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Kapitel 1

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Spuren im Schnee

Der Sud aus Schwefeldolde und altem Wein roch würzig, zu süß und so faulig, dass sich Geryims leerer Magen verkrampfte. Dennoch stand die heiße Flüssigkeit für das vage Gefühl von Heimat, dem er verbissener denn je nachjagte.

Zitternd und benommen vor Hunger hob er den Blick, noch nicht bereit, den Becher mit dem Sud zu leeren. Er war allein auf der Lichtung. Die krumm gewachsenen Fichten und das dornige Buschwerk im Umkreis waren ebenso von dichtem Schnee bedeckt wie der unebene Erdboden. Das allgegenwärtige Weiß blendete Geryim, als er sich einem tief verankerten Instinkt folgend nach der dunklen Gestalt eines gewissen Blauschwanzadlers umsah. Doch Syv war ebenso wenig in der Nähe wie einer seiner Kameraden. Er selbst hatte sie fortgeschickt. Sie lagerten an der Küste, wärmten sich am lodernden Feuer und warteten auf seine Rückkehr.

Geryims Finger bebten heftiger denn je, doch er verstärkte seinen Griff um den schlichten Holzbecher. Der Schnee war im Verlauf des Tages an der Oberfläche angetaut und überfror seit dem Sonnenuntergang beständig. Das junge Eis schnitt ihm in die Fußsohlen, während der Wind wie ein gieriger Räuber nach seiner nackten Haut griff.

Es war weder die rechte Zeit noch der rechte Ort. Sie waren viel zu weit in den Süden gesegelt und damit endlose Meilen von den kargen Weiten des Ingen Tjadis-Gebirges entfernt, aber er hatte auf diesen Wunsch bestanden und zu seiner Überraschung hatten sämtliche Mitglieder der Bruderschaft zugestimmt. Sei es, weil sie ihn mehr schätzten, als ihm bewusst gewesen war, oder weil sie darauf bauten, dass er nach dieser Nacht ein anderer sein würde.

Er hoffte es selbst. So sehr, dass es ihn gegen die Kälte und die untergründige Angst vor dem, was ihn erwartete, abschirmte.

Zu Geryims Füßen verlor die Glut der winzigen Feuerstelle die letzte Farbe und hüllte sich in lebloses Schwarz. Es war Zeit; zu früh und gleichzeitig viel zu spät.

Ein letztes Mal tastete er nach Syvs Geist, um über dessen Sinne seine Wahrnehmung und damit seinen Horizont zu erweitern, nur um es sich im selben Atemzug zu verbieten. Diese eine Aufgabe musste er allein bewältigen. Er würde die Regeln nicht brechen. Niemand würde je davon erfahren, doch er selbst würde es wissen, und das wäre schlimm genug.

Geryim schloss die Augen und führte den Becher an die Lippen. Der Sud schmeckte genauso, wie er roch, und benetzte seine Zunge mit einer derart süßen Fäule, dass er sich die Hand auf den Mund pressen musste, um das Gebräu nicht auszuspucken. Es brauchte ein paar lange, erzwungen tiefe Atemzüge, um seinen rebellierenden Magen zu beruhigen. Dann fiel Geryim der Becher aus der Hand. Die letzten dunklen Tropfen verfärbten den Schnee in einer Farbe, die er nicht benennen konnte. Dafür hörte er sie in seinem Blut singen, immer schneller, immer höher, immer lauter. Der Waldsaum drehte sich um ihn. Eingeflochten in die Äste flatterte ein Faden aus Licht.

Geryims Knie wurden weich. Er war überzeugt, dass sie jeden Augenblick nachgeben würden. Doch stattdessen folgte er plötzlich dem tanzenden Band, das sich innerhalb eines Wimpernschlags aus dem Licht gesponnen hatte. Es hatte dieselbe Farbe wie die Tropfen im Schnee und eine Beschaffenheit, die er nicht beschreiben konnte. Ledrig vielleicht oder doch wie das feine Fell eines jungen Hirschs, dessen erster Frühling von Regen und frischen Knospen bestimmt gewesen war?

