Читать книгу Die glückliche Hand - Rahel Sanzara - Страница 5

III

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Sie wurde hinausgeschoben vor das Haus. Da stand im Dämmern der Mann, einen niedrigen, einräderigen, notdürftig mit einer zusammengelegten Decke gepolsterten Schubkarren in den kräftigen Fäusten. Gehorsam nahm Lotte darauf Platz, und sofort setzte sich der Mann mit ihr in Trab, durchrannte, keuchend mit offenem Munde, in einem Lauf die Strecke vom Dorf bis zum Gutshofe, während Lotte vornübergebeugt dahockte und die Hände fest gegen ihren Leib presste, um ihn vor den Stößen des Karrens zu schützen. Es war ein Wunder und Lottes Glück, dass sie in dieser Sommerfrühe ungesehen an ihrem Ziel anlangten. Überall krähten schon kräftig die Hähne, der Mond und die Sterne, die der Geburt geleuchtet hatten, waren längst hinabgegangen, und kaum war es Lotte gelungen, ganz verwirrt von dem Toben des Hundes an seiner Kette, und mit Hilfe des Mannes, dessen Atem vor Anstrengung pfiff und röchelte, wieder durch das Waschküchenfenster ins Haus zu kommen, und kaum war sie in ihrem Stübchen auf ihr Bett gesunken, als alles um sie her erwachte, und die Arbeit auf dem Hofe begann. Während sie einschlief, quälte sie noch die aufspringende Befürchtung, ob ihr netter alter Herr in der Nacht nicht etwa nach ihr verlangt habe, obwohl das bis jetzt niemals vorgekommen war.

Sie schlief tief, bis man sie mit der Nachricht weckte, der Herr Baron rufe schon lange nach seinem Bad. Es war schwer für Lotte, ihre Gedanken zu ordnen, sich mit Geistesgegenwart zu wappnen und ihren schmerzenden, ruhesüchtigen Körper in Bewegung zu bringen. Aber schließlich gelang ihr alles. Da es ein Regentag war, brauchte sie ihren Patienten nur die kleine Tour spazieren zu führen, sie machte es ihm dann in seinem Lehnstuhl bequem, las ihm die Zeitung vor, worüber der alte Philosoph, die täglichen Dummheiten der Menschen gelangweilt ablehnend, bald eingeschlafen war. Sowie sie dies gewahr geworden, schlüpfte Lotte in ihr Zimmer, und in einer emaillenen tiefen Seifenschale kochte sie sich über dem Zylinder der Petroleumlampe etwas von dem Tee, den ihr die Hebamme mitgegeben hatte, denn er tat ihr gut gegen die ziehenden Schmerzen im Leib und gegen das Stechen im Kreuz.

Um die Mittagszeit, als sie ihre Freistunden hatte, lief sie, nun schon wieder im Besitz ihrer vollen Beweglichkeit, wenn auch nicht Kraft, ins Dorf. Sie sah ihr Kind wieder, als hätte sie bis jetzt nur von ihm geträumt und sähe es nun zum ersten Mal in der Wirklichkeit. Sie riss es an die Brust, die sich eben noch hob und senkte von dem eiligen Lauf, aber wie mit einem Schlag in wollüstige Ruhe und Unbeweglichkeit gebannt war, als der Mund des Säuglings sie berührte. Das Kind war nun in Hemdchen und Jäckchen gekleidet, sauber, wenn auch ärmlich und schmucklos eingebündelt. Zehn Tage lang wollte es die Hebamme noch bei sich behalten, da sie sonst nicht viel zu tun hatte, dann aber sollte es an eine andere Pflegestatt kommen.

Diese zehn Tage waren eine glückliche Zeit für Lotte. Sie brachte es fertig, teils heimlich, teils unter allen erdenklichen Vorwänden, vom frühen, noch dämmernden Morgen an bis zur dunklen Abendstunde gerechnet, dreimal, oft viermal an jedem Tag ins Dorf zu eilen, um das Kind zu sehen und zu nähren. In der Zwischenzeit flößte ihm die Hebamme Zuckerwasser und Mehlsuppe ein, und der kleine Körper rundete sich schnell, wurde glatt und rosig. Manchmal hielt das Kind beim Saugen die Augen schon geöffnet und sah mit unbewegtem und unergründlichem Blick die Mutter an, so dass sie erschauerte.

