Читать книгу Das Geheimnis von Valmy - Raimund Lauber - Страница 5
2. Kapitel Wendelin erfährt, was Freimaurer und Illuminaten
mit der Revolution zu tun haben.
ОглавлениеPoggibonsi hatte nicht zu viel versprochen. Die Sonne schien von einem milchig blauen Himmel, verschämte Palmkätzchen zeigten schon ein wenig Pelz und nimmermüde Meisen sangen uns das Ende des Winters. Nach einigen Schritten hakte sich Poggibonsi bei mir unter und so schlenderten wir dem Ufer entlang rheinaufwärts. Ein unvoreingenommener Betrachter hätte uns für Vater und Sohn halten können, die angeregt plaudernd einen Spaziergang machten. Als Sohn fühlte ich mich bei Poggibonsi nicht, mehr wie ein Schüler, der von seinem Mentor für eine wichtige Aufgabe eingestimmt wird. Und so war es auch. Denn was mir Poggibonsi an diesem geschenkten Vorfrühlingstag eröffnete, sollte meinem ganzen weiteren Leben die Richtung geben.
„Alle Welt spricht von dem, was sich gerade in Frankreich abspielt, die einen hasserfüllt, die anderen begeistert und voller Hoffnung. Es sind nicht die schlechtesten Köpfe, die sich zur Revolution der Franzosen bekennen, ganz im Gegenteil, auch Schiller und Klopstock zählen dazu, um nur zwei bekannte Namen zu nennen “, begann Poggibonsi. Ich hatte mir die halbe Nacht das Hirn zergrübelt, was das Mühlenerlebnis für mich bedeuten könnte, war aber zu keinem Ergebnis gekommen, das im Licht des Tages Bestand gehabt hätte. Ich bin sonst ein Vorbild an Gelassenheit, wie ich das in aller Bescheidenheit behaupten darf, aber ich war es leid, mich weiter mit Allgemeinplätzen hinhalten zu lassen und antwortete gereizt, „ich weiß schon, auch einige Professoren an unserer Universität denken so. Forster, Blau, Nimis, Hofmann und noch mindestens fünf weitere hängen den Jakobiner an. Das ist es aber nicht, worüber ich mit Euch sprechen wollte. Wie wäre es, wenn Ihr mir endlich anvertrautet, was das für ein geheimnisvoller Bund ist, dem Ihr Euch verschworen habt und was seine Ziele sind?“ Poggibonsi ließ sich nicht aus dem Konzept bringen. „Das versuchte ich Ihnen gerade zu erklären, wenn Sie mich nur ausreden lassen wollten“, wies er mich zurecht. „Die Professoren, von denen Sie sprachen, gehören zu unserer Gemeinschaft, ebenso Mitglieder der ‚gelehrten Lesegesellschaft‘ und des ‚studentischen Lesezirkels‘, beides Mainzer Einrichtungen, die Ihnen wohl bekannt sein dürften. An den übrigen Hochschulen im Reich verhält es sich nicht anders, überall wittert man Morgenluft und klopft sich den Staub aus den Kleidern. Hochschullehrer sind wichtig für uns, sie üben auf ihre Studenten großen Einfluss aus. Die kommende Generation ist unsere Hoffnung.“ „Ihr seid also mit Hochschullehrern und Studenten im Verbund. Mit wem noch?“, bohrte ich. Poggibonsi stieß einen tiefen Seufzer aus. Später gestand er mir, was ihn damals plagte. Auf der einen Seite wollte er mich für ‚die Sache‘ gewinnen, wusste aber nicht, wie weit er mir vertrauen konnte. Unschlüssig, ob er mich einweihen solle oder nicht, seufzte er nochmals schwer und schwieg. Schließlich überwand er seine Zweifel und obwohl weit und breit keine Menschenseele zu sehen war, die uns hätte belauschen können, flüsterte er, „zwei starke Vereinigungen stehen an unserer Seite, die ‚Gesellschaft der Perfektibilisten’ und die Freimaurer." "Von