Читать книгу Take me down under: Melbourne im Blut - Raik Thorstad - Страница 11
Kapitel 6
Оглавление»Hey, wie fühlst du dich?«
Warme Arme schlangen sich um Jordans Körper und zogen ihn in eine behagliche Umarmung. Er schloss die Augen und bettete das Kinn auf Duncans Schulter. Der Geruch von Schweiß und Leder stieg ihm in die Nase. Ein paar Wassertropfen lösten sich aus Jordans Haaren und rannen ihm über Gesicht und Nacken.
»Mir geht's super. Besser denn je.« Er legte einen Arm um Duncans Mitte und drückte ihn seinerseits fest an sich. »Danke, dass du mich mit drangenommen hast.«
»Oh, es war mir eine Freude. Du warst fantastisch, ihr wart beide fantastisch.« Duncan sprach gerade laut genug, um das Stimmengewirr im Gastraum zu übertönen. Jordan war es recht. Er hatte kein Problem damit, sich in seiner Lust zu zeigen. Aber die Augenblicke hinterher, wenn sich alles beruhigte und er zu seinem anderen, selbstbestimmten Ich zurückfinden musste, waren ein bisschen zerbrechlich und in mancher Hinsicht intimer als ein öffentliches Spanking.
»Wie geht es Wayne?«, erkundigte er sich mit geschlossenen Augen. Wayne war nach Lösen der Fesseln schwummerig zumute gewesen, sodass Duncan ihn in einen der Ruhebereiche gebracht hatte, während Jordan duschen gegangen war.
»Wieder besser. Nichts, was eine Flasche Wasser und etwas Traubenzucker nicht geradebiegen könnten. Aber ich habe ihm trotzdem gesagt, dass er erst einmal liegen bleiben soll. Kadek hat mich nur abgelöst, damit ich nach dir sehen kann. Hab dich nicht gern allein gelassen.«
Jordan rollte die Schultern. »Schon gut. Ich fühle mich sauwohl. Und ich war eh nicht allein. Du kennst doch Ben.«
Duncan lachte leise. »Hat er dir jemanden vor die Tür gestellt, falls du umkippst oder einen Zusammenbruch hast?«
»Jepp.«
Es war ein bisschen viel des Guten gewesen, aber in gewisser Hinsicht hatte Ben natürlich recht: Jordans Kreislauf hätte genauso zusammensacken können wie Waynes; gerade, wenn er sich unter die warme Dusche stellte. Dennoch war es merkwürdig, jemandem durch die Tür hinweg zuzurufen, dass man immer noch auf den Beinen war und auch nicht vorhatte, zeitnah mit der Nase gegen die Fliesen zu prallen.
Duncan schob Jordan auf Armeslänge von sich. Mit dem Daumen strich er ihm über die Wange. Dann nickte er, als wäre er zufrieden mit dem, was er sah. »Gehst du jetzt nach Hause oder bleibst du noch?«
Jordan überlegte. Eigentlich hatte er vorgehabt, direkt nach der Session aufzubrechen und sich früh schlafen zu legen – Wochenende hin oder her –, doch nun fühlte er sich neu belebt, nicht übermäßig aufgekratzt, aber geerdet und zutiefst entspannt. Duncan hatte ihn nicht nur unter Strom gesetzt und leiden lassen, sondern auch wieder auf den Boden der Tatsachen geholt. Egal, was manche Leute behaupteten: Dort fühlte Jordan sich bedeutend wohler als im freien Fall über den Dingen.
»Ich glaub, ich bleibe«, sagte er nachdenklich, während er den Blick über die vollen Tische und die zahlreichen Gäste schweifen ließ. Manche prosteten ihm zu, andere lächelten verstohlen oder mit roten Wangen.
»Aber nicht zum Arbeiten«, entgegnete Duncan streng. Etwas zu streng. Die Session war vorbei und sie wieder Freunde, die sich auf Augenhöhe begegneten. Aber Jordan ließ es ihm durchgehen. Zum einen hatte er sowieso nicht vorgehabt zu arbeiten, zum anderen hatte Duncan sich ziemlich erschrocken, als Wayne die Knie weich geworden waren. Er nahm seine Verantwortung ernst und entsprechend galt sein Interesse auch Jordans Wohlergehen. Wenn er daher etwas Schwierigkeiten hatte, seine Rolle komplett abzulegen, war das kein Beinbruch.
»Versprochen.« Jordan schmiegte die Wange in Duncans Hand und lächelte ihm zu. »Nur zum Quatschen und auf ein Bier.« Er grinste. »Oder mehrere.«
Duncan schmunzelte sichtlich beruhigt. »Das wollte ich hören. Ich bin dann wieder bei Wayne. Aber hey, falls du mich brauchst…«
»Ich weiß, dann schicke ich jemanden zu dir oder komme selbst vorbei und lege mich zu euch.«
»Gut.«
Sie verabschiedeten sich mit einem freundschaftlichen Kuss. Jordan sah Duncan nach, als er nach hinten verschwand. Ein warmes, wattiges Gefühl füllte seine Brust aus. Duncan war ein guter Kerl. Er hatte nicht nur ein hervorragendes Gespür für seine Subs, sondern gab sich auch Mühe, seine Grenzen auszuloten und immer besser zu werden. Nun bei Wayne zu sein, war für ihn nicht nur eine Pflicht, der er sich stellte, sondern ein Bedürfnis. Ein Goldstück von einem Dom.
