Читать книгу Die glückliche Hand - Rahel Sanzara - Страница 3

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Krankenschwester Lotte Schuhmacher aus Berlin hatte, wie sie selber sagte, ihre staatliche Prüfung nur mit Ach und Krach bestanden. Einer der examinierenden Ärzte hatte sogar ihre phlegmatischen und wie es ihm schien uninteressierten Bewegungen getadelt und verzweifelt den Kopf geschüttelt, als er sah, wie entschlusslos und beinahe bockig Lotte vor dem Patienten stand, einem allerdings ungewöhnlich großen, breiten Mann, dem sie einen spanischen Mantel – eine besonders komplizierte Ganzpackung – anlegen sollte. „Die armen Kranken, die da hilflos unter Ihre Finger kommen!“, meinte der Doktor ziemlich grob, während der Patient, dem die kleine brünette Lotte mit dem frischen, wenn auch etwas grobzügigen Gesicht und den ein wenig vorquellenden Schwarzkirschenaugen gefiel, ungeachtet seines Fiebers und seiner Schmerzen ihr gutmütig zuraunte: „Knien Sie sich doch einfach zu mir aufs Bett!“ – Dies tat Lotte, vom Blitze der Erleuchtung getroffen, denn auch sofort und brachte nun mit gänzlich unerwarteter Behändigkeit geschickt und kunstgerecht den spanischen Mantel zuwege. Da sie aus dem Lehrgang für Irren- und Nervösenpflege eine besondere Belobung für geduldigen und beruhigenden Umgang mit diesen Kranken vorzuweisen hatte, auch im Theoretischen verhältnismäßig gut abschnitt, war ihre Ausbildung – ein großes Geldopfer für ihre Eltern – also doch nicht umsonst gewesen, und anstatt als Tochter eines Maurerpoliers Dienstmädchen werden zu müssen – da Lotte es sich schrecklich dachte, etwa Büroangestellte oder Verkäuferin zu sein –, erreichte sie nach dem Wunsche der Mutter den Stand einer staatlich geprüften Krankenschwester, trug Häubchen, blaues Kleid und weiße Schürze, die kreuzgezeichnete Brosche einer Organisation.

Wohl freute sich Lotte über die Achtung, die Familie und Bekanntschaft ihr nun deutlich entgegenbrachten, doch war sie immer wieder am frohesten, wenn sie an ihren freien Tagen in ihre Zivilkleider schlüpfen, den unter der Haube straffgezogenen Scheitel lockern und ein wenig toupieren konnte. Ein paar winzige Stirnlöckchen brannte sie sich auch und kaufte sich von ihren ersten ersparten paar Mark eine rosa Seidenbluse, Lackhalbschuhe und Florstrümpfe mit Durchbruch à jour*. – Sie las leidenschaftlich gern Romane und Gedichte, ein stetes Ärgernis für die Mutter, indes der Vater begütigend meinte, dass die Bücher doch nun einmal geschrieben und gedruckt worden seien, um gelesen zu werden. – „Aber nicht von meiner Tochter!“, entschied die Mutter. „Das ist alles nur Satanswerk.“

Obwohl in der Großstadt aufgewachsen – im Gegensatz zu ihrem Manne, der vom Land hereingekommen war und seine Frau sich eigentlich ein bisschen flotter gedacht hatte, wie er einmal nach Jahren der Ehe sich und ihr eingestand –, so war die Mutter doch von strengen moralischen Ansichten und nach wahrer Frömmigkeit bestrebt. Sie hätte es richtig und in einem gewissen Hochmut auch so vornehm gefunden, wenn ihre Tochter einem Orden, und zwar einem möglichst strengen, beigetreten wäre. Aber obgleich die Mutter eine große Autorität über Mann und Kind besaß, konnte sie das von Lotte durchaus nicht erreichen.

„Du wirst dich doch nicht als Angestellte betrachten wollen, die für schlechtes Geld den Leuten die Nachttöpfe fortträgt“, so versuchte sie die Tochter zu überzeugen, „für Gehalt und klingende Münze hast du doch nicht so einen opfervollen Beruf erwählt! Denn das soll er sein, und da kannst du ihn nur um Gottes Lohn und Liebe erfüllen –“

„Wieso?“, widersprach Lotte naiv. „Du willst doch haben, dass ich die Kosten für meine Ausbildung zurückzahle, und man kann auch in einer freien Organisation seine Pflicht tun.“

„Gott kann solche Leiden doch nur geschickt haben, damit die Gesunden ihre Kräfte daran prüfen und das Gebot der Nächstenliebe erfüllen“, antwortete darauf die Mutter wie mehr in eigener Betrachtung, und, der erwähnten Geldfrage ausweichend, sich der Schilderungen Lottes aus der Zeit ihrer Pflege der Gemüts- und Geisteskranken erinnernd, deren Schrecknisse sie sich oft hervorrief, um ihren Glaubensstand daran zu prüfen.