den Freimaurern habe ich gehört, die ‚Gesellschaft der Perfektibilisten’4 ist mir aber fremd", warf ich ein. „Das sind die Illuminaten“5, eröffnete er mir schmunzelnd. Ich benutze ihren alten Namen, den kennt nicht jeder und ist auch nicht so verschlissen, wie der unter dem sie bekannt sind. Sie agieren nur im Reich, sind aber hochpolitisch und haben alle Bereiche des Staates infiltriert. Die edlen Freimaurer mischen sich dagegen nur ungern direkt in die Politik, haben aber weitverzweigte Verbindungen, auch ins Ausland, Frankreich eingeschlossen. Mitgliedschaften bei beiden Organisationen sind nicht selten.“ „Aber die Illuminaten sind doch schon seit Jahren verboten“, staunte ich. „So ist es“, bestätigte Poggibonsi. „Aber das Geflecht, das sich durch jahrelange Beziehungen gebildet hat, lässt sich nicht so einfach durch einen Verwaltungsakt zerreißen, es hält dem Druck stand und ist wirksam, bis heute. Ich will Ihnen ein Beispiel geben. Gestern bei Lux in der Donnermühle haben wir doch über Kaiser Leopolds Ablehnung diskutiert, einen Krieg gegen Frankreich zu führen. Dabei erwähnte ich, dass des Kaisers Haltung und seine Standhaftigkeit in dieser Sache, dem Einfluss unseres Mannes an seiner Seite zu danken ist. Es wird Sie interessieren, dass dieser wohl engste Vertraute Leopolds am Wiener Hof Mitglied der ‚Gesellschaft der Perfektibilisten’ ist. Das pikante daran ist, dass man die Perfektibilisten dort für die Urheber der französischen Revolution hält.“ Poggibonsi machte eine kleine Pause um mir Zeit zu geben, die Ungeheuerlichkeit seiner Behauptung zu erfassen, die nicht weniger bedeutete, als dass die ‚Gesellschaft der Perfektibilisten’ immer noch die Macht hatte, entscheidenden Einfluss auf die Geschicke Europas zu nehmen. Noch nie war mir so deutlich gezeigt worden, wie dunkel die Wege sind, die zu den Entscheidungen der Mächtigen führen. Hier hatte die ‚Gesellschaft der Perfektibilisten’ den Regenten zu ihrer Marionette gemacht, ohne dass der auch nur geahnt hatte, wer an den Fäden zupft. Wie viele solcher ‚Gesellschaften‘ mochten es wohl sein, die sich mit großem Geschick der Mächtigen bedienten, um ihre eigenen Interessen durchzusetzen? Als sei ihm so nebenher der Name einer zoologischen Rarität eingefallen, ergänzte Poggibonsi schlicht, „sein Deckname ist übrigens Caesar“. Ich wartete gespannt darauf, wer sich hinter dem Namen Caesar verbarg, aber soweit ging sein Vertrauen nun auch wieder nicht und als ich nachfragte, speiste er mich damit ab, es sei noch zu früh mir das anzuvertrauen. Darauf versuchte ich ihm den Namen zu entwinden indem ich erwiderte, dass seine Leute von der bewussten ‚Gesellschaft‘, schon jetzt kaum Freude daran haben dürften, wie freizügig er mit ihren Geheimnissen umgegangen sei und es deshalb nicht mehr darauf ankomme, mir den Rest des Geheimnisses zu lüften. Wer ‚A‘ sagt, müsse auch ‚B‘ sagen, hielt ich ihm vor. Er streckte den Zeigefinger der rechten Hand wie ein Lehrer senkrecht in die Höhe und begann strengen Blickes, „mein lieber Herr Vogelsang, erstens halte ich Sie für gescheit genug, das Ihnen anvertraute Wissen nicht gleich auf dem Marktplatz auszuschreien und zweitens ist die ‚Gesellschaft der Perfektibilisten’ ebenso wenig meine Gesellschaft, wie ich Mitglied der Freimaurer bin.