Nur der schneidende Wind auf seinen Wangen und seiner Brust verriet ihm, dass er rannte. Für die Bewegung selbst hatte er jedes Gefühl verloren. Das war gut. Empfindungen hatten auf dieser Jagd keinen Platz. Es gab nur ihn und seinen Gegner. Die Herausforderung, der er sich stellen musste, um endlich zu dem zu werden, der er schon vor Jahren hätte sein sollen.

Und wenn es ihm gelang…

Ein Band aus Farbe wob sich durch seinen Geist, kaum mehr als ein roter Schleier. Er barg Sinn in sich und damit den Grund, warum Geryim nicht versagen konnte. Durfte. Sonst würde sich alles, was rot war, vor seinen Augen auflösen und seiner Reichweite entrissen werden. Dieses Rot, das nun so nah war und auf ihn wartete. Ihnen war nicht viel Zeit vergönnt gewesen. Das Wenige, was sie bekommen hatten, hatte Geryim ihnen verdorben. Aber wenn er heute siegreich war…

Nicht jetzt. Nicht während der Jagd, flüsterte ihm eine Stimme zu. Er kannte sie. Sie war Teil seiner Vergangenheit, doch er wusste nicht mehr, wem sie gehört hatte. Ignorieren durfte er sie dennoch nicht.

Haken schlagend lief er durch den Wald. Ihm war bewusst, dass seine Zehen vor Kälte taub wurden, dass seine Lungen vor Anstrengung brannten und dass ihm immer wieder eisiger Schnee auf den Körper rieselte, wenn er im Weg hängende Äste beiseite-stieß. Gleichzeitig spürte er nichts davon. Er folgte dem flirrenden Band, das mit jedem Atemzug breiter zu werden schien, bis es vor ihm verharrte, verschwamm und sich dann auf ihn stürzte.

Geryim geriet ins Taumeln. Ihm war, als hätte man ihm die Augen verbunden. Und doch sah er die Niederung, in die es ihn getrieben hatte, und auch seinen Gegner, der ihm mit gesenktem Kopf entgegenblickte.

Ein Herzschlag. Ein kurzer Blickkontakt. Dann wussten sie alles übereinander, was es zu erfahren gab. Geryim sandte ein kurzes, aber inniges Gebet an Gor und dankte ihm, dass er ihn mit einem so ehrenwerten Gegner bedacht hatte.

Der Keiler war alt und müde. Einer seiner Hauer war auf halber Länge abgebrochen und zersplittert, das Fell an seinem Hals so räudig, dass man die Narben vergangener Kämpfe erkennen konnte. Doch in seinen kleinen, klugen Augen stand die Erinnerung an bessere Tage. Egal, wie sehr ihn seine Knochen schmerzten, egal, wie genau er darum wusste, dass dies sein letzter Winter war, würde er nicht aufgeben, sondern diese Schlacht austragen.

Geryim fragte sich benommen, ob es vielleicht Gor selbst war, der dem alten Keiler seine Kraft lieh und ihm damit ermöglichte, ein letztes Mal zu zeigen, aus welchem Holz er geschnitzt war. Es würde zu dem Halbgott passen, den alle Wargssolja und damit selbst Verlorene wie Geryim so glühend verehrten. Gor liebte die Jagd, aber die Wälder und ihre Bewohner liebte er noch mehr. Und was manchem Städter wie ein Widerspruch vorkam, war für Geryim schlichtweg eine der großen Wahrheiten, die ihm im Blut brannten.