Aber Lotte ging auf diese Abschweifung nicht ein. „Dann hätte ich ja gleich Nonne werden können, und dazu passe ich nun mal ganz bestimmt nicht!“, entschied sie klar und endgültig.

Lotte hatte also weder Begeisterung genug für ihren Beruf, um so weltabgewandt zu leben, wie die Mutter es sich wünschte, noch aber war sie auch besonders umgängig oder gar vergnügungssüchtig. Ihre ehemaligen Schulfreundinnen, dann ihre Kolleginnen in den Ausbildungskursen, alles echte Geschöpfe der Großstadt, fanden sie immer mehr langweilig und spießiger werdend, klagten, sie verderbe jedes Mal die schönsten Späße, weil sie kneife, und bei den übermütigen, oft gewagten Festen, mit denen die angehenden Krankenschwestern sich ihren Anteil an lockerer Lebensfreude gleichsam ihrem späteren, aufreibenden Beruf vorwegnahmen, warf man Lotte vor, sie sitze da wie ein Klotz. Nach und nach zogen sich alle Altersgenossinnen von ihr zurück. Neue Bekanntschaften schloss Lotte nur schwer, und obwohl alles in ihr träumte und auf ein Liebesglück wartete, blieb sie auch da in völliger Verlassenheit. Sei es, dass die dumpfe Schwere und Triebkraft ihrer Natur, wenn sie verspürt wurde, abschreckend wirkte, oder umgekehrt Lottes Schwerfälligkeit für Empfindungsmangel gehalten wurde – die Männer fühlten sich jedenfalls nicht sonderlich von ihr angezogen, und jene, die sich ihr keck oder ihr wahres Wesen verkennend und dem frischen, versprechenden Mädchenleib zustrebend nähern wollten, stießen wiederum Lotte meistens ab. Tanzveranstaltungen mit ihren sinnlichen Erregungen, überhaupt die Freiheiten des großstädtischen Lebens waren ihr widerwärtig, nicht aus Prüderie oder vorsätzlicher Tugend, sondern nur, weil sie ihre gestaltlosen, aber süßen Träumereien störten. Auch Filme und Theatervorstellungen sah sie nicht gern an, denn die Vorgänge waren ihr in den Dramen und Schauspielen entweder zu tragisch und bedrohten das Erfüllung versprechende Gefüge ihrer Welt, oder aber sie waren ihr auf der Leinwand zu deutlich und gegenwärtig im geschilderten Glück und trotz allem Happy End noch immer nicht verheißungsvoll genug. Fast ein Schrecken blieben für Lotte alle anreizenden, anpreisenden Plakate, denen sie doch von Kind an allüberall auf ihren Wegen begegnen musste. Sie kniff mit fast altjüngferlichem, überheblichem Kopfschütteln die Augen bei ihrem bunten Anblick zu, als verstände sie schon jetzt, in ihrer ersten Jugend, die Welt nicht mehr, und als sähe sie am liebsten das ganze regsame Leben um sie her in ein trächtiges Dunkel gehüllt. So verbrachte Lotte Jahre der sehnsüchtigen Leere und Einsamkeit, die sonderbar waren bei ihrer Jugend und im Grunde einfachen Natur.

