Читать книгу Die glückliche Hand - Rahel Sanzara - Страница 4

II

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Lottes Gemüt war völlig ruhig und ausgeglichen, ihre Gestalt nur wenig verändert, sie umwickelte den Leib außerdem noch mit Binden und schaffte sich weite, formlose Kittelschürzen an. Gesundheitlich ertrug sie ihren Zustand ohne jede Beschwerde. Als sie zur herangekommenen Zeit ein erstes, kurzes und schnell vorübergehendes krampfartiges Ziehen im Kreuz verspürte, machte sie sich auf, wanderte nachts eine Stunde weit ins Dorf und vertraute sich der Hebamme an. Diese meinte, es wären mindestens noch vierundzwanzig Stunden Zeit, und versprach Lotte, nachdem diese ihr ein Fünfmarkstück zugesteckt hatte, sich ihrer anzunehmen und auch schleunigst eine Pflegestatt für das Kind zu suchen. Lotte ging wieder zurück, ohne jede Besorgnis vor dem Kommenden, freilich auch ohne jedes Bedenken Vater, Mutter oder denen gegenüber, denen sie verbunden und verpflichtet war. In einem heiligen Egoismus schlief sie den Rest der Nacht gut, doch als sie ihren Patienten am nächsten Vormittag spazieren führte, ward sie sich an einem Zeichen bewusst, dass die Geburt begann. Sie konnte sich nicht anders helfen, als dass sie den alten Herrn zur nächsten Bank führte, ihn sich dort niederzusetzen zwang, um dann trotz seines Murrens unter einer flüchtigen Entschuldigung ins Haus zurückzueilen.

Die Beschwerden der ersten Wehen kamen, gingen vorüber, kamen wieder, vergingen noch einmal, indes Lotte ihren Dienst weiter versehen musste. Nachts endlich schlich sie sich wieder aus dem Haus, weil sie Stöhnen und Schreie kaum noch unterdrücken konnte. Sie hatte sich ein paar Handtücher unter den Arm gedrückt und ihr weites, schwarzes Schwesterncape genommen.

Der Hofhund blaffte auf, als sie aus dem ebenerdigen Fenster der Waschküche ins Freie kletterte, und sie musste ihn unter Krämpfen und unterdrücktem Stöhnen durch Koselaute beruhigen. Sie gelangte noch in das nächste Kornfeld, wo zwischen junigrünen, doch schon beinahe mannshohen Halmen der in Gebärkrämpfen zuckende und arbeitende Leib sie in die Knie zwang. In letzter Überlegung hob Lotte die Kleider von sich ab, um sie möglichst sauber zu halten, und dann, kniend, stöhnend, mit geschulter Hand ihren Leib pressend, gab sie neues Leben von sich. Bald konnte sie das Kind erkennen, erblickte alle Gebilde der Geburt so vollkommen vor sich, wie sie es auf den Lehrtafeln normale Geburt als angehende Krankenschwester gesehen, aber in den Pflegejahren praktisch nie erfahren hatte.

Das Kind schrie sofort kräftig auf – von einem Himmel in lichter Nachtbläue leuchtete auf Mutter und Kind ein Mond herab, abnehmend im ersten Viertel. Erregt flatterten und schrien aufgescheuchte Lerchen durch die Halme, deren Nester in der Nähe waren. – Lotte presste eines der Handtücher gegen den blutenden Leib, das andere warf sie über das Kind, dann sank sie, von Schwäche überwältigt, auf den Rücken, schloss die Augen, und für eine Weile verging ihr das Wimmern des Neugeborenen. Die Nachwehen weckten sie wieder auf, von Neuem massierte und drückte sie ihren Leib, bis sich auch der letzte Akt der Geburt vollzogen hatte. Sie holte aus ihrer Tasche ein Messer hervor, das sie immer bei sich hatte, um für ihren Patienten Blumen oder Reiser abzuschneiden, damit entnabelte sie das Kind, verband die Wunde mit ihrem Taschentuch, hüllte das still gewordene, winzige Wesen fester in das Handtuch ein, klopfte es zart auf Rücken und Gliederchen – und endlich öffnete sie ihre Taille und legte das Neugeborene, entgegen der ihr bekannten Lehre der modernen Säuglingspflege, die das Kind in den ersten vierundzwanzig Stunden so gut wie fasten ließ, an die harte, heiße, längst der Entlastung harrende Brust. Zu ihrem Glück und ihrem Erstaunen begann das Kind auch sofort geschickt und kräftig zu saugen, und nach anfänglichem Schmerz durchzitterte die Mutter ein solches Gefühl der Wonne, die stumpfe und verträumte Seele durchbebte ein solches Glück, den ganzen Menschen durchfuhr ein so seliges Empfinden seiner selbst und seines Daseins, dass Lotte den Kopf zurückbog, und mit Augen, in denen stille Tränen standen, zum Himmel aufblickte, zu den flimmernden Sternen, zu dem schwimmenden Mond.