“ Jetzt verstand ich überhaupt nichts mehr. Immer wenn ich glaubte, ein Zipfelchen des Geheimnisses erhascht zu haben, mit dem sich der seltsame Mann umgab, schlug er es mir wieder aus der Hand. Ich hatte genug von ihm. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren drehte ich mich um und trat den Rückweg an. Nach drei Schritten kam er mir nach und versuchte mich zu begütigen. „Ich glaube, ich bin Ihnen eine Erklärung schuldig, Francois. Ich darf Sie doch Francois nennen, nicht wahr?“ „Meinetwegen“, nickte ich gnädig. „Nun gut denn“, sagte Poggibonsi erleichtert und begann die längste Rede, die ich je von ihm an einem Stück zu hören bekam. „Es ist keine Organisation im üblichen Sinn des Wortes, der ich diene. Wenn ich von „unserer Sache“ spreche, dann meine ich die Gemeinschaft all derer, die sich dem Geist des Humanismus verpflichtet fühlen. In wesentlichen Teilen ist das auch das Anliegen der Freimaurer, die nebenbei bemerkt auch bei der amerikanischen Revolution eine große Rolle spielten, und ebenso der ‚Gesellschaft der Perfektibilisten’, die uns deshalb beide behilflich sind.“ Bei der Erwähnung dieser beiden sagenhaften Mächte fühlte ich mich von einem seltsamen Schauer berührt. War es Ehrfurcht oder Angst vor dem Geheimnis ungreifbarer Mächte? Poggibonsi ließ mir keine Zeit über meine Gefühle klar zu werden. Jetzt, wo er sich entschlossen hatte zu reden, ließ er seinen Worten freien Lauf. „Zudem genießen wir die Unterstützung einer nicht zu unterschätzenden Schar von unabhängigen Männern und Frauen, auch ohne dass es eines äußeren Zusammenschlusses bedürfte. Unser gemeinsames Ziel ist es, Menschenwürde und Menschenrechte in Europa und darüber hinaus durchzusetzen. Was in Europa zwischen Menschenwürde und Menschenrechten steht“, dozierte er weiter, „ist das absolute Königtum von Gottes Gnaden, das seine Macht mit niemandem teilt und sich Gott allein verantwortlich fühlt. Ich halte nun die Zeit für gekommen, die Völker von dieser Anmaßung zu befreien.“ Er hatte sich in Rage geredet und köpfte mit seinem Stock ein paar trockene Disteln, die vom letzten Herbst noch übrig geblieben waren. Ich wusste nur zu gut, was Poggibonsi unter den ‚Anmaßungen des absoluten Königtums von Gottes Gnaden‘ verstand: Uneingeschränkt regierende ‚Landesväter’, welche die ihnen anvertrauten Menschen zu unmündigen ‚Landeskindern‘ degradieren und einen privilegierten Klüngel, der die Menschen als eine Beute behandelt, die man nach Belieben ausweiden darf. Poggibonsi hatte mir aus der Seele gesprochen. Ohne Zweifel, das monarchische Regime hatte abgewirtschaftet, aber für die Theoretiker in den ‚studentischen Lesezirkels‘, von denen Poggibonsi gesprochen hatte, konnte ich mich nie erwärmen. Mit den liberalen Professoren war es nicht besser. Zwar schwadronierten sie vor ihren Damen beim Tee, wie sie den Kurfürsten samt seiner Kleresei davon jagen wollten, zur Tat schritten sie nicht. Ihren Zirkeln fehlte die Leidenschaft der französischen Nachbarn, sie waren zu akademisch, zu Deutsch und, wie sich später zeigte, mussten zuerst die Franzosen kommen, bevor sie ihre Republik errichten konnten. Poggibonsi dagegen war ein Mann der Tat, das fühlte ich, und die Aussicht dabei sein zu dürfen, wenn es den adeligen und klerikalen Kostgängern des Volkes an den Kragen geht, versetzte