Читать книгу Die glückliche Hand - Rahel Sanzara - Страница 6

IV

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Es war ein heißer Sonntagnachmittag im August, als Lotte, müde, hungrig und erschöpft, mit ihrer Last im Arm, an der elterlichen Wohnungstür klingelte. Die Mutter öffnete. So streng und verschlossen sie auch war, leuchtete ihr Auge doch auf, als sie ihr einziges Kind so unerwartet vor sich erblickte. Sie ließ Lotte eintreten, schalt aber sogleich währenddem, warum Lotte auf ihre Briefe nicht ausführlich geantwortet habe, und wie es denn nun eigentlich mit dem Gelde sei, ob sie es sich etwa um versprochener höherer Zinsen halber habe abschwindeln lassen – das Reellste sei und bleibe doch die Sparkasse, darin könne sie schon der Mutter vertrauen, auch sei es nicht christlich, zu hohem Gewinn nachzustreben. Da Lotte auf nichts antwortete, fragte die Mutter, was denn mit dem Säugling wäre, wem er gehöre und ob Lotte ihn wohl in eine Klinik bringen solle.

Sie waren indessen in die Wohnküche der kleinen Wohnung eingetreten. Lotte setzte sich aber nicht auf die Aufforderung der Mutter hin, blieb mit wankenden Knien stehen und sagte leise:

„Nein, das ist mein Hermann!“

Das Gesicht der Mutter erstarrte für eine Sekunde in bösem Schrecken, dann wollte es zu dem gewöhnlichen Ausdruck zurückfinden, als die Mutter in der üblichen Tadelsweise sagte, seit wann denn in ihrem Heim solche dummen Witze gemacht würden. – Zugleich aber fand sie mit dem Instinkt der Frau Lottes voller gewordene Gestalt, ihr erblühtes und regsameres Gesicht verdächtig, und, als wolle sie etwas Schlimmes im letzten Augenblicke noch verhüten, trat sie jäh auf die Tochter zu, riss ihr das Kind aus den Armen und legte es auf das Kissen in ihrem Lehnstuhl am Fenster. – Der Vater, der auf dem Sofa noch seinen Sonntagnachmittagsschlaf gehalten hatte, kam langsam zu sich, erhob sich, und während allmählich Freude sein weitzügiges, etwas unregsames Gesicht, das dem der Tochter ähnelte, überzog, sagte er schwerfällig: „Na, Lottchen, mein Kind, das ist aber eine Überraschung!“

Von der klugen, harten Mutter floh Lotte zu ihrem Vater hin, beugte sich zu ihm nieder, drückte ihre Wange gegen seinen stacheligen Bart, ließ sich von ihm den Rücken zärtlich klopfen, und schließlich schmiegte sie sich ganz fest gegen seine Schulter, zitterte und sagte, aufgerührt, schluchzend, halb angstvoll flehend, halb hingerissen von ihrem Glück, ihr Bekenntnis: „Vater, das ist mein kleiner Hermann!“

Der Vater rührte sich nicht, so schnell konnte er nicht begreifen. Die Mutter aber fragte nach nichts mehr. Von hinten riss sie die Tochter hoch, drehte sie mit einem Schwung zu sich herum und schlug sie in das Gesicht. So rasend schnell fielen die Schläge, dass die ohnedies erschöpfte Lotte nicht einmal dazu kam, sich mit den Händen zu schützen. Ihre Schwesternhaube fiel vom Kopfe, ihre braunen Flechten lösten sich auf, aus der Nase sickerte Blut. Die Mutter schlug, bis die Tochter gegen den Küchenschrank taumelte.