Der Keiler schlug schnaubend mit dem Kopf. Wie Geryim bereits zuvor gewusst hatte, was in dem mächtigen Tier vor sich ging, wusste er nun auch, dass es die Geduld mit ihm verlor. Mit jedem verschwendeten Herzschlag stand der Witwenmond höher am Himmel und ließ den Schnee zu ihren Füßen und Klauen heller leuchten. Bald würde das Licht ihre Augen reizen, bis sie schneeblind waren, und dann wäre ihm der Keiler mit seinen feineren Sinnen überlegen. Offenbar kein Vorteil, den das Tier für sich zu nutzen gedachte. Falls es auf diese Weise denken konnte.

Geryim blinzelte. Die Schwefeldolde war in seinem Kopf, in seinem Blut und in seinem Herzen. Sie machte ihn sowohl träge als auch hellwach, betrunken wie nüchtern. Seine Hand zitterte nicht länger, als er nach seinem einzigen Kleidungsstück – einem schmalen Ledergurt um Brust und Hüfte – tastete. Lautlos zog er den Langdolch aus der Scheide und wog die vertraute Waffe in der Hand. Sie war bereits sein Werkzeug gewesen, als er ein an Körper und Geist tauber Meuchelmörder im Dienst eines halb vergessenen Handelsherren gewesen war. Sie hatte ihm immer beigestanden. Heute würde es nicht anders sein.

Geryim gab seiner inneren Stimme nach, den Dolch respektvoll an die linke Brustseite zu führen. Daraufhin bildete er sich ein, den Keiler einen seiner Vorderläufe beugen zu sehen, um den Gruß zu erwidern. Aber vielleicht wurden dem Schwarzkittel auch nur die Beine schwer.

Der Kampf begann, ohne dass es einer weiteren Geste bedurft hätte. Geryim dachte nicht. Stattdessen ließ er sich von Erinnerungen leiten. Manche schienen nicht seine eigenen zu sein. Er wusste um die Gefahr, die von den Hauern des Keilers ausging, und auch, dass seine eigenen Knochen zuerst splittern würden, sollten sie ungebremst aufeinandertreffen.

Daher vertraute er sich seiner Beweglichkeit und seinen Instinkten an, als der Keiler mit gesenktem Kopf auf ihn zustürmte. Geryim wartete bis zum letzten Moment, bevor er beiseitesprang. Herber Moschusgeruch strich an ihm vorbei. Sein Unterarm kribbelte, als er mit rauem Fell in Berührung geriet. Das Schnaufen des Keilers drang überlaut in Geryims Ohren und löschte beinahe alles andere aus. Nur sein Herzschlag dröhnte weiterhin zuverlässig in seinem Kopf und band ihn an die Wirklichkeit, während der Rest von ihm in eine andere Welt eintrat.

Geryims Beine ließen ihn ohne sein Zutun springen und rennen. Seine Augen nahmen Gelegenheiten wahr, die er selbst nicht bemerkte. Und sein Arm suchte nach jenem winzigen Moment zwischen Ein- und Ausatmen, in dem er niederfahren und den Kampf für sich, für sie entscheiden konnte. Jetzt.

Lodernder Schmerz fuhr ihm in die Schulter. Vor seinen Augen leuchteten rote Flecken auf und schwarzes Fell flog durch die Luft. Schulterblatt, behauptete die Stimme in Geryims Hinterkopf. So kommst du nicht weit.

Sie hatte recht. Es reichte nicht, dem Keiler in die Seite zu fallen und darauf zu hoffen, dass der Dolch weiches Fleisch fand. Er musste den Einsatz erhöhen.

Beim nächsten Ansturm wich Geryim nicht aus. Er sah den Keiler auf sich zurennen; eigentümlich langsam, wie er sich einbildete.

Auch, wenn er sich vorbereitet und seinen Körper weich gemacht hatte, trieb ihm der Aufprall die Luft aus den Lungen. Er hörte einen Aufschrei, der nur sein eigener sein konnte, und ein Keuchen, das von ihnen beiden stammen mochte. Etwas barst. Ein grauenerregendes und gleichzeitig tief befriedigendes Schmatzen war zu hören, gefolgt von einem Ächzen.