Dagegen hatte sie über Verdienst Glück in ihrem Beruf. Sie fand ohne viele Mühen sofort Beschäftigung in einer größeren, gut geleiteten Privatklinik, in der berühmte Ärzte arbeiteten. Aber sie blieb im Innersten auch dabei unberührt; die mannigfaltigsten Schicksale, die sich vor ihr erfüllten, die oft so schweren Kämpfe auf Leben und Tod gingen ihr nicht allzu nahe. Schneller als sonst Anfänger in der Krankenpflege lernte es Lotte, nicht so sehr leidende Menschen in den Patienten zu sehen, als mehr klinisch schwerere oder leichtere Fälle, wie sie stolz nachsprach, und ihre Anstrengungen zielten von Anfang an hauptsächlich darauf hin, den Anordnungen der Ärzte gerecht zu werden und deren Zufriedenheit für wichtiger zu nehmen als die der Patienten, denn: War der Arzt zufrieden, mussten es die Kranken doch auch sein, war Lottes Überlegung. Jedoch verfiel sie auch nicht in eine der üblichen, verliebten Schwärmereien für den oder jenen der Ärzte, machte sich keine hoffnungslosen Illusionen, was ihr von der allezeit zu Neid und Eifersucht bereiten Schwesternkollegenschaft hoch angerechnet wurde. So war sie der Reihe nach auf fast allen Stationen der Klinik tätig, erfüllte, ihr seelisches Pfund wenn auch unbewusst für sich behaltend und hütend, überall immer gerade das Notwendige ihrer Pflichten, dieses allerdings tadellos. Zuletzt wurde sie auf ihren Wunsch, vorerst vertretungsweise, dann ständig zur Nachtwache der chirurgischen Abteilung verwendet.

Dieser Posten wurde ihr sehr lieb: Es gab nicht allzu viel zu tun, die ganz schweren Fälle hielten sich meist Privatschwestern, und selten widerfuhr ihr das Pech, wie sie es nannte, dass nachts eine Aufnahme kam. Ihre Gesundheit vertrug das Wachen ausgezeichnet, und ihre Vorgesetzten wussten es mit der Zeit besonders an Schwester Lotte zu schätzen, dass sie mit selten tadelloser Sicherheit entscheiden konnte, wann es wirklich nötig war, den Arzt zu wecken, oder ob dieses Verlangen etwa eines unruhigen Patienten ohne Gefahr zu umgehen und auszureden war. Es passierte ihr nie etwas, und die Oberschwester sowie die Assistenzärzte konnten sicher sein, dass es auch bei besorgten Anlässen in Ordnung war, wenn Lotte sie nicht rief. Man trug ihr also diesen Posten für die Dauer an, und sie willigte gern ein.

So döste sie nun in der Regel Nacht für Nacht und träumte Stunde um Stunde in dem Lehnsessel des kleinen, stillen, mit hellblauer Ölfarbe gestrichenen, nur von einer Nachttischlampe erhellten Wachzimmers vor sich hin, eine Handarbeit oder, weit öfter, ein Buch in den Händen. Sie las durchschnittlich jede Woche einen Band aus der kleinen Bibliothek der Klinik, und es machte ihr keinen Unterschied aus, ob es die Palmblätter von Gerok, die ägyptische Königstochter von Ebers, der Kampf um Rom von Felix Dahn, oder ob es die Gedichte von Mirza Schaffy, die Landgräfin, „Seine zweite Frau“, von Marlitt war: Keines der Themen, der mitgeteilten Gefühle und dargestellten Schicksale erregten ihre tiefere Anteilnahme. Gleichwohl hafteten ganze Absätze, irgendwelche Satzpartien, Gedichte und Verszeilen dessen, was sie da in stumpfer Lesegier verschlang, in ihrem Gedächtnis fest, führten hier eine Art selbstständigen Lebens, ihr Innerstes umkreisend, das nach wie vor nur erfüllt war von einem bald drängenden, bald ziehenden Sehnsuchtsempfinden, von einem saugenden, gierigen Lauern auf etwas, das sie nicht hätte benennen können. Aber sie hatte auch gar kein Verlangen, sich darüber oder über sich selbst klar zu sein.