Schade, dass sie jenseits des BDSM kaum etwas miteinander verband.
Erneut rollte Jordan die Schultern, um sich an seinen gelockerten Muskeln zu erfreuen. Dann ging er hinter die Bar und bediente sich am Kühlschrank. Ben war mit der Kundschaft beschäftigt und wie versprochen sprang Jordan ihm nicht bei. Es war wichtig, dass er sein Wort hielt. Dass Duncan sich auf ihn verlassen konnte.
Er öffnete gerade seine Bierflasche, als ihm die Gestalt am hinteren Ende des Tresens auffiel. Es gab dort einen dunklen Winkel, der gerade genug Platz für einen Stuhl bot und oft von Gästen eingenommen wurde, die erst einmal beobachten wollten, was im Red Vinyl vorging.
Jordan brauchte einen Moment, bevor er im schummerigen Licht die Gesichtszüge ausmachen konnte, und noch länger, bis er sie richtig zugeordnet hatte. Dann erinnerte er sich. Der Gast, der Donnerstag vorbeigekommen war und dem Katy versprochen hatte, ihn mit Jordan bekannt zu machen.
Im Nachhinein schüttelte Jordan den Kopf über seine überzogene Reaktion. Egal, ob er sich von einem Mann angezogen fühlte oder nicht, es sprach nichts gegen eine freundliche Unterhaltung.
In der festen Absicht, den Schnitzer auszuwetzen, nahm Jordan sein Bier, umrundete den Tresen und trat zu dem Neuen. »Hey, ich glaube, Katy wollte uns neulich einander vorstellen, oder? Ich bin Jordan. Schön, dass du wieder hergefunden hast.«
Er merkte sofort, dass er sein Gegenüber überrumpelt hatte. Dafür brauchte es nicht erst die Stille, die ihm antwortete, oder die weit aufgerissenen Augen. Alles an dem Mann sagte: »Scheiße, du hast mich eiskalt erwischt und ich glaube, ich habe meine Zunge verschluckt.«
Jordan ließ sich nicht einschüchtern, sondern nahm auf dem freien Hocker neben ihm Platz. Im Zweifel würde es darauf hinauslaufen, dass er in Ruhe sein Bier trank, während er von der Seite angestarrt wurde.
Aber schließlich öffnete der Fremde den Mund. »Ich… ja, ich weiß. Katy sagte schon… Beziehungsweise Ben. Und ja, ich habe dich ja vorhin gesehen.« Er verzog das Gesicht, als hätte er den letzten Satz gar nicht sagen wollen. Dann straffte er sich und warf Jordan einen Seitenblick zu. »Ich bin Phoenix. Und bevor du fragst: Ja, das ist mein richtiger Name. Und nein, meine Eltern konnten sich nichts Dümmeres einfallen lassen.«
Jordan lachte frei heraus. »Oh, ich glaube schon, dass es da Dümmeres gibt. Mantikor, Lindwurm, Einhorn…«
»Tse-Tse-Fliege. Gorilla. Schon klar. Das wäre auch nicht so toll gewesen.« Phoenix senkte den Blick, aber Jordan konnte sehen, dass er lächelte.
»Und? Hat es dir gefallen?« Jordan hatte die Erfahrung gemacht, dass es keinen Sinn hatte, um den heißen Brei herumzureden. Jeder, der ins Red Vinyl kam und sich nicht gerade verlaufen hatte, war aus gutem Grund hier. Natürlich konnte man sich an Frischlinge anpirschen und sie – bildlich gesprochen – vorsichtig mit einem Stock pieken, bis sie endlich eine Reaktion zeigten. Aber letztendlich schürte man damit nur ihre Unsicherheit und schuf Mysterien, wo es Klarheit brauchte.
Wie so viele andere vor ihm schluckte Phoenix im ersten Moment, bevor er herauspolterte: »Es war der Hammer. Unglaublich…«
»Scharf? Sexy? Geil?« Immer voran, nur keine Müdigkeit vorschützen.
Phoenix kratzte sich am bartlosen Kinn, den Blick auf das Spirituosenregal gerichtet. »Ich hätte jetzt erst einmal beeindruckend gesagt. Beeindruckend und irgendwie…«
Jordan bedrängte ihn nicht weiter. Die positive Resonanz reichte ihm fürs Erste. Sie war ein guter Anfang – und seinem Ego schmeichelte sie auch ein wenig. »Schon gut. Ich weiß, es kann ziemlich überwältigend sein. Und für dich war es unübersehbar das erste Mal, dass du so etwas miterlebt hast.« Und das, obwohl Phoenix nicht mehr ganz jung war.
Warum hatte er erst jetzt seinen Weg in einen Club gefunden? Späte Erkenntnis oder hatte es ihm zuvor an Mut gefehlt? War er in einer Langzeitbeziehung gewesen, in der BDSM nicht zur Debatte gestanden hatte? Oder gehörte er am Ende zu denjenigen, die Schwierigkeiten hatten, sich als den Menschen anzunehmen, der sie waren? Sei es, weil er schwul war – oder bi oder pan – oder weil er sich von BDSM angezogen fühlte?