mich derart in Hochstimmung, dass ich meinen Meister, wie ich Poggibonsi von da an nannte, stürmisch umarmte. Der zierlichen Italiener verlor unter dem unerwarteten Ansturm das Gleichgewicht. Damit er nicht falle, hielt ich ihn mit beiden Armen fest und erschrocken klammerte er sich an mich. Auf diese Weise engumschlungen gerieten wir gemeinsam ins Taumeln, so dass wir, in dem verzweifelten Bemühen nicht zu stürzen, einen grotesken Tanz aufführten. Er endete in einem Weidenbusch, der uns vor einem verfrühten Bad im Rhein bewahrte. Nur Poggibonsis Dreispitz trieb unrettbar den Rhein hinunter. Ich befreite mich aus dem Busch und bot lachend Poggibonsi die Hand um ihm aufzuhelfen. Der konnte dem Sturz nichts Erheiterndes abgewinnen. Er blieb hocken wo er war und blickte schaudernd auf die kalten Wasser des Flusses, die glucksend an einem seiner Schuhe leckten. „Das hätte ein böses Ende nehmen können. Ein sinnloser Tod und lächerlich noch dazu. Du solltest lernen dein Temperament zu zügeln“, keuchte er immer noch atemlos. „Verzeiht meinen Überschwang, aber ich konnte nicht anders als Euch umarmen. Ich hätte Euch sogar küssen mögen für das was Ihr vorhabt. Daraus wurde dann aber leider nichts“, bedauerte ich. „Das musst du auch nicht nachholen“, verwahrte sich Poggibonsi empört und fragte, „warum in aller Welt wolltest du mich auch noch küssen?“ Ich fühlte mich zurückgestoßen, zumal ich davon gehört hatte, dass sich die Männer in Italien durch Küsse ihrer Liebe und Wertschätzung versichern und das sogar auf offener Straße. Aber ich schluckte meine Enttäuschung hinunter und antwortete lebhaft, „aus reiner Freude wollte ich Euch küssen, aus Freude darüber, dass Ihr endlich Schluss macht mit dem kastrierten Hinterstubengegrummle unserer Möchtegernrevolutionäre bei uns in Deutschland und Ihr etwas Handfestes gegen die nichtsnutzigen Blutsauger unternehmen werdet. Wenn Ihr mich noch wollt, bin ich Euer Mann“. Nicht, dass ich mit einem Freudenschrei Poggibonsis gerechnet hätte, aber wenn ich mich ihm, bildlich gesprochen, schon zu Füßen warf, schienen mir doch ein paar herzliche Worte angebracht, etwas in der Art wie „dass du das sagst macht mich ungemein glücklich, mein lieber Francois, darauf habe ich schon lange mit großer Ungeduld gehofft“ oder „das ist ein guter Tag für uns beide. Du wirst deinen Entschluss nicht bereuen, denn große Taten warten auf uns“, aber nichts dergleichen kam über seine Lippen. Stattdessen befahl er mir harsch, „nun hilf mir schon endlich auf die Beine.“ Ich reichte ihm die Hand und zog ihn aus dem Busch. Er klopfte sich die Kleider ab und musterte mich nachdenklich. „An was es dir vor allen Dingen mangelt, ist in jeder Weise die moderatia6, die Tugend des Maßhaltens", leitete er seine Schelte ein, die ich, wie ich im Nachhinein freimütig zugebe, bitter nötig hatte. "Weißt du, was die Mächtigen der Welt um ihre Herrschaft bringt, Francois?“ Das war eine rhetorische Frage, die er auch gleich selbst beantwortete, „ihr Verrat an der moderatia, der Mutter aller Tugenden. In Frankreich wird gerade offenbar was geschieht, wenn man glaubt auf sie verzichten und an ihre Stelle das schlimmste aller Laster, die avaritia, die verfluchte, zerstörerische Gier, setzen zu können. Wer unserer Sache dienen will, mein lieber Francois, sollte es wenigstens versuchen, sich der moderatia zu nähern. Bei uns ist kein Platz für hassblinde Rächer oder hetzerische Demagogen, die um eines eigensüchtigen Effektes willen die Wahrheit bis zur Unkenntlichkeit verkrüppeln. Du hast ja keine Vorstellung, wie viel auch an Gutem weichen muss, damit das Neue kommen kann. Verstehst du was ich dir sagen will?