Der Mond brachte sie wieder zu sich. „Es ist ja abnehmender Mond“, dachte sie erschrocken, und irgendeine uralte Lehre im Blut, hatte sie plötzlich Angst, dass dies kein gutes Zeichen für das Neugeborene sei. Vorsichtig löste sie den saugenden Mund von ihrer Brust, wickelte das Kind aus dem Tuch und besah sich genau und angstvoll forschend den kleinen, blutig verschmierten Leib. Sie erkannte nun, dass das Kind ein Knabe war, zählte Fingerchen und Zehen, bewegte die Gelenke, weichte mit Speichel die verklebten Liderchen auf, Silbernitratlösung zum Einträufeln in das Auge des Neugeborenen habe ich nun einmal nicht, schoss es ihr von ferne durch den Kopf, dann öffnete sie den winzigen Mund und prüfte nach, ob die Zunge locker sei. – Zuletzt schoss Stolz in ihr hoch. „Ein Junge“, dachte sie, „und so kräftig und so schön, gar kein bisschen verdrückt das Köpfchen.“

Sie hüllte das Kind wieder ein, hielt es auf den Armen und blieb so im Kornfeld sitzen, lichte, laue Nacht um sich – die Lerchen waren wieder ruhig geworden, kein Grillengezirp, kein fernes Froschquaken war mehr zu vernehmen. Die Mutter hörte nur ihr Herz aufgeregt und stürmisch klopfen in der Stille, und plötzlich überwältigte sie eine Ahnung von alledem, was sie bisher nie verspürt, was bis zu diesem Tag nicht mitgewachsen war mit ihrem Wachsen: Des Lebens Vielfalt, des Lebens Härte, der Kampf des Daseins, die Wonne des Mutes, des Lebens Glück und Schönheit – alles auf einmal, zu viel, um selbst jetzt wirklich Wurzel in ihr zu fassen, aber genug, um sie aus ihrer Entrückung in eine veränderte, reichere Wirklichkeit zurückzubringen.

Sie wollte aufstehen; vorsichtig erhob sie sich erst auf die Knie, dann kam sie mühsam auf die Füße. Leib und Beine waren noch wie im Krampf, schmerzhaft und ungelenk, hölzern schwankte ihr ganzer Körper. Als sie sich niederbeugte, das Kind aufzuheben, wurde ihr schwarz vor den Augen, und wie blind erfasste sie das kleine Bündel, während sie das Blut in Stößen aus ihrem Leibe fluten fühlte. Aber sie hielt sich aufrecht. – Lange dauerte es, bis sie ihre Kleider geordnet hatte, dann barg sie das schlummernde, sanfte Lebenswärme aushauchende Kind unter dem weiten, schwarzen Cape und setzte sich in Gang. Sie setzte vorsichtig Schritt vor Schritt mit aneinandergepressten Beinen, um nach Möglichkeit das Blut zurückzuhalten. Die jungen weichen Halme umschmiegten und umstreiften sie bis zur Brust, und wehe empfand sie es plötzlich, dass sie unter ihren Füßen einige von ihnen zertrat. Irgendwelches Nachtgetier huschte fliehend vor ihren Schritten weg, ab und zu piepste und schrie es angstvoll auf um sie her, dann war wieder nur das leise Streifen und Rascheln der Halme in der Stille.

Endlich gelangte Lotte auf die Landstraße. Hier fühlte sie sich entblößt und ohne jeden Schutz. Angstvoll um sich spähend, Menschen und Gefahren fürchtend, hastete sie jetzt vorwärts, nicht mehr auf ihren Zustand achtend, eine immer neu einströmende Kraft von der kleinen, warmen Last auf ihren Armen gewinnend. Sie kam ohne Zwischenfälle und ohne, dass sie jemandem begegnete, im Dorf bei der Hebamme an, welche, ohne weiter zu fragen, ihr das Kind abnahm, ihr aus den Kleidern half und sie auf das noch warme Bett legen ließ, dem sie selber eben entstiegen war, neben ihren nach kurzem Aufblinzeln ruhig weiter schnarchenden Mann.