Lotte ächzte leise, wehrte sich nicht. Da aber begann das Kind auf dem Lehnstuhl zu wimmern, und das ließ im selben Augenblick die Tochter der Mutter einen Stoß versetzen, dass sie weit wegtaumelte – und Lotte war bei ihrem Kind! Tobend vor Empörung wollte die Mutter ihr nach. Doch der Vater, der bis jetzt regungslos auf dem Sofa gesessen und verständnislos die Szene angestiert hatte, trat nun mit einem Schritt dazwischen und sagte mit seiner tiefen, rauen Stimme ganz ruhig: „Nun lass mal, Frau, das wird ja nun doch nicht wieder anders.“ Er zog mit einem Griff seiner kräftigen Maurerfäuste die erhobenen Arme seiner Frau herab und schob sie von ihrer Tochter zurück, die, eine weinende und gezüchtigte Mutter, sich über ihr greinendes Kind beugte.

Die alte Frau tobte sich nun in einem furchtbaren Ausbruch von Schimpfreden über die Tochter aus. Es war, als ob nie ein Funke warmen Gefühls für ihr Kind je in ihr gewesen sei, und als ob diese einfache Frau in der Tochter nur das verjagen und nahezu vernichten wollte, was sie so furchtbar traf: Die Enttäuschung an einem Lebenswerk, die verlorene Illusion. Sie schrie in hellen Tönen, wie wahnsinnig vor Wut, dass sie dieses liederliche Stück Mensch nicht mehr sehen wolle, dass sie dieses undankbare Ding, das sie mit aller Mühe aufgezogen, das sie etwas habe werden lassen, mehr als sie selbst, an das sie Geld gewendet habe, und das nun so vor sie hinträte, dass sie das keinen Augenblick mehr in ihrer Wohnung haben wolle – hinaus! mir sofort aus den Augen! hinaus aus meiner Wohnung, sofort, sofort! – und die Frau, halb besinnungslos, strebte von Neuem auf die Tochter zu.

Wieder wurde sie von dem Mann gebändigt, dessen Griffen sie sich nicht entwinden konnte, so sehr sie mit Schimpfworten nun auch gegen ihn tobte und mit aller Kraft sich wand und loszureißen suchte. Obwohl der Mann seine Frau noch niemals so gesehen hatte, denn sie war stets und in allem auf eine merkwürdig strenge Art still, verschlossen und beherrscht gewesen, beachtete er ihr Gebaren doch kaum. Seine wassergrauen Augen hingen an dem Säugling, auf dessen zartem, von der Krankheit eingefallenen Gesichtchen. Und als das Kind den kleinen Finger seiner Mutter, den ihm diese in der Verwirrung entgegenhielt, um sein Weinen zu beruhigen, mit dem winzigen Mund umschloss, da legte sich ein gütiges Lächeln auf des Vaters breite Lippen und Wangen. In der seltsamen Stellung, nach hinten mit den Fäusten seine tobende Frau haltend, während sein Kopf nach vorn zu dem Kind hingewendet war, sagte er in eine Atempause der kreischenden Frau hinein mit vor Zärtlichkeit warmer Stimme: „Aber doch so ein niedliches Jungchen, der Hermann.“

Da riss sich die Frau doch noch von ihm los, aber sie wich zurück, warf sich auf das Sofa – und nun begann sie mit Gott zu hadern, immer wieder fragte sie, was sie denn verbrochen habe, um so gestraft zu werden. Schließlich endete ihre Aufregung in einem Weinkrampf.

Lotte, die kaum ihr Nasenbluten gestillt hatte, sprang hinzu, legte Essigumschläge auf die Stirn der Mutter, massierte ihr die Herzgegend, während der Vater, sich um nichts kümmernd als um seine neue Freude, das Kind behutsam auf die Arme nahm und es im kleinen Raume auf und nieder trug, worauf es sofort sein Weinen einstellte.