“, fragte er streng. Er hatte sich, vielleicht unter dem Eindruck der herauf dämmernden Nachtseiten der Revolution, über mein unreifes Geschwätz vom ‚kastrierten Hinterstubengegrummle unserer Pseudorevolutionäre‘ und vom ‚handfesten Vorgehen gegen die nichtsnutzigen Blutsauger‘, gewaltig geärgert. Meinetwegen sollte er sich doch ärgern. Ich war jung und mit einer 'alte Leute Tugend', wie ich die moderatia respektlos bei mir bezeichnete, war das Feuer, das Poggibonsi in mir entfacht hatte, nicht zu besänftigen. Aber, um des lieben Friedens willen versprach ich, mich fleißig in ihr zu üben. Poggibonsi war es zufrieden und wir gingen einträchtig den gleichen Weg zurück, auf dem wir gekommen waren.
Kurz bevor wir wieder in Mainz ankamen, rückte ich damit heraus, was mich den ganzen Rückweg beschäftigt hatte. Was denn nun unsere erste gemeinsame Befreiungstat wäre, fragte ich Poggibonsi. Er nahm freundschaftlich meinen Arm und sagte belustigt, „du kannst es wohl kaum erwarten dir deine Sporen zu verdienen, Francois. Ich fürchte, dass du dich noch etwas gedulden musst.“ Ich maulte, dass es mir überhaupt nicht gefalle untätig herumzusitzen und darauf zu warten, dass er vielleicht irgendwann eine Aufgabe für mich fände. Darauf ließ er sich wenigstens dazu herbei, mir in groben Umrissen darzulegen, was zu tun sei, um in der aktuellen politischen Lage „unserer Sache“ zu dienen. Wenn ich seine geschichtlichen und philosophischen Abschweifungen über die Verdienste der Griechen und Römer für die Entwicklung eines gerechten Staatswesen vernachlässige, mit denen er seine Ausführungen garnierte, lief seine Aussage im Kern darauf hinaus, dass der Kampf um Menschenwürde und Menschenrechte bis vor Kurzem nur auf geistiger und künstlerischer Ebene ausgefochten werden konnte. Er wählte drei Beispiele aus7, die er mir in aller Sorgfalt erläuterte: Rousseau, mit seinen Vorschlägen für eine bessere Gesellschaft, Beaumarchais, mit seinem, selbstzerstörerisch auch vom Adel gefeierten, durch und durch subversiven Stück „Figaros Hochzeit“ und den Maler David, der in seinem gleichfalls hochgelobten Werk „Der Schwur der Horatier“, triefend pathetisch, aber wirksam, republikanische Werte preist. Alle Drei der Vernunft verpflichtet und alle drei Freimaurer. Es war phantastisch zu hören, wie sie, jeder auf seine Weise, ohne jede förmliche Absprache, nur inspiriert durch übereinstimmende Gesinnung, dem gleichen Ziel dienten: Dem Sturz der Monarchie. Ich glaubte, Poggibonsi habe mir die Augen dafür geöffnet, auf welche Weise die Freimaurer ihre Ziele verfolgen. Ich war hingerissen, aber bevor ich ihn mit Fragen bestürmen konnte, nahm Poggibonsi seinen Faden wieder auf. Die Zeit des Theoretisierens sei vorbei. Im revolutionären Frankreich habe man einen starken Arm gefunden, der es sich zur Aufgabe gemacht habe, beides, Menschenwürde und Menschenrechte, in die Welt zu tragen. Daraus ergebe sich, dass wir die Revolution unterstützen und am Leben erhalten müssen. „Kannst du dir vorstellen, daran mitzuwirken, eine bessere Welt zu schaffen, als die, die wir vorgefunden haben?