Am vierten Tag schickte die Hebamme Lotte aus, um das Kind von Amts wegen anzumelden. Der junge Gendarmeriebeamte wurde bei der Personalaufnahme rot für sie, Lotte dagegen war sich ihrer für diese Zeit und Gegend, besonders auch für ihren Stand sehr peinlichen Situation gar nicht bewusst, wurde nur verlegen und hilflos, als sie nach dem Namen gefragt wurde, den sie dem Kind geben wolle. Schließlich stotterte sie den Namen ihres Vaters hervor, und der Beamte trug ein: Hermann Schuhmacher, Sohn der unverehelichten Charlotte Schuhmacher aus Berlin.

Auch danach änderte sich im äußeren Leben von Lotte noch nichts, das Kind blieb noch gewissermaßen Amtsgeheimnis. Sie war nur entsetzt und kam sich vertrieben vor, als der Säugling zur neuen Pflegemutter übersiedelt wurde, denn die Schlafstube der Hebamme war Lotte eine zweite Heimat geworden.

Die Bauersfrau, die nun den Knaben zu sich nahm – eine Altsitzerin, die sich auf das Pflegegeld mehr freute als auf das Kind –, bestand darauf, dass er sofort getauft werde, denn einen Heiden nehme sie nicht unter ihr Dach. Lotte musste also ihr letztes erspartes Geld für ein mit Stickerei verziertes Taufkissen und einen Schleier, sowie für Kuchen und ein paar Flaschen Wein ausgeben, damit die Bauersfrau die Hebamme und auch gleich ein paar Gevatterinnen von sich einladen konnte, und so vor allem einmal zu einer netten kleinen Feier kam. Lotte aber blieb gerade noch so viel, um die Kosten für die kirchliche Zeremonie tragen zu können, nach deren Beendigung sie ja schleunigst zu ihrem Dienst zurückkehren musste.

Der Pfarrer hatte ihr in seiner Stube eine strenge Predigt gehalten, er schalt, dass gerade sie in ihrem Beruf, der doch gewiss ein christlicher und entsagungsvoller sein solle, der allgemeinen Sittenlosigkeit gefrönt habe. Lotte gestand zu, dass sie ihrem Berufe wahrscheinlich viel schuldig geblieben sei, dass sie ihn vielleicht nicht so ernst genommen habe, wie man wohl tun müsse – aber es sei eben stets etwas in ihr gewesen, wie ein Druck, wie eine Schranke, etwas, das sie gehindert habe, die wahre Befriedigung in der Arbeit zu finden, und naiv und treuherzig setzte sie hinzu, sie glaube aber, jetzt würde das besser werden.

Der Pfarrer war auch der erste Mensch, der sie nach dem Vater des Kindes, nach dem gewissenlosen Verführer, wie er ihn nannte, fragte. Lotte erblasste, sah angestrengt vor sich hin, sie forschte in dem Dunkel ihrer Erinnerung, doch nur ihres Kindes winziges, lockig behaartes Hinterhaupt tauchte vor ihr auf, und schließlich zuckte sie resigniert die Schultern und sagte leise: „Ich kann Ihnen da gar nichts sagen.“

„Das ist außerordentlich bedauerlich“, bemerkte der Pfarrer, der trotz aller Strenge und allen Abscheues ihr doch gern geholfen, gern eine Ehe gestiftet und das Kind legitimiert gesehen hätte.

Als Lotte ihr Portmonee unter dem Mantel hervorzog und das für die Taufe erforderliche Geld gleich auf den Tisch niederlegen wollte, war der Pfarrer von der in gewisser Weise unschuldigen und doch dem Notwendigen gegenüber so festen Menschlichkeit dieser jungen Frau gerührt. Er bot ihr an, die Gutsherrschaft von allem zu unterrichten, denn lange könne ja das Dasein des kleinen Wesens doch nicht mehr verborgen bleiben. Lotte war ihm dankbar, doch seine Mission stieß auf Schwierigkeiten.