»Woher willst du das wissen? Ach so… von Ben. Katy, meine ich«, beantwortete sich Phoenix die Frage selbst.
»Nee. Man sieht es dir an.« Jordan tippte mit dem Fingernagel gegen seine Bierflasche. »Es ist ein Unterschied, ob man sich einen Porno anguckt oder ob man zum ersten Mal live dabei ist. Die Atmosphäre, die vielen Eindrücke, die man übers Internet einfach nicht erzeugen kann… Man weiß es irgendwann, ob die Leute Erfahrung haben oder nicht.«
»Und du bist schon lange dabei, hm?«, fragte Phoenix mit dem Zögern eines Mannes, der sich nur wenige Minuten nach einer neuen Bekanntschaft in einem Gespräch über ausgefallene Sexpraktiken wiederfand. Sein Interesse war ebenso offensichtlich wie seine Verwunderung.
»Nicht ganz so lange, wie manche denken.« Jordan salutierte innerlich den ersten Jungs, mit denen er mit Anfang zwanzig herumgespielt hatte, nur um zu merken, dass er eine Gangart einschlagen wollte, die ihnen zu heftig war. Erst danach hatte er Carlos kennengelernt, der nicht nur doppelt so alt wie er gewesen war, sondern ihm auch innerhalb weniger Wochen Dinge über sich selbst beigebracht hatte, die Jordan bis dahin für undenkbar gehalten hatte. »Aber sagen wir mal so: Ich habe die Zeit gut genutzt. Ich habe eine Menge ausprobiert, bis ich an dem Punkt war, an dem ich heute stehe. Und du? Ich wage mal zu behaupten, dass dich unsere heutige Session nicht gerade abgestoßen hat. Sonst wärst du sicher schon weg.«
Phoenix zog ein Gesicht, als hätte Jordan ihn mit der Hand in der Hose ertappt. Seine Unsicherheit war nicht unsympathisch, aber befremdlich. Ein wenig unpassend für jemanden, der Katy zufolge an der dominanten Seite des BDSM Interesse hatte.
Na, bist du am Ende jemand, der zwar scharf auf das Spiel ist, aber noch nicht die Eier hat sich einzugestehen, dass er devot oder masochistisch veranlagt ist?
Vielleicht war es das, was Jordan von Anfang an bei Phoenix wahrgenommen hatte und auch jetzt noch spürte. Vielleicht wusste er noch nicht genau, was er brauchte und wollte; nur, dass es sich im Dunstkreis von Leder, Fesseln und Machtgefällen bewegte. Das würde einiges erklären; nicht zuletzt, dass sie sich trotz Jordans spontaner Abwehr vom Donnerstag halbwegs gut miteinander unterhalten konnten.
»Abgestoßen? Nein. Es war fantastisch«, sagte Phoenix mit rauer Stimme. »Ich…« Er räusperte sich. »Ich weiß nicht, ob ich das sagen sollte, aber ich hätte mich am liebsten irgendwie eingebracht, falls du verstehst, was ich meine.«
Jordan prustete in sein Bier und hoffte inständig, dass Phoenix nicht dachte, er würde ihn auslachen. Es war lediglich seine behutsame Vorgehensweise, die ihn amüsierte. »Entschuldige mal, aber das will ich doch sehr hoffen! Wenn keiner der Umstehenden das Bedürfnis hätte, bei sich Hand anzulegen oder mit einem von uns zu tauschen, würde ich mich echt fragen, ob wir unseren Drive verloren haben.«
»Habt ihr nicht!« Phoenix drehte sich auf seinem Barhocker zur Seite und wandte sich Jordan zu. »Ich hätte gern mit Duncan getauscht. Na ja, wenn ich gewusst hätte, wie man es anfängt. Von dieser Kabelage und den E-Stim-Sets habe ich nämlich überhaupt keine Ahnung.«
Interessant, also doch mit Duncan. Nicht mit Wayne oder mir.
Jordan nutzte die Vorlage und drehte seinen Charme auf, bevor er mit tiefer Stimme fragte: »Das ist es also, was du möchtest? Jemandem wehtun? Jemanden fesseln?«
Phoenix überraschte ihn, indem er nicht sofort mit einem Ja herausplatzte. Stattdessen ließ er sich mit seiner Antwort Zeit. »Ich weiß nicht, ob es das ist, worum es mir geht«, begann er langsam. »Ich glaube eher, dass ich gern… Also, es hat mir gefallen, was Duncan mit euch gemacht hat. Aber nicht wegen der Elektrik oder der Fesseln, sondern weil… Ihr habt ihm alles überlassen. Er konnte entscheiden, was er mit euch macht. Dieses Vertrauen und die vielen Ideen, die Möglichkeit zu entscheiden, wann und wie was passiert…«
Kontrolle also.