“, fragte er leidenschaftlich. Der Flug seiner Gedanken schien mir gefährlich hoch, doch ich konnte mich seinem Feuer nicht entziehen. Ein Markstein auf dem schwierigen Weg zu einer besseren Welt, erklärte er mir, sei die Revolution in Frankreich. Jetzt gehe es vor allem darum, ihr die Zeit zu verschaffen, sich zu etablieren, damit, wenn sie fest im Sattel säße, sie ihre Ideale brüderlich über den ganzen Erdball verbreiten könne. Deshalb sei es unsere heilige Pflicht, alle Versuche, das alte Regime wieder herzustellen, zu unterlaufen. Mit ihren Widersachern im eigenen Land würde die Revolution selbst fertig. Die Gefahr käme von außen, von den europäischen Fürstenhöfen, die, wohl zurecht, um den Bestand ihrer Herrschaft fürchteten, sollte die Revolution Schule machen. Die Brüder Ludwigs XVI., Graf d´Artois und der Graf der Provence träten zusammen mit dem Prince de Conde´ als deren natürliche Verbündete auf. Sie versprachen, das Revolutionsübel mit der Wurzel auszureißen und die Monarchie in Frankreich schnellst möglich wieder herzustellen, in alter Form versteht sich. Poggibonsi stieß ein bitteres Hohngelächter aus. „Und sie sind erfolgreich“, fuhr er fort, „nicht zuletzt, weil sie vorgaukeln, ein Marsch nach Paris sei lediglich ein Spaziergang, ohne jedes Risiko. Die Revolutionstruppen setzten sich aus Haufen ungedienten Gesindels zusammen, von denen kein nennenswerter Widerstand zu erwarten wäre und die Bevölkerung würden die alliierten Truppen mit offenen Armen als Befreier begrüßen. Österreich, Preußen, Hessen und Schweden rüsteten bereits zum Krieg. Der Oberbefehl über die alliierten Truppen sei auch schon vergeben. König Gustav III. von Schweden sei damit betraut worden. Das dreisteste aber sei, dass die Emigranten im Rheinland, also auf Reichsgebiet, eigene Truppen sammeln. „Kaiser Leopold, Gott hab‘ ihn selig, hätte das niemals geduldet. Ich weiß aus sicherer Quelle, dass er kurz vor seinem Tod den Entschluss gefasst hatte, die Emigranten unter Beobachtung zu stellen. Sein Sohn und Nachfolger Franz aber unterstützt ihre Pläne. Verstehst du jetzt, wer unsere Gegner sind?“, fragte er eindringlich. Ich verstand ihn sehr gut. Gerade hatte er alle Fürsten Europas zu unseren Feinden erklärt. Ich fürchtete ernstlich um seinen Verstand und wäre ich selbst bei Sinnen gewesen, so hätte ich jetzt zu ihm adieu sagen müssen. Aber derlei kam mir überhaupt nicht in den Sinn. Stattdessen erkundigte ich mich vorsichtig, was er denn gegen eine derart erdrückende Übermacht auszurichten hoffe, zumal ja das Unheil bereits rolle und wohl kaum mehr aufzuhalten sei. Mit der vollkommenen Gelassenheit, wie es einem Herrn seiner Art entspricht, beschied er mir, dass er nicht gedenke den Kriegstreibern das Feld kampflos zu überlassen. Als ich ihm vor Augen führte, dass die Gegenseite wohl kaum tatenlos zusehen würde, wenn er sich anschicke, ihre Kreise zu stören, winkte er verächtlich ab. Dazu müsste man zuerst einmal bestimmte Ereignisse richtig zu deuten wissen und dann auch noch in der Lage sein, sie mit ihm in Verbindung zu bringen, was er zu verhindern wisse. Später, wenn er sein Ziel erreicht haben