Die weise Frau wollte kaum glauben, dass auch die Nachgeburt schon erfolgt sei, doch vor der sachgemäßen Schilderung der Krankenschwester mussten ihre Zweifel schwinden. Sie verabreichte also der Wöchnerin einen zusammenziehenden Tee, der die zum Glück schon verminderte Blutung fast gänzlich zum Stillstand bringen half; sie badete das Kind, das mit kräftigem Gequäke auf diese Prozedur antwortete, so dass sich der schlafende Mann brummend von der einen Seite auf die andere warf. Um dem Kind den Mund zu stopfen, wurde es an die Brust der Mutter gelegt, und in der augenblicklich eintretenden Stille schlief die erschöpfte Wöchnerin ein.

Als Lotte wieder geweckt wurde, legte sich zwar instinktiv ihre Hand um den winzigen Körper an ihrer Brust, doch sie wusste eine geraume Weile nicht, was mit ihr geschehen war. Sie starrte mit abwesendem Blick ihrer feucht glänzenden Schwarzkirschenaugen der Hebamme ins Gesicht und versuchte sich aufzurichten – doch ihr Kreuz schmerzte, als sei es zerbrochen, und das machte ihr wieder alles klar.

Es ging in die dritte Stunde des Morgens, und die Hebamme fragte, was nun geschehen solle. Die Petroleumlampe war schon verlöscht, dämmriges Licht von einem weißgrauen Himmel drang durch die kleinen Fenster in die von muffiger Luft erfüllte Bauernschlafstube.

Die Wöchnerin war sehr bleich, doch ihr Gesicht war ruhig und fest, nicht so aus den Fugen, wie sonst meist die Züge der Frauen nach Geburten vor der Hebamme erschienen waren. Auch der Knabe war nicht mehr so unmenschlich gerötet, sein Gesichtchen schon sehr fein und glatt. Er schlief, die Fäustchen vor die Augen gepresst, ein unbegreifliches Wunder der Mutter, die ihn hervorgebracht hatte. Trotzdem erhärtete sich in Lotte jetzt nur der eine Gedanke, dass sie fort müsse von da und alles tun, um ihre bürgerliche Existenz zu behaupten. Sie suchte nach ihrer Rocktasche, zog das Portmonee hervor, gab der Hebamme Geld.

„Ich muss aufs Gut zurück, wird es gehen?“

„Warum nicht?“, antwortete die weise Frau gleichmütig, „das ist schon mehr als einmal gegangen. Eure Großmagd hat ein Kind gekriegt, da hat auch keiner was davon gemerkt.“

„Was, unsere Pauline?“, fragte Lotte erstaunt und getröstet zugleich.

„Natürlich! Ist jetzt schon drei Jahre alt, die Göre! Na, Sie werden ja wohl auch den Mund darüber halten. – Geben Sie noch etwas Geld, damit ich Kinderwäsche besorgen kann, das Wurm kann doch nicht immer nur in Laken eingewickelt bleiben.“

Lotte gab von Neuem Geld, sie hatte sich wohlweislich reichlich davon eingesteckt. Daraufhin kramte die Hebamme eine sichtbar schon getragene, ziemlich angeschmutzte Gummileibbinde hervor und passte sie durch Abstecken mit Sicherheitsnadeln Lotte an, nachdem sie ihr vorher das schmerzende, wie gelähmte Kreuz und die Beine mit einem Lebenselixier eingerieben hatte.

„Können Sie neun Mark die Woche zahlen, so weiß ich eine gute Pflegestätte für das Kind“, sagte sie dabei.

„Doch, das kann ich!“, erwiderte Lotte, zu jedem Opfer bereit –, und wenn ich es dem Alten aus der Tasche mause, dachte sie für sich –, „ich muss nur meine Stellung behalten, dann kann ich es zahlen“, fügte sie laut hinzu.

„Na ja, ’ne ganze Weile wird das schon gehen“, meinte die Hebamme, „wir können eben nur das Kind nicht gleich taufen lassen, aber es sieht ja auch so gesund und kräftig aus, wird schon nicht gleich als Heide sterben – das Beste ist ja, es bleibt vorläufig in Ihrer Nähe, da können Sie es auch ab und zu stillen, Sie haben ja Milch wie eine Kuh, steigt Ihnen ja sonst zu Kopf, das Zeug. Dann später können wir das Wurm weiter weg geben und taufen lassen.“

„Ich kann’s doch nicht weit weggeben“, murmelte Lotte schwach, aber voll unerschütterlicher Bestimmtheit vor sich hin.