»Und dann zu wissen, dass er es war, der euch das geben konnte und durfte… Vielleicht sogar nur er.«
Okay, nicht nur Kontrolle. »Duncan macht das gut. Wirklich gut. Wenn du das aus der Session mitgenommen hast, ist das sicher kein schlechter Anfang. Falls du den überhaupt machen möchtest, heißt das.«
»Doch, schon. Sehr gern sogar.« Phoenix lächelte unsicher. »Ich… kann ich dich was fragen?«
»Na klar.«
»Warum redest du mit mir?« Jordan musste etwas verblüfft dreingesehen haben, denn Phoenix fuhr rasch fort: »Katy hat mir erzählt, dass du dich häufiger mit Neulingen beschäftigst. Und dass du quasi Kurse gibst, um anderen zu zeigen, wo es langgeht. Ist das nicht irgendwie verdreht? Dass du als Sub Doms zeigst, was sie zu tun haben?«
»Wer, wenn nicht ich?« Jordan drehte sich seinerseits zur Seite und stützte die Hände auf die Oberschenkel. »Aber ich weiß schon, was du meinst. Ich schätze, ich habe einfach ein paarmal zu oft gesehen, wie eine Session schiefgegangen ist. Und wenn ich dabei helfen kann, dass ein paar Fehler weniger gemacht werden und alle gesund und munter aus ihren Sessions rauskommen, dann ist das nicht nur gut für die Leute, sondern auch für den Club. Denn, hey…« Er zeigte auf das rote Neonlicht, das den Namen des Clubs nachbildete. »… es liegt in meinem ureigenen Interesse, dass der Laden läuft. Der Löwenanteil gehört Ben, aber ich bin Teilhaber und… na ja.«
Jordan schwieg kurz, musterte sein Gegenüber. Nachdem Phoenix seinem Blick anfangs ausgewichen war, sah er ihn nun offen und nach wie vor fragend an. Unübersehbar hatte er noch nicht die Antwort bekommen, nach der er suchte.
»Es stimmt schon. Auf einige wirkt es seltsam, wenn die vermeintlich Unterlegenen den Überlegenen etwas beibringen. Aber die Sache ist die: Ich habe einen ziemlich guten Draht für andere Menschen, so eine Art sechsten Sinn. Einige fühlen sich davon bedroht, aber ich finde, es ist ein Talent, das helfen kann. Also setze ich es ein, wenn man mich darum bittet.«
Phoenix sah beiseite. Sein Blick glitt durch den Club, vorbei an der Tafelrunde, über die Bar, zu der alten Jukebox, die sie nur aus Nostalgiegründen besaßen und schon lange keine Platten mehr enthielt. Es war die übliche Reaktion auf Jordans Offenbarung. Viele Menschen fürchteten sich davor, ohne Masken dazustehen. Manche gewöhnten sich mit der Zeit daran, andere zogen sich vor ihm zurück.
Doch Phoenix überraschte ihn mit seiner Erwiderung. »Das hört sich ziemlich anstrengend an. Da bekommt man doch bestimmt oft mehr mit, als man eigentlich möchte«, sagte er nachdenklich. Und dann: »Bist du deshalb ein Sub? Weil du dich während der Sessions ausnahmsweise ganz auf dich selbst konzentrieren kannst?«
Dieses Mal war es an Jordan, sich Bedenkzeit zu nehmen. Phoenix hatte nicht nur den ganz richtigen Schluss gezogen, dass Empathie eine Bürde sein konnte – was wiederum ein Hinweis darauf war, dass er selbst nicht eben aus Stahlbeton bestand –, nein, er hatte auch zielsicher ein tiefes Bedürfnis von Jordan erkannt. Und dabei bis zu einem gewissen Punkt den Spieß umgedreht.
Normalerweise war es Jordan, der offene Fragen stellte und auf ehrliche Antworten hoffte. Nun war er jemandem begegnet, der entweder ähnlich tickte oder einen Zufallstreffer gelandet hatte – und das war erfrischend.
»Ja«, erwiderte er aufrichtig. »Es ist vielleicht nicht der einzige Grund, aber definitiv ein wichtiger. Ich kann viel abstreifen, wenn ich mich jemandem überlasse. Es ist, als würde ich gewisse Verantwortlichkeiten einfach an der Garderobe abgeben.« Er tastete mit der Zungenspitze über einen Eckzahn, sondierte die Lage und Phoenix' Miene. Dann entschied er sich für einen weiteren Vorstoß. »Was ist mit dir?«, fragte er direkt. »Du sagst, du hättest gern mit Duncan getauscht. Was glaubst du, warum das so ist?«
Für den Bruchteil einer Sekunde wollte er die Frage zurücknehmen. Nicht, weil Phoenix eine abwehrende Haltung eingenommen hätte, sondern weil Jordan fand, dass sie mehr nach Psychiater als nach Barbesitzer und Statistiker geklungen hatte.
Doch bevor er abwiegeln oder hinzufügen konnte, dass Phoenix nicht antworten müsse, schürzte der plötzlich die Lippen und beugte sich ein Stück nach vorn. Ein Hauch Verspieltheit brach durch seine Unsicherheit. »Du bist derjenige, der von sich behauptet, ein guter Menschenkenner zu sein. Was glaubst du?«
Jordan wusste nicht, ob er es mit Naivität oder Mut zu tun hatte. »Mancher würde behaupten, dass das eine gefährliche Frage ist.«
»Mancher würde antworten, dass es noch nie geholfen hat, den Kopf in den Sand zu stecken«, entgegnete Phoenix wie aus der Pistole geschossen. Sein rechtes Lid zuckte fast unmerklich.
Vorsicht, warnte Jordan eine innere Stimme. Er kann vielleicht nicht so viel Ehrlichkeit vertragen, wie du über ihm ausschütten könntest. Lass es langsam angehen.