Nach dem ersten Schock holte Lotte für die Mutter aus der kleinen Hausapotheke, die sie einst selber eingerichtet hatte, beruhigende Tropfen herbei, welche die Mutter auch annahm und unter deren Einwirkung sie einschlief. Auf dem nun endlich wieder zur Ruhe gekommenen Gesicht der alternden Frau lag ein Ausdruck tiefsten Grames, und obwohl eben erst durch den enttäuschenden Schlag empfangen, schien er doch schon so fest eingeprägt, als sei er die Summe vieler bitterer Jahre. Aber Lotte hatte so wenig Mitgefühl und Begreifen für die Mutter, als die Mutter für sie – und sie eilte von der kaum Eingeschlafenen fort, holte aus dem Köfferchen frische Tücher herbei, legte das Kissen vom Lehnstuhl auf den Tisch und band ihr Kind frisch ein, wobei ihr der Vater zusah.

„Getauft ist er schon?“, fragte er mild.

„Ja, ja –“, flüsterte Lotte zurück.

„Nach wem hat er den Namen?“

„Nach dir, Vater, nach wem sonst?“

„So –!“ – Es klang befriedigt und stolz, aber es war doch ein wunder Punkt bei diesen Fragen berührt worden, und eine Sekunde lang dachte der Vater die Worte seiner Frau nach: Seine Tochter war eben doch ein liederliches Frauenzimmer gewesen. Sie hatte es vielleicht nicht schlimmer getrieben, als alle anderen in der Großstadt aufgewachsenen Mädchen – auch auf dem Lande hatte es ja immer solches Weiberpech gegeben –, aber sie hatte es eben doch genauso getrieben, und auch er hegte wie seine Frau, nur stiller und tiefer, den Wunsch und die Vorstellung, dass seine Tochter etwas Besonderes sein müsse. – Dennoch rührte es ihn immer wieder, wie sie da mit ihrem kleinen Hermann hereingekommen war, und wie sie es ihm leise gesagt hatte. Freilich, wie nun alles werden würde, war ganz unsicher. Würde Lotte weiterhin ihrem Beruf nachgehen können? Er selbst hatte ja augenblicklich noch guten Verdienst, es war Frühherbst, die Bautätigkeit noch in vollem Gang, einiges war auch zusammengespart. Allerdings war es nicht für so etwas gedacht. Aber nach dem Vater des Kindes zu fragen, und danach, ob er etwas zahlen würde, vermochte er nicht. Er sagte nur in etwas strengerem Tone als vorher zur Tochter: „Na, jedenfalls, an dem Kinde kann man so etwas nicht entgelten lassen.“

Lotte schluchzte auf, nahm ihr Kind und ging in die Schlafstube, um es zu stillen. Dann wusch sie ihr noch von Reisestaub und von dem Nasenbluten verschmutztes Gesicht, brachte ihr Haar in Ordnung, packte ihr Köfferchen aus und machte dem Vater das Abendbrot zurecht, wobei sie selbst endlich ihren mörderisch brennenden Hunger stillen konnte. Der Vater ging nach dem Essen aus, zu einer Kegelpartie im Freien, das hieß zu einem Kegeispiel auf der im Garten gelegenen Bahn eines Sommerlokales. Er ging nur alle vierzehn Tage zum Kegeln aus, sonst nie, denn er war ein sparsamer, nüchterner Mann.

Als er fort war, machte Lotte leise wie eine Fee Wasser warm für ihr Kind, wusch es, bereitete ihm Fencheltee, welchen sie ihm löffelweise einflößte. Sie hatte keine Ahnung, dass die Mutter unter halbgeschlossenen Lidern ihr Gehaben beobachtete. Als das Kind schlief, machte Lotte ein kleines Nachtlämpchen zurecht und setzte sich in eine dunkle Ecke zur Wache bei ihrer Mutter nieder. Die alte Frau tat, als ob sie schliefe, schlief auch wirklich ein, erwachte wieder, sah Lotte noch immer da hocken, regte sich aber nicht, und trieb das Spiel des Einschlafens und Aufwachens die ganze Nacht hindurch, bis sie im Morgengrauen merkte, dass die Lampe ausging und Lotte auf ihrem Stuhl in der Ecke eingeschlafen war. Da faltete sie die Hände zum Gebet und flehte um Verzeihung dafür, dass sie mit Gott gehadert habe, und bat den Erlöser, ihr zu helfen, ihr Kreuz auf sich zu nehmen, wie er das seine auf sich genommen. Danach richtete sie sich auf. Sofort erwachte Lotte und trat zur Mutter hin. Noch schlaftrunken und umhüllt von der Dämmerung fand die Tochter den Mut, die Mutter zu fragen: „Soll ich wirklich aus dem Haus? – Ich bin nur deshalb gekommen, weil der Kleine so krank war.“