Ertönte einmal die Glocke, so zog sie nachtwandlerisch in das betreffende Krankenzimmer, setzte den an sie gerichteten Klagen oder Schmerzenslauten meist einen gedämpften, unartikulierten, beruhigenden und wie es schien eingehenden Laut entgegen, ungefähr wie uhjah, – ohhum, – weh-wei, – nililimm –, oder schnalzte bei besonders eindringlich vorgebrachten, vermutlich auch etwas übertriebenen Leidensbeteuerungen mit der Zunge, als vernähme sie da etwas ganz Verwundernswürdiges, und die Patienten mussten oft genug wider Willen über sie lachen. Im Übrigen kam Lotte den Bitten des Kranken mit sicheren, wenn auch etwas langsamen Bewegungen nach, sobald sie es für richtig befand, diese Bitten zu erfüllen. Sie ließ sich eben durch kein noch so beängstigendes Zeichen täuschen oder erschrecken, gab die Morphiumspritze, den Kampher wirklich nur, wenn es nötig war, und behielt in ihrer gewissen Unzugänglichkeit stets und immer recht gegen den aufgeregten, überbesorgten, oft unvernünftigen Patienten. Ihr kaltblütiges Wesen fing nach einer Zeit, in der es eine beinahe ärgerliche Verwunderung erregt hatte, an, Lottes Umgebung zu imponieren. Es wurde ihr lange nicht vergessen und gewissermaßen als Ruhmestat angerechnet, wie sie als Erste den Tobsuchtsanfall eines nach der Operation aus der Narkose zu sich kommenden Alkoholikers richtig erkannte. Sie war in noch ziemlich früher Abendstunde zum Abtransport aus dem Operationssaal zu Hilfe gerufen worden und machte sofort den sich eben entfernen wollenden Assistenzarzt auf ihren Verdacht aufmerksam. Doch man bedeutete ihr, dass der Patient für eine solche Befürchtung viel zu leicht eingeschlafen sei und die Narkose jetzt auch noch anhalten müsse. Mit dieser Beruhigung verschwand der nach einem besonders arbeitsreichen Tage müde Doktor in dem Fahrstuhl. Lotte aber ließ den noch anwesenden Pfleger in die Pförtnerloge um den Arzt telefonieren, als der Tobende gerade erst begann, mit seinen noch festgeschnallten Gliedern zu zucken, allerdings so, dass der ganze Operationstisch in Bewegung geriet. Als Arzt und Wärter den Raum wieder betreten wollten, fanden sie Lotte am Wasserhahn stehen, an dem sie geschwind einen Spülschlauch angebracht hatte, dessen Strahl sie ruhig und zielsicher gegen den Kranken gerichtet hielt, der sich längst von allen Fesseln befreit hatte und mit übermenschlichen Kräften gerade den gläsernen Instrumentenschrank gegen das große Operationsfenster schleuderte. – „Raus, Lotte, raus!“, rief man ihr zu, im Bestreben, fürs Erste das Zimmer mit dem Unbändigen abzusperren. Doch Lotte war anderer Ansicht. – „Der lässt schon nach!“, schrie sie durch das Getöse zurück, und zielte mit ihrem gar nicht so sehr starken Strahl möglichst gegen die Brust und Herzgegend des nackt, in einem Gipsverband um den gebrochenen rechten Unterschenkel, wankend umherstampfenden Patienten, nachdem sie ihm bisher den Kopf begossen hatte. – „Packt ihn doch! Das ganze frische Zuckerbein geht ja kaputt!“ – Unwillkürlich gehorchte man ihr, und mit Unterstützung einiger noch herbeigeeilter Hilfskräfte suchte man den Tobenden zu packen, und triefend vor Nässe allesamt – denn Lotte kam von ihrer Idee, Wasser zu spritzen, nun schwer wieder ab –, konnte der arme Kranke endlich wieder zur Raison gebracht werden. Und während die anderen, halb entsetzt, halb lachend, noch ganz außer sich waren, mahnte Lotte, nur nicht zu vergessen, möglichst zeitig in der Morgenröte nach den durchs Fenster gefeuerten Instrumenten zu suchen, die zwischen den Glassplittern im Klinikgarten liegen mussten, dann kehrte sie in ihre ruhige, dämmerige Wachstube, zu ihren webenden Träumereien zurück. – So tat sie eben doch stets alles, was getan werden musste, sie tat es korrekt und ohne Aufhebens davon zu machen, und ihre geistige und seelische Abwesenheit wurde für disziplinierte Ruhe und immer mehr für Überlegenheit gehalten.

„Schwester Lotte verliert die Ruhe nicht, mag da sein was will, sie ist ein rechtes Vorbild: Sie reibt sich nicht auf, klappt nicht zusammen und hat eine glückliche Hand!“, – so lobte vor allem die gewichtige, im Dienst altersergraute Oberschwester Laura.