»Und niemand hat gern Sand im Mund«, versuchte er es für den Anfang mit etwas Humor. Phoenix lächelte, sah Jordan aber weiterhin erwartungsvoll, neugierig und, ja, auch etwas nervös an. »Tja, was mir als Erstes auffällt, ist, dass du nicht mehr ganz jung bist.«
Phoenix schnaubte belustigt. »Das ist charmant ausgedrückt, aber offensichtlich.«
Jordan ließ sich nicht vom Kurs abbringen. »Das heißt, dass du entweder erst seit Kurzem mit dem Gedanken spielst, was in Richtung BDSM zu machen, oder es aus irgendwelchen Gründen nie getan hast, obwohl du es vielleicht schon immer wolltest. Ich glaube ehrlich gesagt nicht daran, dass Menschen von einem Tag auf den anderen spontan sadistische oder dominante Neigungen entwickeln. Also wäre es eher Variante Nummer zwei…« Jordan ließ Phoenix Zeit, ihn zu unterbrechen. Als nichts dergleichen geschah, leckte er sich über die Unterlippe und sagte behutsam: »Ich vermute also, dass sich in letzter Zeit bei dir irgendetwas verändert hat. Etwas, das dazu geführt hat, dass du diesen Weg ausgerechnet jetzt einschlagen willst.« Dass du gerade jetzt das Bedürfnis hast, die Kontrolle zu übernehmen. »Vielleicht eine Trennung? Ein Trauerfall? Oder… hast du deinen Job verloren?«
Phoenix' Lippen öffneten sich, seine dunklen Brauen zogen sich zusammen und er kratzte sich hektisch an der Nase. Alles Anzeichen, dass Jordan mindestens einen Treffer gelandet hatte. Schließlich blies er die Wangen auf. »Chapeau.« Nun flatterten seine Wimpern, wenn auch nicht auf verheißungsvolle Weise. »Es war keine Trennung und kein Trauerfall, sondern der Job.« Er zögerte. »Ich habe meinen Schreibtischjob aufgegeben und bin in meinen alten Beruf zurückgekehrt. Und dafür nach Melbourne gezogen«, erklärte er steif. »Das war nicht unbedingt etwas, das ich geplant hatte.«
Jordan erkannte die klaffenden Lücken in der Erklärung, als würden rot leuchtende Pfeile darauf zeigen. Es war nicht die Geschichte an sich, die ihn aufmerken ließ. Tausende Menschen wechselten jeden Tag die Anstellung oder auch das Berufsfeld, ohne dass es der Rede wert gewesen wäre. Aber irgendetwas sagte ihm, dass Phoenix die Karriereleiter hinuntergepurzelt war, statt sie hinaufzusteigen.
»Aber das geht schon in Ordnung«, fügte Phoenix da hastig hinzu. »Ich mag meinen neuen Job und mein Chef ist ein alter Freund der Familie. Und, na ja, wahrscheinlich war ich schon immer besser für Arbeit mit den Händen geeignet als für das Jonglieren mit Zahlen. Ehrlich gesagt bin ich froh, dass ich wieder Werkstattluft schnuppern kann.«
Jordan zog einen Mundwinkel hoch. »Wem sagst du das, Mann?« Er glaubte Phoenix, dass ihm seine neue Anstellung gefiel. Aber die Pfeile blinkten immer noch. »Was machst du denn genau, wenn ich fragen darf?«
»Ich bin Mechaniker. Autos und Motorräder, manchmal auch eine Landmaschine. Heißt, ich stecke an den meisten Tagen unter einer Hebebühne oder in einem Motorraum fest.« Er lächelte beinahe spitzbübisch. »Es gibt schlechtere Orte, an denen man seine Zeit verbringen kann.«
Jordan hob zweifelnd eine Braue. »Ich weiß nicht.« Er sah sich zum Tresen um. »Hier gefällt es mir besser; besonders, solange noch Erdnüsse da sind.« Sie lachten beide leise, dann kam ihm ein Gedanke. »Hör mal, wo du gerade davon sprichst: Wo genau arbeitest du denn? Ich meine, ist die Werkstatt in der Nähe?«
Phoenix wirkte verblüfft und griff erstmals nach dem Weinglas, das vor ihm auf dem Tresen stand. Er trank einen Schluck und verzog das Gesicht; wahrscheinlich, weil sich der Wein unter der Beleuchtung unangenehm erwärmt hatte. »Industriegebiet Altona. Von hier braucht man eine Viertelstunde, wenn die Straßen nicht komplett verstopft sind.«
»Gut zu wissen. Ich glaube, ich muss euch demnächst mal einen Besuch abstatten. Meine alte Werkstatt hat dichtgemacht und ich muss wirklich dringend das Öl wechseln und die Kiste mal durchschauen lassen. Ich fahre zwar kaum, aber wenn ich das noch weiter aufschiebe, macht der Motor schlapp.«
»Grundsätzlich hat mein Chef sicher nichts dagegen, wenn ich ihm neue Kunden bringe. Aber du solltest wissen, dass wir eigentlich auf Oldtimer spezialisiert sind, auch auf das Beheben von Unfallschäden. Natürlich wechseln wir auch bei anderen Wagen Reifen oder Öl für die Leute in der näheren Umgebung, aber wir haben zum Beispiel nicht die Ausrüstung, um an ultramodernen Wagen Inspektionen durchzuführen. Also falls du einen Hybrid oder so was fährst…«
Jordan begann zu lachen. »Keine Sorge. Als meine alte Schrottlaube zum ersten Mal zugelassen worden ist, war ich noch nicht mal volljährig. Ich bin froh, wenn sie mich von A nach B bringt, ohne dass mir der Auspuff abfällt. Der modernste Schnickschnack, der darin verbaut ist, ist ein Radio – mit Kassettendeck!«
Phoenix schmunzelte. »Ich sag's ja immer: Je älter, desto besser. Wenn du den Wagen nicht oft brauchst, bring ihn einfach vorbei. Dann schiebe ich ihn ein, sobald sich eine Lücke im Zeitplan auftut. Der Laden heißt Oldtimer Shed.«
»Gut. Wahrscheinlich schneie ich gleich am Montag rein. Ich hab das schon viel zu lange vor mir hergeschoben.« Jordan streckte sich auf seinem Hocker. In seinen Adern pulsierte immer noch das tiefe Gefühl der Zufriedenheit, das Duncan ihm verschafft hatte. Auch Wayne hatte seinen Anteil gehabt. Es hatte so gutgetan, nach all der Quälerei einen Körper an seinem zu spüren und einen Mund vor sich zu haben, den man küssen konnte.
