ich von allen Seiten bekam. Ich hatte tatsächlich Tränen in den Augen auf der Ziellinie.

Wie wichtig war dieser Sieg?

Nun ja – ich hatte nicht Amerika entdeckt, aber ich fühlte mich sehr gut.

Das ist eine sehr knappe Umschreibung.

Du sprichst nicht so viel und so gern über dich?

(Er beantwortet die Frage mit einem Grinsen.)

Was passierte noch?

Neben der Erschöpfung und Freude? Ach ja (und er lacht dabei): Als ich meinen Siegerpokal erhielt, stand Renata neben mir. Das Erste, was ihr in diesem Moment einfiel, war der Hinweis darauf, dass sie nicht mehr wisse, wo sie in der Hektik das Auto geparkt hatte für die Heimfahrt. Ich dachte noch: So schnell hat einen das normale Leben zurück.

Das war vor zehn Jahren. Das wichtigste Rennen aus den vergangenen Jahren für dich?

Im Herbst 2016 war ich auf einem sehr schönen Rennen: Ultra Bolivia Race. Wir liefen teilweise in Höhen von über 3.600 Metern. Es war ein Lauf über sechs Etappen und 170 km Länge. Teilweise liefen wir auf dem Salar de Uyuni – die mit mehr als 10.000 Quadratkilometern größte Salzpfanne der Erde. Die Salzkruste entstand vor über 10.000 Jahren durch das Austrocknen eines riesigen Sees.

… und du hast das Rennen mit über zwei Stunden Vorsprung im Alter von 68 Jahren gewonnen.

Ja, das stimmt. Ich bin auch sehr stolz darauf. Ich liebe die Berge. Ich bin ein Mann aus den Bergen. Ich habe viele Rennen gemacht und auch einige gewonnen. Bestimmte Rennen bleiben einem aber besonders im Gedächtnis.

Welche noch?

Ein Skirennen: Abfahrt. Das Rennen hieß Tri Rifugi und ich konnte es im Jahr 1985 gewinnen. War mir irgendwie auch wichtig. Ich hebe nicht so viele Sachen auf, aber dieses Paar Ski und die Gewinnerschuhe vom UMTB habe ich behalten.

Welches war dein anstrengendstes Rennen?

Das war hier bei uns in der Heimat: Marathon Alpes. Es war ein Etappenrennen über knapp 200 Kilometer mit 18.000 Höhenmetern. Das war das Härteste, was ich je erlebt habe.

Was waren die aufregendsten Länder, die du besucht hast?

Aufregend und sehr interessant war es bei der Libyan Challenge im Akakusgebirge, in Ägypten und Jordanien. Faszinierende Rennen in Ländern mit einer langen und interessanten Geschichte, die für die ganze Welt von Wichtigkeit ist. Nehmen wir die beeindruckenden Pyramiden von Gizeh oder die Felsenstadt Petra in Jordanien mit ihren Tempeln.

Dem stimme ich gern zu – das waren auch mit meine schönsten Rennen. Der Zieleinlauf an den Pyramiden beim Sahara Race und ebenso das Ziel bei den Felsentempeln in Petra ist atemberaubend. Was war richtig übel?

Beim MdS 2016 ging ich richtig unter. Auf der langen Etappe ging es mir ganz schlecht. Es war sehr heiß, und es lief gar nicht gut. Mir war übel, und ich musste viel gehen. An einem Checkpoint mit Arzt wurde ich untersucht. Mein Blutdruck war normal. Was soll ich sagen? Es gab somit keinen Grund aufzuhören, also marschierte ich weiter.

Bist du jemals verlorengegangen oder hast den Weg verfehlt?

Nicht wirklich. Bei der Libyan Challenge 2008 über 200 Kilometer nonstop habe ich mal zwei Stunden den Weg nicht gefunden, weil das GPS nicht mitgespielt hat.

An der Stelle stand ich – glaube ich – im Jahr darauf auch. Aber doppelt so lang. Irgendwann bin ich die Felswand vor mir einfach hochgeklettert. Irgendwo sollte dort ein kleiner Tunnel durch dieses Felsmassiv sein. Der war aber im Dunkeln für mich damals nicht zu finden.

(Er lacht und scheint sich auch daran zu erinnern.)

In deinem Film Il Corridore erzählst du von dir, dass du dich als Loser, als Verlierer siehst. Warum?

Ich bin aus den Bergen. Dort bin ich großgeworden. Aber um Geld zu verdienen und mein eigenes Leben leben zu können, musste ich runter. Ich wurde Lkw-Fahrer und habe mit Dreißig angefangen, im Betonwerk in Robilante zu arbeiten. Dort war ich dann 23 Jahre, bevor ich in Rente ging. Durch das Verlassen der Berge habe ich meine Wurzeln verloren. Es gab die Notwendigkeit. Es ist schwer zu erklären, und das können vielleicht nur Menschen verstehen, die auch in den Bergen geboren sind. Das Zitat mit dem »Loser« ist aus dem Film von 2010. Vielleicht bin ich bei diesem Thema heute etwas entspannter.

Aber du bekommst soviel Anerkennung heutzutage für dein Laufen, für dich als Person …

Das ist richtig. Es freut mich auch, dass dieser Zuspruch über alle Generationen geht. Es gibt ganz viele junge Menschen, die mir schreiben, die zu meinen Vorträgen kommen, auch viele aus meiner Altersklasse.

Kannst du mit diesem Zuspruch gut umgehen?

Eine gute Frage. Viele Menschen denken, es ist leicht im Mittelpunkt zu stehen und gelobt zu werden. Das ist es nicht. Ich kann heute besser damit umgehen als vor 20 Jahren. Damals war ich viel unsicherer, ich war schnell nervös und habe die Welt in Gut und Böse eingeteilt, meist aber sehr schnell viele Feinde gesehen. Das ist heute anders.

Welche Rolle spielt deine Frau Renata?

Sie ist die große Stütze. Wir haben uns kennengelernt, als ich 24 war, und mit 30 haben wir geheiratet. Sie ist meine bessere Hälfte. Somit gebührt ihr auch mit Recht die Hälfte der Anerkennung für meine Erfolge beim Laufen. Sie betreut mich bei den Wettkämpfen. Sie fährt zu den diversen Checkpoints. Sie gibt mir Essen und Informationen über den Stand im Rennen. Welche Läufer direkt vor oder hinter mir sind. Wichtig ist sie natürlich auch als Stütze, wenn es nicht läuft, dann baut sie mich auf. Sie steckt dann voller Energie und gibt alles. So manches Mal ist sie dabei aufgeregter als ich und am Ende des Rennens oft vollkommen erschöpft.

Passion Laufen

Подняться наверх