Nur einmal war Lotte von Berufs wegen erzittert und erblasst, und das geschah, als man ihr den Fall eines vierjährigen Kindes berichtete, das in diesem zarten Alter bereits an einer Krebsgeschwulst operiert werden musste. – „Gott sei Dank, dass ich da nicht pflegen muss“, sagte sie mit ganz erloschener Stimme, „kranke Kinder, und so krank, das dürfte es überhaupt in der ganzen Welt nicht geben!“ – Es griff wirklich so nach ihrem Innersten, dass sie in einem durch Tage hindurch immer wieder in ihr auflebenden Erbeben sich selbst wie verstärkt existieren fühlte, und dass sie in einer solchen Bewegung für ein paar Minuten lang sogar den Entschluss fasste, mit der Mutter darüber zu sprechen, sie zu fragen, wie sie solches wohl mit ihrem Glauben vereinen könne. Sie tat es zuletzt doch nicht, denn es war ja nur wie eine angstvolle Wissbegierde in ihr, wie eine Sorge um Schutz der Seele in diesem einen Punkte Kinderleid – im Grunde zweifelte Lotte weder, noch glaubte sie in ihrem stillen Hoffen und Harren. – Merkwürdigerweise hatte sie das Glück, während all dieser Zeit nie ein Kind unter ihren Pfleglingen zu haben.

Tagsüber schlief Lotte daheim im elterlichen Schlafzimmer, stand am späten Nachmittag gähnend auf, konnte es aber nie unterlassen, für die zwei Stunden, die ihr noch bis Dienstantritt blieben, sich mit ihren bescheidenen Zivilkleidern anzuputzen und irgendeinen Gang zu tun, eine kleine Besorgung für sich oder die Mutter zu machen, für die sie jedes Mal eine unverhältnismäßig lange Zeit brauchte. Dann legte sie ihre Dienstkleidung an und ging in die Klinik. – Auf diese Weise vergingen zwei Jahre, und der Zwiespalt in Lottes Seele, der sich bis in ihren Beruf hineinzog, dem Beruf, welchem sie ja doch, ohne dass er ihr Freude oder tiefere Befriedigung zurückgab, gerecht wurde und einen großen Teil ihrer Daseinskraft hingab – dieser Zwiespalt, dem sie noch dazu ahnungslos und hilflos gegenüberstand, höhlte sie gleichsam innerlich aus und zeigte sich schließlich auch in einem gewissen Verfall ihrer körperlichen Kräfte an. Lotte wurde blutarm und bleichsüchtig, aß kaum, und ihr Schlafbedürfnis ward derart gesteigert, dass sie nun auch dem Wachposten nicht mehr recht gewachsen schien, sich selbst nicht mehr traute und sich einen Wecker auf den Tisch stellte, dessen Läutewerk sie jede Stunde abschnurren ließ, auf alle Fälle. – Da Lotte nun gerade durch die Passivität ihres Wesens das Interesse gewisser Menschen an sich rege machte, erhielt sie durch Vermittlung der um ihre Gesundheit besorgten Oberschwester Laura eine Privatpflege auf einem Landsitz zugewiesen.

Bei den Vorbereitungen zu dieser Übersiedlung ließ sie sich von der Aufregung der Eltern, die ihr einziges Kind noch nie so weit von sich gelassen hatten, wie die Mutter sich ausdrückte, anstecken. Das dumpf Erwartungsvolle in Lotte erhellte sich zu einer Art Gewissheit der Erfüllung, und in einem zaghaften Übermut meinte die Tochter zu den Eltern: „Passt auf, ich komme überhaupt nicht wieder in eure Steinwüste zurück, mir blüht das Glück auf dem freien Lande!“ – Worauf ihr Vater lachte und meinte, hoffentlich blühe es nicht gerade auf einem saftigen Misthaufen, vor dem die Städter immer gerne die Nase gerümpft hätten, dessen entsinne er sich noch genau, während die Mutter ihre Tochter verwies: „Glück ist erfüllte Pflicht, und die ist überall gleich schwer!“, und Lotte möge sich nur ja recht zusammennehmen, denn dort habe sie, anders als in der Klinik, jede Verantwortung allein zu tragen.

Aber Lotte hatte dort in der Hauptsache nur einen alten, halb blinden Patienten in einem ausgedehnten, herrlichen Park und in den Wäldern spazieren zu führen, die das ihm zugehörende Gut umgaben. Er war ein Mensch, der viel schwieg, der, dem Leben ziemlich abgewandt, dem Geschick dankbar war für sein geschwächtes Gesicht und nun auch möglichst nichts mehr hören wollte von der Welt. Einzig aus den sich mit den Tages- und Jahreszeiten wandelnden Gerüchen und geheimnisvollen, nicht mit plumpen Sinnen aufzunehmenden Lauten der Natur – (Geheimnissen, die allein seiner Meinung nach sich zu enträtseln verlohnen könnten) – empfing der alte Herr noch Lebensfreude und Anregung und durchstreifte darum mit einer fast strengen Gewissenhaftigkeit täglich nach abgemessenen Stunden in Begleitung Lottes Wiese, Wald und Feld. Er hätte keine andere Pflegerin so gut ertragen können wie sie, die ebenso wenig sprach und ebenso wenig an dem Getriebe der Welt interessiert war wie er. Lotte blieb über ein Jahr bei ihm, ihre Gesundheit war bald wieder hergestellt, sie sah blühend aus, und zum Schlusse dieser Zeit stand sie vor ihrer Niederkunft.