„Na, dann kommt’s eben heraus“, meinte die weise Frau gleichmütig.

„Ja, wie hat’s denn die Pauline gemacht?“, fragte Lotte, begierig nach einem Ausweg.

„Die hat’s am dritten Tag ihrer Mutter hingebracht“, berichtete die Hebamme, und jetzt war eine gewisse lauernde Neugier in ihrer Stimme.

„Ach, du lieber Gott“, seufzte Lotte schwer, der diese Möglichkeit gerade das Ohr, nicht aber den Sinn streifte, indessen sie sich unter den nachhelfenden Händen der Frau aufrichtete, aus dem Bett stieg und taumelnd auf ihre Füße zu stehen kam. Während die Frau ihr die Kleider wieder überwarf, waren die Augen der Wöchnerin festgesaugt an dem nun in eine ausgewaschene graublaue Barchentwindel gewickelten Kind, dessen tiefrosafarbenes Köpfchen in der Dämmerung leuchtete wie die aufbrechende Knospe einer roten Blume.

Ahnungslos trug Lotte ihr Geschick: Dass niemand teilnahm an dem Glück ihrer Mutterschaft, dass kein Mann dankbar ihren vom Gebären müden Leib umfing, kein Gatte ihr bleiches, hold verwandeltes und belebtes Gesicht betrachtete, kein Vaterblick ihr Neugeborenes umfasste. Sie musste sich von der Hebamme auf- und vorwärtstreiben lassen und wanderte nach ihrem Befehl, um zu üben, zweimal die Stube auf und ab – daraufhin wurde ihr aber so schwach, dass sie sich auf den nächsten Stuhl niedersetzen musste.

„Geben Sie noch eine Mark, dann bringt mein Mann Sie nach Hause“, schlug die Hebamme vor. Lotte gab. Die Frau trat an das Bett des tief schlafenden Mannes, rüttelte ihn an den Schultern, riss an seinen Ohren, bis er mit einem Fluch aufsprang. Er blickte in der grauen Morgendämmerung wild und wütend um sich, als er aber die halb ohnmächtige, in sich zusammengesunkene Gestalt Lottes sah und ihm seine Frau außerdem noch das Markstück vor die noch verschlafenen Augen hielt, um es dann allerdings schleunigst in ihre Schürzentasche verschwinden zu lassen – da besänftigte sich der Zorn des Mannes. Während er sich nun in aller Hast ankleidete, legte die Hebamme das Kind noch einmal an die Brust der Mutter, rüttelte und schüttelte es aus seinem Schlaf auf, bis endlich auch der winzige Mund zu saugen begann; doch nach wenigen Zügen war das kleine Wesen wieder in Schlaf versunken.

Für die Mutter aber war es, als hätte dieses kurze Saugen ihr statt Kraft genommen neue Kraft eingegeben, denn als man das Kind ihr wieder fortnahm, stand sie auf und ging sicher und eilig zur Tür. Sie war plötzlich aufgeregt und sehr besorgt, ungesehen vor dem Morgen nach Hause zu kommen. Die Hebamme steckte ihr schnell noch etwas von dem zusammenziehenden Tee zu, auch Lebensöl, das in Tropfen genommen werden sollte gegen die Schwäche.

In dem Augenblick, als die Mutter über die Schwelle der Tür schritt, schrie das Kind mit jammervollen Quaklauten aus seinem Schlafe auf, und dieser Schrei durchfuhr Lotte bis ins Tiefste: Ihr Herz wurde wie von innen geschlagen, ihr Blut in den Adern wurde getroffen, bis in die Fingerspitzen riss es an ihren Nerven. Alles war Schmerz und Glück zugleich. Glück war es durch die tiefe Gewissheit, dass dieser wimmernde Schrei in der ganzen Welt nur ihr gelten konnte, und Schmerz war es, mit diesem Schrei im Ohr davoneilen zu müssen, als fliehe sie ihn, während doch alles in ihr drängte und dazu trieb, diesen süßen Laut noch mehr und länger in sich aufzunehmen, so lange, bis er nur noch in ihr klang, ihr Kind aber ruhig war, Schutz und Wärme und Nahrung in ihren Armen hatte.

Die glückliche Hand

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