Phoenix legte die Hände auf die Oberschenkel. Dass er sich zuvor entspannt hatte, zeigte sich erst jetzt, da Unsicherheit und Verlegenheit in seine Körpersprache zurückkehrten. »Tja…«, murmelte er. »Wo wir gerade schon bei…« Er unterbrach sich und schüttelte kaum merklich den Kopf. Seine Finger trommelten auf den Stoff seiner Jeans. Dann suchte er mit vorgeschobenem Kinn Jordans Blick. »Wie funktioniert das hier?«, fragte er schließlich barsch. »Wenn ich mich von dir in die Szene einführen lassen will, meine ich. Vergibst du Termine oder komme ich einfach vorbei oder…? Und, na ja… Dann wäre da noch die Frage, was mich das kosten würde.«
Jordan versteifte sich innerlich. Für einen Moment hatte er vergessen, dass Katy gewisse Erwartungen in Phoenix geweckt hatte. Erwartungen, von denen sein Instinkt ihm nach wie vor abriet, sie zu erfüllen. Ja, sie hatten sich unterhalten. Ja, Phoenix hatte ihn mit der einen oder anderen Äußerung positiv überrascht. Aber Jordan wusste, dass er sich diesem Mann nicht ausliefern durfte. Er strahlte keine Sicherheit aus.
Und dann war da noch die andere Sache.
»Ich bin kein Stricher«, sagte Jordan fest. »Wir bieten hier einen sicheren Rahmen, Getränke, ein paar Snacks und Räume an, in denen unsere Gäste sich ausleben können. Aber ich stehe nicht auf der Speisekarte.«
Phoenix zuckte unübersehbar zurück. Es dauerte einen Augenblick, bis er seine Sprache wiedergefunden hatte. »Das wollte ich auch nicht unterstellen. Nur, dass… Na ja, wenn man zum Klavierunterricht geht, um etwas beigebracht zu bekommen, dann kann man ja auch nicht erwarten, dass einem die Zeit umsonst geopfert wird.« Er kniff die Augen zusammen und spähte dann blinzelnd aus dem rechten heraus. »Ich rede mich gerade um Kopf und Kragen, oder?«
Jordan fiel keine passende Antwort ein. Er schwankte zwischen Belustigung und Gereiztheit. Sicher, Phoenix war nicht der Erste, der ihm verschämt Geld anbot oder auch offen versuchte, seine Dienste zu kaufen. Und irgendwie konnte er es sogar verstehen. So, wie Phoenix es ausdrückte, ergab es Sinn, sich nach einem Tarif zu erkundigen. Es bedeutete letztendlich, dass er es nicht für selbstverständlich hielt, dass man sich mit ihm befasste.
Doch was Jordan im Club tat, war sein geliebtes Hobby, etwas, das ihn erfüllte und glücklich machte. Etwas, das er gern mit anderen teilte und freiwillig verschenkte, wenn er es für richtig hielt. Jede andere Regelung hätte die Gefahr mit sich gebracht, den Zauber zu zerstören.
»Ich bin aber nun mal kein Klavierlehrer, eher ein Hobbymusiker«, sagte er versöhnlich. »Und das bedeutet in erster Linie, dass ich mir aussuchen kann, mit wem ich mich zum Jammen zusammentue. Ich sage es dir lieber gleich: Ich habe bisher nur einen groben Eindruck, wie du tickst, aber ehrlich gesagt glaube ich, dass wir keine gute Paarung abgeben würden.« Das war netter, als Phoenix wissen zu lassen, dass Jordan nicht überzeugt war, dass er zum Dom geeignet war. Egal, für wen. »Aber wenn du Fragen hast, ich dir eine Tour durch den Club geben soll oder du dir einfach mal ein paar Handwerksgeräte anschauen willst, die du bisher nie in echt gesehen hast… Dann bin ich dein Mann.«
Die Enttäuschung war nicht zu übersehen – sie zeigte sich im Absenken von Schultern und Lidern – und es tat Jordan aufrichtig leid, sie verursacht zu haben. Aber Phoenix musste sowieso früher oder später lernen, mit Zurückweisungen durch einen Sub umzugehen. Er musste begreifen, wie fragil das Gespinst zwischen ihnen allen war. Nur von außen sah es nach Stahlträgern und daumendickem Leder aus. Warum dann nicht schon heute die erste Lektion verinnerlichen? Immerhin wollte er lernen.