würde und alle Welt darüber staune, welch unerwartete Wendung das Schicksal einem wichtigen Ereignis bereitet habe, würde das Fehlen von brauchbarem Wissen um die wahren Hintergründe, durch Phantasie ersetzt werden. Spekulationen, Gerüchte, Verdächtigungen, Verleumdungen und Geheimniskrämereien aller Art würden zu einem buntschillernden Brei zusammengerührt und mit mancherlei berühmten Namen garniert. Einer aber würde fehlen, nämlich seiner. In seinem Metier dürfe man nicht eitel sein. Er lachte verhalten. Meine Sorgen um ihn wuchsen und ich bestand darauf zu erfahren, was er nun konkret vorhabe zu tun. Nach einigem Hin und Her rückte er damit heraus, dass ihn sein erster Weg nach Wien führen werde. „Ihr wollt „Caesar“, Euren Vertrauensmann am Wiener Hof kontaktieren, nicht wahr?“, rief ich aufgeregt und bekniete ihn mich mitzunehmen, weil er bei dem, was er sich vorgenommen habe, mit der sanften moderatia allein wohl kaum auskomme. Aber er lehnte ab. Die moderatia verlange ihren Freunden mehr Tapferkeit ab, als ich ahne und es wäre viel wichtiger für mich fleißig zu studieren, als mit ihm in der Welt herumzureisen. Dazu wäre später noch Zeit genug. Er knöpfte umständlich seine quittengelbe Weste ein stückweit auf, fuhr mit der Hand hinein, nestelte innen an irgendetwas herum und brachte schließlich eine Börse zum Vorschein. „Hier Francois, nimm!“, sagte er und reichte sie mir. Verwundert fragte ich ihn, ob ich die Börse für ihn verwahren solle. „Nicht doch“, antwortete er, „sie ist für dich, zu deiner Verfügung.“ „Für mich?“ staunte ich und setzte an zu fragen, „aber wie komme ich, wie kommt Ihr dazu…?“, kam aber nicht weit damit. Poggibonsi liebte es nicht, wenn sein Redefluss unterbrochen wurde. Wahrscheinlich hatte er auch keine Lust, seine großherzige Geste zerreden zu lassen und überging meinen Einwurf. „Der Inhalt ist nicht üppig, aber bei sparsamer Verwendung sollte er während meiner Abwesenheit genügen, ohne lästige Geldsorgen studieren zu können.“ Ich floss über vor Rührung und setzte schon zu einer zweiten Umarmung an diesem Tag an, ließ aber davon ab, als ich sah, wie er in Erwartung meines Ansturms seinen Stock fest auf den Boden setzte, um sein Gleichgewicht zu sichern. Ich beschränkte mich also darauf, dankbar seine ledrige Hand zu drücken und zu versprechen, mit dem Geld gewissenhaft umzugehen. Den Rest wollte ich ihm wieder aushändigen. Poggibonsi machte seine Hand frei und wehrte die Rückgabe des Restgeldes höflich ab. Das sei nicht nötig, meinte er, aber eines wäre noch zu sagen bevor wir uns trennten. „In der Holzstraße gibt es einen Kaufmann namens Patocki. Er genießt mein Vertrauen. Statte ihm doch von Zeit zu Zeit einen Besuch ab und frage nach mir. In wirklich dringenden Fällen bin ich durch ihn erreichbar. Er weiß von dir. Wenn du Hilfe brauchst wird er dir beistehen. Du kannst ihm vertrauen, er ist Jakobiner.“ Beklommen fragte ich, „gibt es denn gar nichts, das ich tun kann?“ „Ich wüsste nicht was das sein sollte, du etwa?“ Ich wusste nicht was antworten und schwieg verlegen. Da legte mir der sonst so spröde Mann eine Hand auf die Schulter, nahm die meine mit der anderen und sagte mit weicher Stimme, „nun denn adieu, Francois, und sei fleißig.“ Dann stakste er davon. Ausgedehnte Abschiede waren seine Sache nicht.