Der Schmerz traf Geryim so unerwartet, dass er versucht war, die Augen zu verdrehen. Er konnte die Hitze spüren, die ihm über das Bein rann, und mit ihr das aufgeregte Flattern in seiner Kehle.

So sollte es nicht enden, ging es ihm durch den Kopf. Das ist nicht richtig.

Dann hörte er das Stöhnen. Es erklang über ihm und drückte ihn gemeinsam mit einem unerklärlichen Gewicht in den Schnee. Die Last war kaum erträglich und dasselbe galt für das Gefühl des rauen Fells, das sich in seinen Mund drängte.

Ein Hauch von Bewusstsein schlich sich wie das Flackern einer Kerze in einer nachtschwarzen Kaverne an ihn heran. Er spuckte aus und schmeckte Blut. Seine suchenden Hände fanden zitternde Flanken, die sich unter gewaltsamen Atemzügen hoben, nur um gleich darauf ineinander zu fallen.

Der Tod kam auf leisen Sohlen. Er besaß keine Gestalt außer den schaurigen kleinen Lauten, die Geryim in seinem Brustkorb widerhallen spürte. Es waren nicht seine eigenen. Er wandte sich innerlich wie äußerlich seinem Gegner zu und strich durch dessen Fell, als wäre der Keiler ein Freund, der getröstet werden musste. Im Grunde war er das auch.

»Danke«, hörte Geryim sich raunen. »Danke für dein Geschenk.«

Einer Antwort gleich lief ein letztes Beben durch den schweren Leib. Dann lag das gewaltige Tier still, Geryims Dolch nach wie vor in der breiten Brust versenkt.

* * *

Als Geryim zu sich kam, war er bereits auf halbem Weg zur Küste. Zuerst bemerkte er den Schmerz, der von allen Seiten auf ihn eindrang und sich in seinem rechten Oberschenkel verdichtete. Dann spürte er das Gewicht in seiner Hand und dachte, dass es nicht recht war, nur das Herz seines Gegners heimzubringen.

In einem anderen Leben wäre er ebenfalls erschöpft nach Hause gestolpert – wahrscheinlich stolzer, als er es jetzt war – und hätte den Beweis für die erfolgreiche Jagd seinem Stamm gezeigt. Im Anschluss wären einige seiner Brüder und Schwestern aufgebrochen, um sich des Keilers anzunehmen. Die Wargssolja verschwendeten niemals auch nur eine Faser eines erlegten Tieres und fingen sogar dessen Blut auf. Es war nicht ehrenhaft, ein Leben zu nehmen, nur um die Gabe verwesen zu lassen. Aber Geryim war nicht bei seinem Stamm und die, die ihn begleiteten, wussten es nicht besser.

Je länger er unterwegs war, desto schmerzhafter krampften seine Muskeln. Außerdem wurde er sich der Schwäche bewusst, die bisher von Anspannung und Aufregung übertüncht gewesen war.

Sothorn war dagegen gewesen, dass er vor der Jagd tagelang fastete. Hatte gemeint, dass keiner von ihnen derzeit gut genug genährt war, um freiwillig auf Essen zu verzichten, und dass die Kälte ihr Übriges tun würde, seine Kraft auszuzehren. Er hatte nicht verstanden, dass Geryim es richtig anfangen musste, wenn dieses Ritual etwas wert sein sollte. Entsprechend düster war Sothorns Blick gewesen, als sie sich voneinander verabschiedet hatten.

Vor ihm tauchten die Überreste einer ausgebrannten Feuerstelle auf, die er allzu gut kannte. Geryim zog die Oberlippe hoch und gab ein Geräusch zwischen Fauchen und Schnarren von sich. Von hier war er aufgebrochen, was mit anderen Worten bedeutete, dass sein Marsch durch die Nacht lange nicht beendet war. Er hatte gehofft, in seinem traumverlorenen Zustand weiter gekommen zu sein.