Halb rechnete Jordan damit, dass Phoenix sich verabschiedete. Sein Unbehagen schwebte zwischen ihnen wie ein unangenehmer Geruch – nicht greifbar, doch unzweifelhaft da. Doch wieder gelang es Phoenix, ihn zu überraschen. »Das ist nett von dir. Ich glaube, ich habe fürs Erste gar nicht so viele Fragen, aber ich würde mir den Club gern genauer anschauen und auch die… Ausrüstung.«
»Dann machen wir das«, erwiderte Jordan. »Nicht unbedingt heute.« Er wies mit dem Daumen über die Schulter zu dem Flurdurchgang, der zu einigen der Separees führte. »Wir sind ausgebucht. Heißt, entweder sind die Räume belegt oder werden gerade sauber gemacht. Am besten treffen wir uns mal tagsüber.«
»Danke.« Phoenix presste die Lippen aufeinander. »Und entschuldige. Ich wollte dir nicht auf die Zehen treten.«
Mumm. Einsicht. Und die Fähigkeit, dich zu entschuldigen. Du machst Punkte, Feuervogel, du machst Punkte. Wenigstens als Mensch.
»Ist schon gut. Ich verstehe, woher es kommt, und du bist auch nicht der Erste, der es missverstanden hat.« Jordan zwinkerte ihm zu.
Phoenix stutzte kurz, dann breitete sich langsam ein Lächeln auf seinem Gesicht aus. »Ich weiß nicht, ob mich das beruhigt oder eher nervös machen sollte.«
Jordan grinste. »Im Zweifelsfall immer beides.«
***
Der Brief war mit einem Streifen Klebeband an der Tür angebracht worden. Phoenix erkannte die Handschrift sofort. Sie ließ ihn auf der letzten Stufe erstarren. Sein Magen hob sich und revanchierte sich für all die Aufregung, die dieser Abend mit sich gebracht hatte. Seine Magenwände interessierten sich Phoenix' Erfahrung nach nicht dafür, ob er sexuell erregt, aufgeregt wie ein Kind zu Weihnachten oder gestresst war. Sie bestraften ihn jedes Mal, wenn sich sein Puls beschleunigte und Adrenalin durch seinen Körper jagte.
Nach einem unbestimmten Zeitraum konnte er seine Füße dazu überreden, den letzten Schritt nach vorn zu wagen. Er wollte keine Post. Er wollte nicht, dass sich Brücken öffneten, die er zuvor mühsam niedergebrannt hatte. Aber genauso gut wusste er, dass es kein Entrinnen gab. Ein Umzug und eine neue Anstellung konnten nicht ungeschehen machen, was er angerichtet hatte.
Phoenix entfuhr ein freudloses Auflachen, als er endlich nach dem Brief griff. Wahrscheinlich war er unten im Büro gelandet und Josephine hatte ihn nach Feierabend hier hinterlegt. Er wünschte, sie hätte ihm noch eine Nacht Gnadenfrist gewährt.
Nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte, setzte er sich auf sein Bett. Er hatte es am Morgen nicht aufgeschüttelt und die Laken nicht gerade gezogen. Er war es nicht gewohnt, sich solcher Kleinigkeiten selbst anzunehmen. Nun ärgerte er sich über die Falten im Stoff und auch über den verbrauchten Geruch, der aus der Baumwolle aufstieg.
Ich muss einen Waschsalon finden, fiel ihm ein. Ich kann meine Unterhosen nicht dauernd in der Dusche ausspülen. Es war ein abstruser und irgendwie elender Gedanke, aber immer noch besser als das, was der Brief mit ihm anrichtete. Hätte das Papier Augen besessen, hätten sie geglüht.
Phoenix wollte den Umschlag verschwinden, ihn vielleicht hinter den Schrank rutschen lassen. Aber er hatte sich geschworen, dass er sich nie wieder eine solche Nachlässigkeit erlauben würde, dass er überhaupt nie wieder zulassen würde, dass sein Verhalten anderen schadete.
Und es hätte Schaden angerichtet, den Brief seiner Mutter zu ignorieren.
Der Umschlag riss ein, als Phoenix ihn öffnete, und mit ihm auch der eng beschriebene Briefbogen, der herausrutschte. Es kostete Phoenix Überwindung, ihn nicht fallen zu lassen, aber sobald er die schräge, gestochen scharfe Handschrift seiner Mutter sah, begann er automatisch zu lesen.
Mein lieber Phoenix,
begann sie.
ich schreibe dir, weil ich nicht weiß, was geschieht, wenn wir miteinander telefonieren. Unser letztes Gespräch vor deiner Abreise war fürchterlich. Ich glaube, es ist gerade nicht gut, wenn wir direkt miteinander reden. Ich verliere zu schnell die Fassung und werde dann ungerecht und du bist auch kein Engel. Aber wer von uns ist das schon?