Die Geschichte ihrer Verführung gleicht der ihres bisherigen Lebens: Stumpf, unerweckt war Lotte den Weg von einem unberührten Mädchen bis zur gebärenden Frau gegangen. Das Wirtschaftsfräulein vom Gute hatte sie mit auf ein Kirchweihfest gelockt, welches das Fräulein ohne Begleitung nicht hatte besuchen mögen. Lotte hatte, wenn auch unter Gesten der Enttäuschung über einen so vulgären Zweck, von ihrem Patienten frei bekommen, war mitgegangen, hatte mitgetrunken, mitgetanzt – hatte wie alle anderen schwer und heiß, wenn auch ohne die allgemeine Freudigkeit, in den Armen verschiedener Tänzer gelegen, deren gerötete Gesichter sie wie in einer halb quälenden, halb wohligen Benommenheit kaum hatte unterscheiden können. Nur einmal, als sie sich besonders fest in der Taille umpresst fühlte, fiel ihr im wirbligen Drehen eines wilden Galopps ein lockiges Hinterhaupt dicht neben ihrer Wange deutlich auf, doch schnell gingen ihr Blick und klareres Bewusstsein in Gewühl und Dunst des Festes wieder unter. Und so hatte sie sich schließlich mit hinausziehen lassen in eine schwüle, schwarze, dennoch schon frühherbstlich matte Nacht – hatte sich, in einer Art gespannter Erschöpfung auf den Füßen taumelnd und leicht nachgebend, auf die von der Hitze des Tages noch warme Erde niederdrücken lassen, hatte, während sie unter Lachen ihr Gesicht vor einem heißen, fremden Atem wegwendend zu retten suchte, wollüstig-schweren Druck auf ihrer Brust verspürt, ein Aufhämmern in allen ihren Adern, auch einen irgendwie aufstechenden Schmerz in ihrem Leib. Ein leises, dunkles Lachen, das sie fern und fremd ihrer eigenen Kehle entströmen hörte, hielt sie jedoch wie in einem betäubenden Rausch. Zuletzt wollte wohl ein tiefer Schauder sie aufmahnen, sie wie vor einer namenlosen Gefahr aufjagen, aber ehe sie sich noch gegen das Dunkle, sie machtvoll Umschlingende aufbäumen konnte, war alles wieder ruhig, Mahnung, Schauder, Pein und Lachen still, alles war wieder fern und frei, sie allein und sie immer und stets. Verträumter denn je hatte sie sich in dem hellen Saal, unter der schmetternden Musik auf einmal tanzend zwischen den tanzenden Paaren wiedergefunden, und erst auf dem Heimwege mit dem Wirtschaftsfräulein, das mit ihrem Verehrer hinter ihr hergegangen, während Lotte allein vorausgeschritten war, hatte sie von ungefähr empfunden, dass es sich so schön ging auf der Erde wie noch nie und dass das zehrend Lauernde in ihr plötzlich nicht mehr da war.

Von nun ab war Lottes Wesen wie von einem starken Druck befreit, und sie lebte in einer fast leichtsinnigen Zufriedenheit in die nächste Zeit hinein, in der sie heimlich, ohne sich jemandem anzuvertrauen, ihre Schwangerschaft ertrug und verbarg. Erst als sie bereits die Regungen des Kindes verspürte, ward sie bedachter und auf ihre Weise auch aktiv. Sie hatte immer ihr Gehalt fast ohne Abzug über Vereinbarung nach Hause geschickt, wo es die Mutter auf eine Sparkasse trug. Jetzt behielt Lotte über die Hälfte des Geldes zurück, trotz der empörten Fragen und Vorwürfe der Mutter, auf welche die Tochter in ihren Briefen, was sie früher nie gewagt hätte, einfach nicht einging.

Die glückliche Hand

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