Die Schwiegertochter von Lottes Patienten, die junge Baronin Elfriede, die eigentliche Herrin des Hauses und selbst kinderlos, verlangte trotz aller Vorstellungen und Ermahnungen des Pfarrers sofortigen Hinauswurf der Betrügerin und Dirne, wie sie Lotte benannte. Und wenn auch ihre Wut und ihr Verlangen schließlich an dem unerschütterlichen Widerstand des alten Barons abprallten, dem alles gleichgültig war bis auf die Wartung und Begleitung der ruhigen vernünftigerweise nicht schwätzenden Schwester, an die er sich so sehr gewöhnt hatte, so musste sich Lotte in Zukunft doch vorsehen, von der Hausfrau auf einem Korridor des Hauses oder in einem Zimmer allein angetroffen zu werden, um sich nicht mit ziemlich ungewählten Schimpfworten überschütten lassen zu müssen. Aber es machte Lotte auch kaum etwas aus, wenn sie solche einmal anhören musste. – „Wenn ich nur die Stellung behalte“, dachte sie, und voller Überlegenheit der glücklichen über die unfruchtbare Mutter dachte sie noch geringschätzig hinzu, „soll die nur immer feste keifen!“ – Den Eltern hatte Lotte nichts geschrieben, und keine noch so dringende Frage der Mutter, was sie denn mit dem Geld mache, von dem sie gar nichts mehr nach Hause schicke, konnte eine Antwort aus ihr herauslocken.

Lotte hatte nur eine Sorge: Das Kind verkam unter der nachlässigen Pflege der alten Bäuerin. Stets lag es, wenn Lotte angehetzt kam, in schmutzigen Windeln, die Haut war wund und durchgerieben, und um das vor Schmerzen schreiende Kind zu beruhigen, stopfte ihm die Alte, statt es trocken zu legen, unaufhörlich in Zucker getauchte Lutscher in den Mund, von denen es zuletzt einen starken Magen- und Darmkatarrh bekam. Vergebens versuchte Lotte gegen das alles anzukämpfen. Sie wusch die Windeln, badete das Kind und pflegte seine Haut, so oft sie nur konnte, sie blieb die Nächte bei ihm, um ihm den Haferschleim einzuflößen, den das mitleidige Wirtschaftsfräulein auf dem Gut ihr kochte und der den Katarrh heilen sollte. Lotte musste dabei nachts mit dem Kind auf der Treppe hocken, denn die Alte wollte in ihrer einzigen Stube Ruhe haben und schlafen. Das Kind nahm ab statt zu, und wurde immer jämmerlicher. Lotte bedrängte die Hebamme mit Bitten, den Kleinen doch wieder zu sich zu nehmen oder wenigstens eine andere Pflegestelle zu besorgen, konnte aber keines von beiden erreichen; alles war mit Erntearbeiten beschäftigt, und für ein fremdes, krankes Kind war nirgends Interesse. In ihrer Verzweiflung ging Lotte sogar ihren Patienten an, ob sie nicht das Kind oben in ihrem Stübchen haben könne, nur so lange, bis es wieder gesund sei. Der alte Herr lächelte liebenswürdig, tätschelte Lottes Hand, meinte aber, er schätze Szenen mit Baronin Elfriede allzuwenig und sei nicht mehr jung genug, um es mit weiblicher Borniertheit aufzunehmen – er konnte sich aber auch nicht enthalten, entsprechend seiner Lebensauffassung die zweifelnde Frage an Lotte zu stellen, ob sich denn überhaupt im Allgemeinen die rührenden Anstrengungen der Mütter lohnten?

Über die Antwort auf diese Frage dachte Lotte keine Sekunde nach, sondern sie tat etwas Feiges und Mutiges zugleich: Sie ließ sich unter dem Vorwand, das Kind in einem Heim unterbringen zu wollen, von dem alten Baron, der aus egoistischen Gründen mit diesem Plan einverstanden war, ihr Gehalt für den kommenden Monat vorausbezahlen – denn immer hatte sie die Vorstellung, dass sie vor allem mit Geld versehen sein müsse –, dann packte sie nur das Nötigste in einen kleinen Koffer zusammen, verließ mit ihm nachts das Haus, hockte sich bei der Bäuerin wie gewöhnlich mit ihrem Kind auf die Treppe, schlich sich aber nach einiger Zeit auch hier davon. Sie wanderte mit Kind und Köfferchen über eine Stunde weit in der mondlosen Dunkelheit bis zur nächstgelegenen Bahnstation, und nach weiteren Stunden des Wartens bestieg sie im Morgendämmer den in Frage kommenden Zug und fuhr heim.

Die glückliche Hand

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