Er umfasste das inzwischen kalte Herz des Keilers fester und kreuzte die Arme vor der Brust, um seinen nackten Oberkörper zu schützen. Die Kälte gewann mit jedem Wimpernschlag an Biss. In ihrem Schatten lauerte die Verlockung, sich in den Schnee fallen zu lassen und auszuruhen. Wenn er erst einmal schlief, konnte der Frost ihn zudecken, ohne dass er Geryim erreichen konnte. Es hieß, im letzten Augenblick vor der großen Dunkelheit würde alles warm und weich. Wie eine lang ersehnte Umarmung.

Geryim drückte das Kinn auf die Brust. Es war eine andere Umarmung, nach der er sich sehnte. Und wenn er erst das Lager erreicht hatte, würde sie ihm erstmalig zustehen. Dieser Gedanke erfüllte ihn mit einer Willenskraft, die ihm selbst sein zitternder Körper nicht nehmen konnte.

Einen unbestimmten Zeitraum später spürte er ein vertrautes Ziehen in seinem Hinterkopf, eine zaghafte Anfrage, gefolgt von einem Gefühl der Erleichterung, als er das innere Tor öffnete. Syv stand ganz in der Nähe hoch am Himmel und rief Geryim zu sich. Wahrscheinlich trug sein Schrei bis an die Küste und kündigte seine Rückkehr an.

Bald, versprach er Syv wortlos. Bald ist es vorbei und dann kannst auch du dich schlafen legen.

Syv sandte ihm ein Gedankenbild seiner selbst, wie er den Kopf unter dem Flügel barg und die Federn gegen die Kälte aufstellte. Etwas Tröstliches ging davon aus.

Geryim roch das Feuer, bevor er es sah. Der Angriff des Feuerelementars auf ihre einstige Heimat lag Monate zurück und doch nicht lange genug, als dass Geryims erste Reaktion nicht aus einem scharfen Luftholen bestanden hätte. Dann lieferte sein Verstand ihm eine weit friedlichere Erklärung für den Rauch und mit ihm die Erinnerung an die Unterstände und Zelte, die die Bruderschaft auf dem kargen Grasstreifen zwischen Strand und Wald errichtet hatten.

Geryim rief seine letzten Kräfte wach und verlängerte seine Schritte. Der Boden war abschüssig und der Schnee von zahlreichen Sohlen sowie einigen Pfoten und Hufen zertreten. Jedes Mal, wenn er die Richtung anpassen musste, um einen Baumstamm zu umrunden, sprang vor ihm ein flackernder Lichtpunkt umher. Erst im Näherkommen erkannte er, wie groß das Feuer war, das sie zu seinen Ehren in den Himmel schlagen ließen. Die Brust wurde ihm eng und drohte, unter seinem Herzschlag zu bersten. Ihre Stimmen riefen ihn zu sich.

Fast geschafft.

Mit seinem Eintreten in den Lichtkreis erstarb jeder Laut. Geryim spürte die Blicke der Bruderschaft – eine Reihe dunkler Gestalten gegen den fast schwarzen Nachthimmel – auf sich ruhen und ihr Schweigen ließ ihn beinahe glauben, taub geworden zu sein.

Dann trat eine der schattenhaften Gestalten auf ihn zu. Eine bleiche Maske verdeckte ihre rechte Gesichtshälfte. Der Widerschein der Flammen tanzte über die kunstvoll in den Knochen geschnittenen Vertiefungen und erweckte ihn zu neuem Leben.

Die rituelle Frage schwebte Geryim entgegen. »Was bringst du mir, Sohn des Wargen?«

Er richtete sich auf. »Ich bringe dir das Herz meines Gegners«, erwiderte er und war überrascht, wie kräftig seine Stimme klang. Er hatte ein mattes Fisteln erwartet.