„Das war auch deine verdammte Pflicht und Schuldigkeit“, sagte die Mutter kalt und streng, „sieh zu, dass du Geld verdienst. Das ist jetzt die Hauptsache – und wenn du als Dienstmädchen gehen musst, oder –“, in einer zagen, tollkühnen Hoffnung, „hast du vielleicht Aussicht, bald zu heiraten?“

„Ich habe nur das Kind“, antwortete Lotte.

„Na also.“ Damit stand die Mutter auf. Auch sie fragte in Zukunft nie nach dem Vater des Kindes. Sie war beruhigt und empört zugleich, als es Lotte gelang, ohne Weiteres wieder in der Klinik, in der sie gearbeitet hatte, anzukommen. Die Frau, selbst darunter leidend, dass sie wahrer Demut nicht fähig war, hätte lieber erlebt, die Ordnung der Welt, so wie sie sie sah und wie sie Geltung und Lebenshalt von ihr empfing, hätte ein Wesen, das so gefehlt hatte wie ihre Tochter, geächtet und ausgestoßen, auch wenn sie selbst, die Mutter, zuletzt doch nicht Kraft und um ihrer eigenen Fehle willen auch wohl nicht das Recht gehabt hatte, sie aus der Wohnung zu weisen.

Lotte hatte sofort ihr ganzes Geld der Mutter ausgeliefert. Es gab für sie in dieser Hinsicht nur noch einen aufregenden Briefwechsel mit dem Gutshaus, für das Baronin Elfriede zeichnete, und das ihre zurückgelassenen Sachen nicht schicken wollte, sondern auf Rückzahlung des im Voraus gezahlten Geldes bestand, die Lotte in drei Monaten auch bewerkstelligte. Danach erhielt sie ihr erbetenes Eigentum zugesandt. Lotte hätte gern dem alten Baron noch ein paar Zeilen geschrieben, ihn um Verzeihung gebeten, ihm eine andere, nichtschwätzende Schwester empfohlen, doch sie wusste nicht, wer ihm den Brief vorlesen würde, und ob man ihn überhaupt vorlesen würde, und ob die junge Baronin zuließe, dass man ihr eine Antwort gebe. Mitten im schon wieder fest eingelaufenen Geleise der nächsten Monate aber erhielt Lotte unverhofft einen Brief von dem Wirtschaftsfräulein auf dem Gute, und darin wurde ihr mitgeteilt, dass ein angesehener, junger Inspektor aus der ferneren Umgegend plötzlich bei dem Fräulein aufgetaucht sei und sich eindringlich nach Lotte erkundigt habe – das Fräulein habe aber nun nicht gewusst, solle sie ihm Mitteilung von dem besonderen Schicksal Lottes machen oder nicht, er jedenfalls habe immer wieder gesagt, dass er so viel daran denken müsse, wie er mit der Berlinerin getanzt habe, auf dem Kirchweihfest damals, und sie sei so sanft gewesen, wie bald nicht eine Frau, die er kenne. Ob Lotte sich denn nicht an ihn erinnere?, fragte die aufgeregte Schreiberin. So und so ungefähr sähe er aus. Und ob sie, das Fräulein, ihm auch wieder einen Gruß bestellen solle, wenn sie ihn noch einmal träfe. – Lotte aber lachte vor sich hin: Sie hatte anderes zu tun, als sich an irgendwen zu erinnern.

Die glückliche Hand

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