Ursprünglich habe ich mir vorgenommen, dich fürs Erste in Ruhe zu lassen, damit du dich in Melbourne eingewöhnen kannst. Ich bin mir sicher, dass du bei Randy gut aufgehoben bist. Er war uns immer ein guter Freund und ist es auch jetzt. Bitte grüß ihn von mir.
Aber leider gibt es nun doch etwas, von dem ich dich unterrichten muss.
Deinem Vater geht es unverändert. Die Physiotherapeutin ist recht zufrieden mit ihm, aber die Ärzte aus der Uniklinik haben genauso viel oder wenig zu sagen wie bisher: Man könne nur abwarten.
Aber ich will nicht mehr warten. Ich kann damit leben, ihn zu verlieren, aber nicht damit, ihn in diesem Zustand zu sehen. Ich habe mich schlaugemacht und herausgefunden, dass in den USA eine neue, experimentelle Behandlungsmethode für Menschen wie deinen Dad entwickelt wird. Sie steckt noch in den Kinderschuhen. Ich habe mich trotzdem entschieden, deinen Vater an einer ihrer Studien teilnehmen zu lassen.
Bestimmt fragst du dich jetzt, ob ich damit vielleicht sein Leben aufs Spiel setze. Aber ich kann dich beruhigen: Ich habe mir die Berichte genau angeschaut und sie auch den Ärzten in unserer Klinik vorgelegt. Kurz gesagt: Die Behandlung wirkt oder eben nicht – aber sie scheint kaum Nebenwirkungen zu haben. Du musst dir also keine Sorgen machen und auch nicht denken, dass ich mich blindlings auf irgendeinen Humbug stürze. Alles, was geschieht, ist von den behandelnden Ärzten abgesegnet worden.
Der eigentliche Grund, warum ich dir davon erzähle, statt dich irgendwann einfach mit guten Nachrichten zu überraschen, ist das Geld. Einige der Medikamente, die während der Behandlung eingesetzt werden, sind noch nicht zugelassen und werden daher nicht von der Krankenkasse übernommen. Ich brauche dir nicht zu sagen, wie unsere finanzielle Situation aussieht, und will auch nicht mit dir diskutieren. Ich finde es nur fair, dich wissen zu lassen, dass ich unsere Sammlung auflösen muss. Besonders, da du sie vielleicht als eine Art Notgroschen im Hinterkopf hast. Immerhin solltest du sie einmal erben.
Es tut mir in der Seele weh, zu diesem Schritt gezwungen zu sein. Egal, was ihr beide immer gesagt habt, ich hänge auch an unseren alten Schätzen. Aber entweder verkaufe ich die Oldtimer oder das Haus. Wir wissen beide, wie dein Dad sich entscheiden würde.
Ich hoffe mit allem, was ich habe, dass die Behandlung Wirkung zeigt und ihn so weit wiederherstellt, dass er ein gutes und schmerzfreies Leben führen kann. Er hat es verdient, auch wenn wir alle eine Zeit lang vergessen haben, was wirklich wichtig ist.
Ich wünsche dir alles Liebe und Gute, mein Schatz. Wahrscheinlich werden wir uns eine Weile nicht sehen. Vielleicht ist das gut so, damit wir nicht streiten, aber ich vermisse dich trotzdem. Und denk immer daran: Du kannst jederzeit nach Hause kommen. Nichts, was du getan hast oder in Zukunft tun könntest, wird das jemals ändern.
Deine Mom
Phoenix konnte nicht atmen. Vor seinem inneren Auge sah er die ausufernden Garagen auf dem Grundstück seiner Eltern; ausgestattet mit Alarmanlagen, Feuchtigkeitsmessern und allem, was dem Schutz ihres kostbaren Inhalts diente. Er sah Lack in Schwarz, Rot und Dunkelgrün, geschwungene Spoiler, Armaturen aus Wurzelholz und glänzenden Chrom. Er sah, wie sein Vater mit weichen Tüchern, die nur für diesen einen Zweck eingesetzt werden durften, liebevoll den Staub von den Motorhauben wischte. Sah sich selbst zum ersten Mal seine Mutter in ihrem Lieblingswagen zum Shopping kutschieren und die erleichterte Miene seines Dads, als er den alten Ford ohne einen Kratzer zurückgebracht hatte. Sah, wie sie ihren Formel-1-Wagen aus dem Jahr 1976 auf einen Anhänger luden und zur Rennstrecke fuhren, um ihn ein letztes Mal im alten Glanz zu sehen – wenn auch nur bei achtzig Stundenkilometern.
Es sind nur Autos, sagte er sich stumm. Mom hat recht. Sie sind nicht halb so wichtig wie Dads Gesundheit. Und die Erinnerungen kann uns niemand wegnehmen.
Aber er konnte sich nicht überzeugen. Die Oldtimer waren mehr als Sammlerstücke und eine Wertanlage. Sie waren ein Symbol. Die leeren Garagen würden von nun an einen weiteren Beweis seines Versagens darstellen. Seiner Fehler. Ohne ihn wäre alles anders gekommen.
Speichel sammelte sich in Phoenix' zuvor staubtrockenem Mund, gefolgt vom ersten Schwall Magensäure. Der Brief fiel ihm aus den Händen und rutschte unter das Bett, als wollte er sich vor der Welt verstecken.