»Hast du ihn auf ehrenhafte Weise erlegt?«, fuhr der Maskierte mit der Befragung fort. Sein grauer Pelzumhang bewegte sich im selben Küstenwind, der Geryims Körper beutelte.

»Ja, bei meiner Ehre.«

»Hast du dein Leben in Gors Hände gegeben, auf dass seine Macht von dir Besitz ergreifen konnte?«

»Ja, bei der Weisheit meines Vaters und der Stärke meiner Mutter.«

»Bist du dem Tier, das man dir sandte, im selben Kleid begegnet, in dem es dir gegenübergetreten ist?«

»Ja, bei der Ehre meiner Ahnen.«

Eine mit Runen bemalte Hand nahm Geryim das Herz ab. Für einen Augenblick betrachtete der Maskierte es, als suche er nach einem Makel. Dann berührte er mit dem kalten Fleisch seine Stirn und rief: »Ich sehe und bin dein Zeuge. Ich erkenne deine Beute an. Ich erkenne deine Taten an. Du hast bewiesen, dass du den Mut besitzt, dich der Wildnis und Gors Gericht zu stellen. Du hast bewiesen, dass du ein Zelt und eine Familie ernähren kannst. Gor heißt dich in seinen Reihen willkommen und schenkt dir seinen Segen. Und so grüße ich dich, Geryim, von diesem Tag an von Mann zu Mann.«

Es waren nur Worte. Geryim hatte sie den Maskierten selbst gelehrt. Niemand von seinem Stamm war vor Ort, um seinen Eintritt ins Mannesalter zu bezeugen. Dennoch traf ihn die Verkündigung bis in den Kern und nahm ihm ein Gewicht von den Schultern, das ihn in der Vergangenheit manches Mal zu Boden gedrückt hatte.

Das Knistern des Feuers war ganz nah und über ihm ertönte das Rauschen gewaltiger Schwingen. Jemand rief etwas. Gleich darauf wurden zahllose Stimmen laut, lachten, jubelten. Auf einmal sah er sich von Gestalten umringt. Sie sprangen erst zurück, als sich ein Schatten über ihn legte und einen Augenblick später auf seiner Schulter landete.

Syv war mindestens ebenso aufgeregt wie die ihn umgebenden Menschen. Er plusterte sein Gefieder auf, breitete jedoch nur den Geryim abgewandten Flügel aus, bevor er ihm den Schnabel entgegenreckte. Die vertraute Geste entlockte Geryim ein trockenes, kraftloses Auflachen und einen stummen Dank an seinen treuen Gefährten. Syv mochte ihn nicht begleitet haben, aber er war dennoch bei ihm gewesen. Syv war immer bei ihm.

Dann waren die anderen wieder da. Sie gaben ebenso viel Wärme ab wie die Flammen. Hände berührten seine Arme, klopften ihm auf Schultern und Rücken. Er wollte sie bitten, damit aufzuhören und ihm lieber einen Umhang zu geben, doch er brachte kein Wort heraus.

Er wusste nicht, seit wann ihm die Zähne klapperten, doch nun schlugen sie so heftig aufeinander, dass sich zu all den übrigen Schmerzen ein warnendes Ziehen in den Zahnwurzeln gesellte. Das Feuer reichte nicht. Die Kälte war zu tief in ihn hineingekrochen und er war noch nie so müde gewesen.

Geryim hob in einem schwachen Versuch, sich bemerkbar zu machen, die Hände. Die Stimmen waren zu zahlreich, zu laut. Es interessierte ihn nicht einmal, ob sie ihn bejubelten oder beschimpften. Er brauchte… brauchte…

Eine Hand legte sich auf seinen ausgekühlten Arm. Jemand sagte etwas und das so überzeugend, dass es Wirkung zeigte. Sie ließen von ihm ab. Geryim spürte, wie er vorwärts gezogen wurde und wunderte sich nicht, dass er kaum länger einen Fuß vor den anderen setzen konnte. Ob sie das Herz den Flammen überantwortet hatten, wie es sich gehörte?

Eine Zeltplane hob sich. Er kämpfte mit dem Gleichgewicht, als er sich unter ihr hindurchschob. Dann schloss sich der Eingang hinter ihm und sperrte die Welt aus.

Geryim sackte nach vorn. Er landete auf den Knien und dicht neben einer weiteren Feuerstelle, die das niedrige Zelt zuverlässig aufgeheizt hatte. Das plötzliche Fehlen des Windes, die Erkenntnis, wie durchgefroren er war, löste neue Schmerzen aus.

Neben ihm bewegte sich etwas. Ein Umhang fiel zu Boden, aber Geryim konnte seine Hände nicht überreden, nach ihm zu greifen. Dann kauerte jemand an seiner Seite. Es war der Maskierte. Er hielt Geryim mit einer Hand einen Laib Brot entgegen, während er mit der anderen am eigenen Hinterkopf nestelte. Als die Maske fiel, hatte Geryim bereits die Zähne in das Brot geschlagen.

Sothorn lächelte, aber es lagen nicht nur Freude und Erleichterung in seinen dunklen Augen. Die offenkundige Sorge ließ Geryim zum ersten Mal einen Blick auf seinen Oberschenkel werfen. Die Wunde war die einzige heiße Stelle an seinem Körper.

»Was war es?«, fragte Sothorn trügerisch leise. Vermutlich ein Versuch, seine Anspannung zu verbergen.

»Ein Keiler.« Ruppig riss Geryim das Brot in zwei Hälften und grub mit den Fingern im weichen Kern.

Sothorn nickte mit zusammengepressten Lippen. »Er hat dich erwischt.«

»Ja.«

»Lass mich danach sehen. Es sei denn, ich soll lieber Szaprey oder Lilianne…«

Geryim schüttelte den Kopf. Er wollte keinen der anderen um sich haben. Nicht in dieser Nacht.

Während er sich einen Bissen Brot nach dem anderen in den Mund stopfte und damit endlich das Fasten brach, drückte Sothorn ihn auf den Rücken. Dann nahm er sich der Wunde an. Mit behutsamen, wenn auch ungeschickten Bewegungen reinigte er sie und legte einen leichten Verband aus sauberem Leinen an. Er musste auch eine Salbe dazugegeben haben, denn auf einmal lag ein blumiger Geruch in der Luft und überforderte Geryims nach wie vor eiskalte Nase.

Als seine taubgefrorene Haut zu neuem Leben erwachte, nahm das Zittern zu. Er fühlte sich hilflos angesichts der krampfartigen Wellen, die ihn erfassten. Sothorns warme Hände bildeten seinen einzigen Halt. Mit ihnen kam die Erinnerung an das, was Geryim sich von dieser Nacht erhofft hatte.

Erstaunt fragte er sich, warum er nicht glücklicher war. Es war ihm gelungen. Er war nun ein Mann. Dass Sothorn in dieser Nacht bei ihm blieb, dass sie ein Zelt teilten, war nicht länger etwas, das ihn vor Schuldgefühlen verzehren musste. Und doch… Würde es je genug sein?

Für den Moment schon, befahl Geryim sich. Er hatte es sich verdient. Er hatte sich Sothorn verdient.

Seitdem er Sothorn in der Spelunke Zur tanzenden Schiffsratte zum ersten Mal gesehen hatte, hatte er sich immer wieder heimlich und fast gegen seinen Willen ausgemalt, wie diese Nacht verlaufen könnte. Er hatte sich vorgestellt, wie er vor Stolz bebend den Beweis seines Jagderfolgs erbrachte, das Herz übergab und sofort über Sothorn herfiel; ob nun vor den Augen Dritter oder während sie allein waren. Alles, worauf es ihm angekommen war, war, dass sie sich in ihrer Lust verloren und anschließend darin schwelgten, ohne dass einer von ihnen verschämt das Lager des anderen räumen musste. Dass sie zusammen einschlafen konnten, ohne sich im Licht des neuen Tages unwohl zu fühlen.

Geryim spürte ein zögerliches Lächeln an seinen Mundwinkeln zupfen. Hätte er nur ein bisschen mehr Geduld aufgebracht und bis zum Frühjahr gewartet, wären seine Träume Wirklichkeit geworden. Doch mit dem Winter als Gegner war er viel zu erschöpft, um Sothorn auf sich zu ziehen, geschweige denn die entscheidenden Teile seines Körpers zur Mitarbeit zu bewegen.

Draußen erklangen Gesang und Gelächter, dazu das helle Spiel von Liliannes Flöte. Die Bruderschaft würde an seiner Stelle feiern. Dank des Bocks, den Varn am Vorabend geschossen hatte, war ihnen ein Festgelage sicher.

Ein erneuter Zitteranfall bahnte sich bebend seinen Weg durch Geryims Körper. Ihm dämmerte, dass Sothorn dazu übergegangen war, ihm mit warmem Wasser das Blut abzuwaschen. Es war nicht die Art Zuwendung, die Geryim wollte.

»Lass es gut sein«, murmelte er mit schwerer Zunge. »Ich kümmere mich morgen um den Rest.«

Sothorn verharrte in der Bewegung. Der feuchte Stoff lag mittig auf Geryims Bauch. »Wie du willst.« Er zögerte. »Soll ich…?« Sein Nicken in Richtung Zelteingang war kaum zu erkennen und erfüllte Geryim augenblicklich mit Widerwillen.

»Nein«, sagte er so hastig, dass es Sothorn ein Grinsen entlockte. »Nein«, wiederholte er dann noch einmal.

Ihm lagen mehr Worte auf der Zunge. Manche wollten sich zu Dank zusammensetzen, andere zu Versprechen, die er wahrscheinlich nicht halten würde, oder gefährlichen Geständnissen. Deshalb schwieg er.

Er konnte jedoch nicht verhindern, dass er Sothorns Unterarm berührte. Oder dass seine Finger dessen Handgelenk umfassten und ihn nach vorn zogen.

Sothorn sank willig neben ihm auf die Decken und schlug sie so schnell über ihnen zusammen, als hätte er seit Betreten des Zelts darauf gewartet.

»Komm her«, flüsterte er in das Halbdunkel, bevor er Arme und Beine um Geryim schlang. Wann immer er seine Kleidung abgestreift hatte, es war ein Segen, sich an seine bloße Haut zu drängen und seine Wärme zu teilen.

Geryim hörte sich selbst aufatmen und legte das Kinn auf Sothorns Schulter. Morgen würde sich zeigen, zu was er heute Nacht herangewachsen war. Bis dahin wollte er die Ruhe genießen, die sich über ihm ausbreitete. Sie besuchte ihn selten genug und meistens blieb sie nicht halb so lange, wie er es sich wünschte.

»Geryim?« Die Frage war nicht nur zu hören, sondern auch zu spüren, als Sothorns Atem über seine Haut hinwegstrich.

»Ja?«

»Das war das einzige Ritual, richtig? Ich werde nicht noch einmal mit ansehen müssen, wie du dich nackt und nur mit einem Dolch bewaffnet in irgendeinen Wald schlägst?«

Sothorns Frage bewies, dass selbst Meuchelmörder wie sie, die jahrelang nicht mehr als lebende Waffen gewesen waren, Grenzen hatten. Auch sie konnten den Tod nur bis zu einem gewissen Punkt hofieren.

Geryim rieb kaum merklich die Wange an Sothorns, um sowohl ihn als auch sich selbst zu beruhigen. »Nein, das wirst du nie wieder mit ansehen müssen«, versprach er.

Es war keine Lüge – und dennoch nicht die ganze Wahrheit.

Zenjanisches Feuer

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